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AUTOREN/058: Zwischen Utopie und Scheitern - Dieter Wellershoff zum 90. Geburtstag (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2015

Zwischen Utopie und Scheitern
Dieter Wellershoff zum 90. Geburtstag

Von Hanjo Kesting


Er hat, seit er mit einer Arbeit über Gottfried Benn promovierte, in 65 produktiven Jahren ein gewaltiges Werk aufgetürmt: Romane, Erzählungen, Hörspiele, Drehbücher, Gedichte, autobiografische Bücher, nicht zuletzt Essays, Kritiken und literaturhistorische Arbeiten. Vor allem seine Studie Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt, hervorgegangen aus Vorlesungen an den Universitäten und Gesamthochschulen Essen und Paderborn 1987/88, gehört zum Profundesten, das in den letzten 50 Jahren in deutscher Sprache auf diesem Gebiet geschrieben wurde.

Dieter Wellerhoffs Interesse erstreckte sich von Cervantes über die großen Franzosen und Russen des 19. Jahrhunderts bis zu den Großmeistern der Moderne (Franz Kafka, Marcel Proust, James Joyce, Virginia Woolf, Alfred Döblin, Thomas Mann, William Faulkner), aber auch zeitgenössische Autoren wie Alain Robbe-Grillet, ihm an Alter nur wenig voraus, und jüngere wie Thomas Pynchon wurden in seine Untersuchungen einbezogen. Man findet in ihnen nicht nur eine ungewöhnliche Gelehrsamkeit und ausgreifende Kenntnis der Weltliteratur, der besondere Reiz des Buches beruht auf dem genauen Blick eines Autors, der die eigene Erfahrung des literarischen Handwerks in seine literarischen Analysen mit einzubringen vermochte.

Als Erzähler und Essayist ist Dieter Wellershoff eine seltene Doppelbegabung. Die sechsbändige Werkausgabe, die zu seinem 70. Geburtstag erschien, enthielt jeweils drei Bände mit erzählerischen und essayistisch-kritischen Arbeiten, aber auch die drei weiteren Bände, die 2011 nachgeliefert wurden, zeigten den Autor mit diesem Doppelgesicht. Schwer zu sagen, auf welcher Waagschale hier mehr liegt. Die Stellung zwischen Theorie und Praxis prädestinierte ihn für die Arbeit des Lektors, und tatsächlich arbeitete er gut zwei Jahrzehnte im Lektorat des Verlags Kiepenheuer & Witsch in Köln. Er war der Entdecker und Förderer einer ganzen Garde junger, unbekannter Autoren - darunter Rolf Dieter Brinkmann, Günter Herburger, Nicolas Born -, nicht zuletzt der kluge Ratgeber Heinrich Bölls und zuweilen dessen Titelerfinder (Gruppenbild mit Dame). Wellershoff war bereits 55 Jahre alt und hatte vier Romane - von Ein schöner Tag (1966) bis zu Die Schönheit des Schimpansen (1977) vorgelegt, als er sich in den frühen 80er Jahren dazu entschloss, von nun an als freier Schriftsteller zu leben und zu arbeiten.

Wie bei vielen deutschen Autoren seiner Generation ist sein Werk geprägt durch die Erfahrung des Dritten Reiches und der Kriegsjahre. Mit 17 Jahren hatte er sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, war 1944 in Litauen verwundet worden und ein Jahr später in Kriegsgefangenschaft geraten. Im wichtigsten seiner autobiografischen Bücher, Der Ernstfall von 1995, hat er die innere Befindlichkeit dessen zu erkunden versucht, der ein halbes Jahrhundert zuvor in den Krieg gezogen war. Er nennt Abenteuerlust, Erfahrungshunger und patriotische Konvention als Motive, aber auch die sogar nach Stalingrad noch wirksame offizielle Propaganda, die durch zufällig abgehörte BBC-Nachrichten nicht wirksam erschüttert werden konnte: "Ich zog in den Krieg mangels einer Alternative und ohne Illusionen, aber mit einem vagen Pflichtgefühl, das im Grunde eine Solidarität gegenüber all jenen war, die es auch getan hatten, und gegenüber den vielen, die gefallen waren. Dieses Zugehörigkeitsgefühl war brüchig. Aber es war noch nicht ganz aufgelöst." Der junge Soldat wurde dem "Regiment Hermann Göring", das weit von der Front entfernt stationiert war, zugeteilt. Die erhoffte "Frontbewährung" blieb ihm zunächst erspart, wurde aber im August 1944 nach dem monatelangen Drill der Ausbildung als willkommene Abwechslung erfahren. Erst auf der Fahrt im Lazarettzug nach seiner schweren Verwundung vollzog sich in dem gerade 19-Jährigen beinahe unbewusst eine innere Wandlung, und der Wille zum Überleben setzte sich durch.

