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REZENSION/011: Rüdiger Bernhardt - Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg (Sachbuch) (SB)


Rüdiger Bernhardt

Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg
Die Bewegung schreibender Arbeiter - Betrachtungen und Erfahrungen

von Christiane Baumann


Zwischen staatlicher Indoktrination und kreativer Selbstbestimmung. Ein lesenswertes Buch über die Bewegung schreibender Arbeiter in der DDR

In einem Buch über den Bitterfelder Weg, der programmatisch den Ausgangspunkt der Bewegung schreibender Arbeiter in der DDR markierte, mag es auf den ersten Blick verwundern, einen preisverwöhnten Autor wie Lutz Seiler zu finden. Doch Rüdiger Bernhardts Band Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg liefert unter Hinweis auf ein zu DDR-Zeiten erfolgtes Forschungsprojekt der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die Erklärung dafür. Im Ergebnis zahlreicher Untersuchungen zeigte sich, dass die I. Bitterfelder Konferenz von 1959 den literarischen Prozess in der DDR nachhaltig prägte, "dass kaum ein Schriftsteller der DDR unbeeinflusst von diesem Vorgang" (S. 46), blieb - von Christa Wolf bis Heiner Müller, von Volker Braun bis Brigitte Reimann. Neben Seiler könnten auch andere jüngere, in der DDR sozialisierte und heute erfolgreiche Autoren wie Klaus-Rüdiger Mai oder Annett Gröschner stehen, die ebenfalls ihren Weg über einen Zirkel schreibender Arbeiter nahmen, wobei die Qualität der Prägungen damit nicht erfasst ist.

Der Wirkungsmächtigkeit des Bitterfelder Weges stehen die kontinuierlichen Bemühungen bundesdeutscher Literaturwissenschaft, Geschichtsschreibung und Medienöffentlichkeit gegenüber, die Bewegung schreibender Arbeiter als Teil eines umfassenden kulturpolitischen und sozialen Veränderungsprozesses zu diskreditieren und der Lächerlichkeit preiszugeben. Dabei wird ideologischen Versatzstücken, gewonnen aus politischen Verlautbarungen und DDR-Kommuniqués zur Bitterfelder Konferenz, mit Vorurteilen und schließlich neuen Ideologemen begegnet. Im Ergebnis ist eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Bewegung schreibender Arbeiter in der DDR bis heute ausgeblieben.

Die beschriebene Situation bildet in der Aufsatzsammlung des Germanisten, Theaterwissenschaftlers und Skandinavisten Rüdiger Bernhardt, der unter anderem mit Studien zu Henrik Ibsen, August Strindberg, Peter Hille oder Gerhart Hauptmann hervorgetreten ist, den Ausgangspunkt. Der Band vereint über Jahrzehnte verstreut erschienene und teilweise nur schwer auffindbare Beiträge zum Thema und versteht sich als "Grundstein für eine Geschichtsschreibung zur Bewegung schreibender Arbeiter" (S. 15). Bestimmend ist die Intention, dem Bitterfelder Weg und der Bewegung schreibender Arbeit als Teil dieses kulturpolitischen Vorgangs historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Bernhardt kann als exzellenter Kenner der Materie gelten, hat er doch die Bewegung schreibender Arbeiter seit Mitte der 1960er Jahre aktiv begleitet, über Jahrzehnte den Leuna-Zirkel geleitet und war als Vorsitzender der Zentralen Arbeitsgemeinschaft in organisatorische Strukturen eingebunden. In zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten setzte er sich mit der Thematik auseinander. Nicht zuletzt war er Mitherausgeber des Sachbuches Vom Handwerk des Schreibens (1976), das zu einem Standardwerk für Schreibende und Literaturinteressierte wurde.

