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REZEPTION/069: Zwei unbekannte Klassiker - Neues über Johann Gottfried Seume und Georg Forster (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2018

Zwei unbekannte Klassiker
Neues über Johann Gottfried Seume und Georg Forster

von Hanjo Kesting


Johann Gottfried Seume gehört zu den bedeutenden Autoren der Epoche, die man später die Goethezeit genannt hat. Ihm widerfuhr das Schicksal, das er mit einigen anderen Autoren dieser Zeit, etwa Karl Philipp Moritz und Georg Forster, teilt: Er wurde zum "unbekannten Klassiker", im Schatten der berühmten Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Gotthold Ephraim Lessing, Christoph Martin Wieland (wiewohl letzterer heute auch nur ein Schattendasein führt). Einen begrenzten Ruhm fand Seumes Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, eines der besten deutschen Reisebücher. Vergleicht man es mit Goethes Italienischer Reise, ist leicht zu erkennen, warum Seumes Nachruhm sich in Grenzen hielt. Er war ein eminent politischer Schriftsteller, der mehr an der Beobachtung menschlicher Zustände und sozialer Situationen interessiert war als an "Natur" und "Kunst", den zentralen Themen Goethes. In der Vorrede seines anderen, weniger bekannten Reisebuches Mein Sommer, das eine Fußreise durch die baltischen und nordischen Länder schildert, schrieb er: "Wenn man mir vorwirft, daß dieses Buch zu politisch ist, so ist meine Antwort, daß ich glaube, jedes gute Buch müsse näher oder entfernter politisch sein. Ein Buch, das dieses nicht ist, ist sehr überflüssig oder gar schlecht. Wenn man das Gegenteil sagt, so hat man seine - nicht guten Ursachen dazu (...) Man hat dieses Wort 'politisch' sehr entstellt, verwirrt und herabgewürdigt oder es auch, nicht sehr ehrlich, in einen eigenen Nebel einzuhüllen versucht, wo es dem ehrlichen, schlichten Manne wie eine gespensterähnliche Schreckgestalt erscheinen soll. Meistenteils gelingt es leider sehr gut."

Deutsche Misere

Seume führte ein schwieriges und mühevolles Leben, so wie er es in seiner aus dem Nachlass erschienenen Autobiografie Mein Leben beschrieben hat. Er wurde 1763 in Poserna in Sachsen geboren, am Ende des Siebenjährigen Krieges - diesem Umstand verdankte er seinen Vornamen Gottfried. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf: Der Vater leistete Fronarbeit und brachte sich damit zu Tode. Ein adliger Gönner ermöglichte dem begabten Jungen den Schulbesuch. Er lernte Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, später noch Polnisch, Russisch, Französisch, Englisch und Italienisch und wurde mit 17 Jahren zum Theologiestudium zugelassen. Die große Lebenskrise begann, als er die Schriften der Aufklärer kennenlernte: Jean-Jacques Rousseau, Volaire und Lessing: "Es fing nun an, furchtbar in mir zu gären (...) Die Kirchenformel und meine ehemalige echt orthodoxe Exegese hielten mich nur noch an sehr schwachen Fäden. Ich begriff, daß ich als ehrlicher Mann nicht auf dem Wege fortwandeln konnte." Heimlich machte er sich auf, um nach Paris zu gehen, und hinterließ daheim nur eine Vermisstenanzeige in der Leipziger Zeitung. Schon am dritten Tag seiner Wanderung fiel Seume Militärwerbern des hessischen Landgrafen in die Hände; mit 17.000 anderen wurde er nach Amerika verkauft - für den Kampf der Engländer gegen die aufständischen Kolonisten. Am eigenen Leib erlebte er, was drei Jahre später in Schillers Kabale und Liebe der Kammerdiener der Lady Milford berichtet: "Gestern sind siebentausend Landeskinder nach Amerika fort - Die zahlen alles (...)". Die Überfahrt nach Amerika dauerte 22 Wochen: unter elendesten Verhältnissen, bei verdorbener Nahrung, verfaultem Wasser. Seumes Beschreibung dieser Fahrt ist ein Dokument des Schreckens, aber auch ein Meisterwerk realistischer deutscher Prosa.