Im Band werden ausgehend von Willi Bredel als einem "Ahnherrn" der Bewegung schreibender Arbeiter in der DDR Grundzüge ihrer Geschichte entwickelt. Es schließen sich exemplarische Studien zu ausgewählten Zirkeln und schließlich zu einzelnen Autoren an. Der Bezug zu Willi Bredel leitet sich aus mehreren Aspekten ab. Bredel selbst betrachtete seinen Romanerstling Maschinenfabrik N. & K. als Werk eines schreibenden Arbeiters. Sein Werdegang vom Arbeiterkorrespondenten zum schreibenden Arbeiter und schließlich zum proletarischen Schriftsteller konnte als beispielhaft gelten. Die Verallgemeinerung einer solchen Biographie und daraus abgeleitete Forderungen der offiziellen Kulturpolitik auf der I. Bitterfelder Konferenz, sich auf die Förderung von Arbeiterkorrespondenten zu konzentrieren, dies als inhaltlichen Fokus zu wählen, erwies sich jedoch für die Zirkel schreibender Arbeiter sehr bald als "Irrweg" (S. 77). Bernhardt setzt dem Scheitern des Bitterfelder Weges als "staatliche Direktive" (S. 57) die Erfolgsgeschichte der Zirkel entgegen, die sich vor allem dann behaupteten, wenn sie sich von staatlichen Vorgaben emanzipierten. Deutlich wird, dass sich Zirkel schreibender Arbeiter als eine Bewegung "von unten" bereits vor der I. Bitterfelder Konferenz 1959 formierten und diese entgegen gängiger Festschreibungen in etablierter Literaturwissenschaft keineswegs als Beispiel einer oktroyierten Literaturkampagne taugen, sondern vielmehr für einen "Bildungsvorgang" (S. 9) stehen, in dem es zunächst um die Befriedigung und das Ausleben kreativer Begabungen und um Persönlichkeitsentwicklung, nicht aber um die Rekrutierung künftiger Nationalautoren ging. Dass es von offizieller Seite diese Vorstellungen gab, ist unbestritten. Dass aus der Bewegung auch Schriftsteller hervorgingen, war aber letztlich ein Nebeneffekt. Somit führt die Reduktion des Bitterfelder Weges auf offizielle kulturpolitische Dokumente zwangsläufig zu Fehlurteilen, denen nur begegnet werden kann, wenn - wie Bernhardt darstellt - die Arbeit der Zirkel als Orte "einer demokratischen Mitbestimmung aller Mitglieder" (S. 58), in denen die Beschäftigung mit Kunst und Literatur im Mittelpunkt stand, einbezogen wird. Auf diese Tatsache verwies bereits 1980 Therese Hörnigk, deren Beitrag, den der vorliegende Band nicht einbezieht, auf den "tatsächliche(n) soziale(n) Wirkungsraum der Bewegung" [1] abstellte. Diese Studie und auch andere Vorgänge bestätigen Bernhardts durch zahlreiche Belege untermauerte Sicht. So gab der Hinstorff Verlag, der 1959 verstaatlicht wurde, 1960 eine Anthologie-Reihe heraus, die die offizielle kulturpolitische Linie umsetzte, aber auch zeigte, dass es schreibende Arbeiter bereits in den 1950er Jahren gab. Das Wort das nicht verzeiht, ausgestattet mit Fotomontagen John Heartfields [2], orientierte auf die Arbeiterkorrespondenten und die proletarisch-revolutionäre Tradition. Ein wunderbar eigenes Lied präsentierte Lyrik von Schriftstellern, jungen Autoren und schreibenden Arbeitern. Die Stranddistel blüht enthielt Erzählungen schreibender Arbeiter, unter denen Studenten, Bauarbeiter, Bauern, Ingenieure usw. waren. Dass es um ein breites volkskünstlerisches Schaffen ging, wie Bernhardts subtiler Aufsatz Literarische Salons des Volkskunstschaffens ausführt, unterstreicht die Ausstattung der Anthologie mit Reproduktionen aus Zirkeln für bildnerisches Volksschaffen. Eine Geschichte der Bewegung schreibender Arbeiter hätte Zusammenhänge mit dem künstlerischen Volksschaffen der DDR, in dem sich rund 1,5 Millionen Menschen freiwillig betätigten, ebenso mitzudenken wie bereits vorhandene Forschungsergebnisse zur Herausgabe von Anthologien in der DDR, gelang doch schreibenden Arbeitern größtenteils über diese Sammlungen der Sprung in den etablierten Literaturmarkt, wie Bände wie Alfons auf dem Dach (1983), herausgegeben von Manfred Jendryschik, selbst Schriftsteller und Zirkelleiter, belegen, der neben Günter de Bruyn oder Stefan Heym Schreibende wie Christine Lambrecht, Jürgen Spitzer oder Ernst Wenig aus seinem Zirkel aufnahm.

Rüdiger Bernhardts Aufsatzsammlung präsentiert vielfach Unbekanntes, Verdrängtes und Nichtbeachtetes zur Bewegung schreibender Arbeiter. Dazu gehören Ausführungen zur methodischen, sich an Lehrprogrammen orientierenden Arbeit oder das Wirken über Lesungen und Aufführungen im literarischen Leben vor Ort. Das schließt überraschende internationale Kontakte ebenso ein wie Berührungen zur Dortmunder Gruppe 61 oder später zum westdeutschen Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Als beeindruckendes Zeugnis gemeinsamer Bestrebungen kann die Anthologie Grenzgedanken gelten, die 1991 erschien und Texte von Schreibenden aus ostdeutschen Zirkeln und dem westdeutschen Werkkreis zusammenführte. Bernhardt räumt anhand von Daten und Fakten mit Vorurteilen auf, liefert Statistiken, die aufgrund unterschiedlicher Quellen differieren, aber das in der Forschung reproduzierte Fehlen statistischer Überblicke widerlegen. Er breitet ein bemerkenswertes Spektrum an Sekundärliteratur aus, das einer interessierten Forschung als Wegweiser dienen kann, wobei hierfür ein ausführliches Literaturverzeichnis hilfreich gewesen wäre. Dass es im In- und Ausland Bemühungen gibt, die Bewegung schreibender Arbeiter von ihren Quellen her zu erforschen - wie von William James Waltz oder Anne Sokoll - macht die Aufsatzsammlung, die hierfür selbst einen bedeutsamen Fundus darstellt, deutlich. Dabei resultiert die Spezifik des Bandes aus der Verknüpfung eines in jahrzehntelanger Arbeit gewachsenen Erfahrungshorizonts mit profunden literaturgeschichtlichen Exkursen und literaturwissenschaftlichen Analysen zu Werken von Autoren wie Erhart Eller alias Lutz Reichelt, Hans Dietmar Sievers, Alfred Salamon, Rudi W. Berger und eben auch Lutz Seiler, die ihren Weg über einen Zirkel schreibender Arbeiter nahmen und deren unterschiedliche ästhetische Qualität die Untersuchungen unterstreichen.

Rüdiger Bernhardts Band versammelt umfangreiche wissenschaftliche Studien und feuilletonistische Beiträge, die zum Teil in diesen aufgehen, was im Ergebnis zu Dopplungen führt und einer Homogenität des Bandes entgegensteht, zugleich aber Authentizität vermittelt. Auf jeder Seite dieser "Betrachtungen und Erfahrungen" ist Emotionalität spürbar, insbesondere wenn es um das Nachwende-Schicksal der Zirkel geht, die mit dem Wegbrechen gewachsener Strukturen um ihre Existenz kämpfen mussten. Nicht zuletzt steht für den Autor dahinter auch der Abschied von einem jahrzehntelangen Wirken und damit einem Teil eigener Biographie. Rüdiger Bernhardts Band über den Bitterfelder Weg liest sich als Abrechnung mit einer missglückten Wiedervereinigung, die der ostdeutschen Identität keinen Raum ließ und an der Schaffung einer neuen kulturellen Identität gescheitert ist. Er ist insofern auch ein Beitrag zu einer Diskussion über gesellschaftliche Werte. Er lässt den engagierten linken Intellektuellen und streitbaren Marxisten erkennen, der vom Ideal einer menschenwürdigen Gesellschaft geprägt wurde, in der das Recht auf Arbeit ein Menschenrecht ist.


Anmerkungen:

[1] Hörnigk, Therese: Die erste Bitterfelder Konferenz. Programm und Praxis der sozialistischen Kulturrevolution am Ende der Übergangsperiode. In: Münz-Koenen, Ingeborg u.a. (Hg.): Literarisches Leben in der DDR 1945-1960. Literaturkonzepte und Leseprogramme. Berlin 1980, S. 229.

[2] John Heartfield (1891-1968), eigentlich Helmut Herzfeld, deutscher Maler, Grafiker und "Vater" der politischen Fotomontage; Bruder des Schriftstellers Wieland Herzfelde.


Rüdiger Bernhardt
Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg
Die Bewegung schreibender Arbeiter -
Betrachtungen und Erfahrungen
Neue Impulse Verlag, Essen, 2016
353 Seiten
19,80 Euro
ISBN: 978-3-910080-86-7

31. Mai 2016


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