Das große Fragment, das mitten im Satz mit den Worten "Und nun" abbricht, erschien erst 1813, drei Jahre nach Seumes Tod, herausgegeben von seinem Freund und Verleger Georg Joachim Göschen, der den Text bearbeitete und an politisch verfänglichen Stellen kürzte. Diese Version wurde in alle späteren Werkausgaben übernommen, sogar in die Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags von 1993, weil der Besitzer von Seumes handschriftlicher Fassung jeden Einblick in das Manuskript verweigerte. Dieser Missstand konnte erst jetzt durch eine bei Wallstein erschienene Edition behoben werden, die dank der akribischen Kommentare und Erläuterungen des Herausgebers Dirk Sangmeister nicht nur zu einem Panorama der Epoche erweitert wurde, sondern auch unser Bild von diesem Autor in charakteristischer Weise vertieft. Seumes Blick auf die deutsche Geschichte führte ihn, wie sich jetzt zum ersten Mal nachlesen lässt, zu düsteren Einsichten: "Daß die deutschen Fürsten das thun konnten und thaten, hat die Nationalität zerstört, die Kraft vereinzelt und zersplittert und endlich das Vaterland dahin gebracht, wo es jetzt steht." Seumes Resümee lautete: "Die ganze deutsche Geschichte ist nichts als eine gelehrt dokumentierte Barbarey." Der Begriff "deutsche Misere", erst 20 Jahre später im Vormärz geprägt, ist hier vorweggenommen. Doch widersetzte sich der Autor von Mein Leben dem ethnisch fundierten Nationalismus der Romantiker und vertrat einen republikanischen Begriff der Nation, wie er sich erst anderthalb Jahrhunderte später langsam Geltung verschaffte.

Ein deutscher Jakobiner

Auch Seumes Zeitgenosse Georg Forster, Verfasser einer Reise um die Welt und der Ansichten vom Niederrhein, gehört zu den Autoren, denen die Deutschen erst spät und widerstrebend klassischen Rang zubilligten. Mit seinem Namen verbindet sich die kurzlebige Mainzer Republik, die 1793 als Vorposten der Französischen Revolution auf deutschem Boden entstand und schon bald niedergeschlagen wurde. Goethe, der das Reichsheer begleitete, hat die Geschehnisse in seiner Schrift Die Belagerung von Mainz beschrieben.

Forster, 1754 in der Nähe von Danzig geboren, begleitete schon als Elfjähriger seinen Vater, einen bedeutenden Naturforscher, auf einer großen Russlandreise. Von 1772 bis 1775 nahm er an der zweiten Weltreise James Cooks teil. Cook war im Auftrag der britischen Krone in See gestochen und bis in die Nähe der bis dahin noch unberührten Antarktis vorgestoßen. Die Expedition befuhr beinahe die gesamte Erdkugel zwischen dem 50. und 60. Grad südlicher Breite. Dreimal wurde der Polarkreis überschritten, und es fehlte nur wenig am Vorstoß zum Südkontinent. Im Juli 1775 trafen Cook und seine Begleiter wieder in Plymouth ein, darunter der 21-jährige Forster, der zwei Jahre später in englischer Sprache seine Voyage Round the World herausbrachte. Wieland nannte sie "eines der merkwürdigsten Bücher unsrer Zeit". Es ist von einem beinahe unerschöpflichen Reichtum an naturwissenschaftlichen, geografischen, klimatischen und ethnologischen Einzelbeobachtungen geprägt. Für die deutsche Literatur schuf Forster damit ein neues literarisches Genre, für das er später in seinem Schüler Alexander von Humboldt einen großen Nachfolger fand. Zwischen April und Juni 1790, ein Jahr nach Beginn der Französischen Revolution, unternahm Forster, zusammen mit dem jungen Humboldt, eine Reise durch Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich und verfasste darüber das Reisebuch Ansichten vom Niederrhein. Forster übertrug darin seine naturgeschichtliche Methode auf Themen aus Gesellschaft, Politik und Kunst. Bemerkenswert ist seine harte und klare Prosa, brillant in der gegenständlichen Schilderung, scharf in der politischen Beurteilung der Situation. Goethe, kein Anhänger der Revolution, aber mit Forster befreundet, ließ den Verfasser wissen: "Die Geschichte der brabantischen Unruhen scheint mir fürtrefflich geschrieben und für einen Mann von entschiedener Denkungsart noch immer unparteiisch genug."

Wie viele deutsche Intellektuelle seiner Zeit war Forster von der Französischen Revolution entzündet und hingerissen. In Mainz wurde er nach der Besetzung der Stadt durch das französische Revolutionsheer Mitglied des jakobinischen Klubs "Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit", später auch dessen Präsident, schließlich Abgesandter des rheinisch-deutschen Nationalkonvents in Paris, wo er die letzten Monate seines Lebens verbrachte. Ein politischer Flüchtling nach der Niederschlagung der Mainzer Republik, früh gestorben im Alter von nur 39 Jahren.

Von genialen Talenten

Forster war ein fruchtbarer, weltoffener, vielseitiger Geist, gleichermaßen bedeutend in der Länder- und Völkerkunde, als Naturwissenschaftler, Philosoph und Schriftsteller, ein Vermittler zwischen Aufklärung und Klassik, zwischen Frankreich und Deutschland, vor allem aber zwischen den geistigen Tendenzen der Zeit und ihrer praktischen Verwirklichung. Klaus Harpprecht, Verfasser einer großen Forster-Biografie, nannte ihn einen "Mann von genialen Talenten, seiner Epoche und seiner Nation voraus", dennoch "verkannt, vergessen". Das war 1987. Seither hat es eine zögerliche, aber verheißungsvolle Forster-Renaissance gegeben, angestoßen von einem überraschenden Bilderfund in Australien, wo 50 Zeichnungen und Naturstudien ans Licht kamen, die während Forsters Weltreise entstanden waren, danach von einer Neuedition der Reise um die Welt in der "Anderen Bibliothek", die 2007 erschien und dank dieser Zeichnungen ein großes Medienecho fand - in nur wenigen Wochen wurde das großformatige Buch über 40.000 Mal verkauft. Schon Goethe, der Forsters zeichnerische Arbeiten kannte, lobte ihre "äußerste Präzision und Wahrheit". Über 200 Jahre später erwiesen sie sich als Türöffner zu einem fast vergessenen Klassiker, nicht zuletzt dank der jahrzehntelangen Bemühungen des Forster-Enthusiasten Frank Vorpahl, der nun ein faszinierendes Buch über den "Welterkunder" vorgelegt hat, halb Biografie, halb Forschungsbericht und fesselnde Dokumentation einer jahrzehntelangen Spurensuche. Vorpahl reiste systematisch an Orte, die Forster besucht hatte, durchforschte Archive in aller Welt und stieß auf unbekanntes Material, vergessene Texte und unbekannte Zeichnungen, wie sie nur Forscherfleiß und Leidenschaft zutage fördern können. Sein Buch weckt das Verständnis für diese Leidenschaft und das Bedürfnis, sie wenigstens während der Lektüre zu teilen. Besser kann man sich einem Autor nicht nähern, über den Alexander von Humboldt gesagt hat: "Der hellste Stern meiner Jugend (...) Durch ihn begann eine neue Ära wissenschaftlicher Reisen."


Johann Gottfried Seume: Mein Leben (hg. von Dirk Sangmeister). Wallstein, Göttingen 2018, 479 S., 34,90 EUR. - Frank Vorpahl: Der Welterkunder. Auf der Suche nach Georg Forster. Galiani, Berlin 2018, 544 S., 32 EUR.

Hanjo Kesting ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. 2017 erschien bei Wallstein: Bis der reitende Bote des Königs erscheint. Über Oper und Literatur.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2018, S. 65 - 68
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2019

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