Wellershoffs Buch Im Dickicht des Lebens ist eine Mischung aus Erfahrungsbericht, Selbsterforschung und historischer Analyse. Es geht darin weniger um die Darstellung des äußeren Kriegsgeschehens als vielmehr um die "Innenansichten des Krieges". Das Kriegserlebnis wird mit großer Genauigkeit, aber nüchtern und distanziert beschrieben; immer wieder werden spätere historische Erkenntnisse reflexiv in die Darstellung eingebracht, um aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts nicht nur die Verblendung aufzudecken, die den jungen Kriegsteilnehmer umfangen hielt, sondern auch den unbewussten Widerständen auf die Spur zu kommen, die ihn hinderten, sich dem ganzen Ausmaß der Schrecken zu stellen. Am Schluss des Buches steht die "unaufhebbare Fassungslosigkeit" über ein sechs Jahre währendes Massensterben und dessen "innersten Bereich": die Todesfabriken der Konzentrationslager, denen kein Erklärungsversuch gerecht werden kann.

Das Erzählwerk Wellershoffs, das er bis in seine späten Jahre beständig gefördert hat, gipfelt in dem Roman Der Liebeswunsch von 2000. Es ist die Geschichte einer amour fou, zugleich eine experimentelle Ehe- und Liebesgeschichte, in deren Verlauf sich alle scheinbar festgefügten Verbindungen auflösen und an deren Ende der Selbstmord einer jungen Frau steht, die das Verlangen nach einem "richtigen Leben" in der Liebe, das dem Buch seinen Titel gibt, am Unbedingtesten verkörpert.

Das Personal beschränkt sich im Wesentlichen auf vier Personen: Marlene und Paul, Anja und Leonhard, zwei Paare, die freundschaftlich miteinander verbunden sind. Marlene, von Beruf Ärztin, hat einst Leonhard, einen Richter am Oberlandesgericht, verlassen, um mit seinem besten Freund Paul, einem Kollegen ihrer Klinik, zusammenzuleben, der seinerseits Frau und Kinder ihretwegen verlassen hat. Dennoch ist Leonhard im Lauf der Zeit zu einem engen Freund des Arztehepaares geworden. Die Balance scheint vollends wiederhergestellt, als Leonhard im Haus der Freunde die Studentin Anja kennenlernt, die während der Ferien das Haus hütet. Er heiratet sie wenig später. Die Hochzeitsreise führt die beiden nach Florenz und Rom, wo ihr Missverhältnis und ein Mangel an emotionaler Intensität, unter dem besonders die junge Frau leidet, zutage treten. Während einer gemeinsamen Reise der beiden Paare nach Florida geht Anja ein Verhältnis mit Paul ein, das nach der Rückkehr heimlich weitergeführt wird, auf Anjas Seite mit leidenschaftlicher Unbedingtheit. Marlene wird früher als Leonhard auf den Betrug aufmerksam, der die bisherige Lebensform aller Beteiligten infrage stellt und sich zuletzt als irreparabel erweist. Die einen wie die anderen, die Ehe- wie die Liebesleute, trennen sich, und Anja, verloren in ihrer Leidenschaft und ohne festen Halt in einer bürgerlichen Existenz, sucht Zuflucht im Alkohol und stürzt sich zuletzt aus einem Hochhaus am Wattenmeer in den Tod.

Die Anlage des Romans folgt dem Modell von Goethes Wahlverwandtschaften. Die Geschehnisse werden aus wechselnden Perspektiven erzählt, mal vom wissenden Erzähler, mal aus der Sicht der beteiligten Personen (die auch selber immer wieder das Wort ergreifen), woraus sich im Ganzen eine kaleidoskopische Erzählweise ergibt. Die Figuren des Quartetts stehen in komplizierten emotionalen Beziehungen zueinander, in denen Kränkung, Eifersucht, Rivalität und schlechtes Gewissen durch kultivierte Freundschaftlichkeit nur äußerlich überdeckt sind. Im Zentrum des Buches steht ein kleines Gedicht, das solche menschlichen Bemühungen, wieder in der Nachfolge Goethes, in den größeren Zusammenhang der Naturgeschichte stellt: "Das Geräusch der Brandung: / unvorstellbar viele Stimmen / reden darin, doch / keine kommt zu Wort. / Jede erzählt ihre eigene Geschichte. / Alle zusammen / sind sie das Rauschen / des immergleichen Traums."

Als Erzähler stand Dieter Wellershoff lange Zeit im Schatten seines Freundes Heinrich Böll und der ein oder zwei Jahre jüngeren Romanciers Siegfried Lenz, Martin Walser und Günter Grass. Deren Vorsprung an Popularität hat er nie einholen können. Aber jetzt, da er 90 Jahre alt wird, liegt ein Werk vor, das sich mit dem der berühmteren Kollegen messen kann und zum Bleibenden der Nachkriegsliteratur gezählt werden muss.

Von Dieter Wellershoff ist zum 90. Geburtstag erschienen: Im Dickicht des Lebens. Ausgewählte Erzählungen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 432 S., 19,99 EUR.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Soeben erschien bei Wallstein, Göttingen, seine dreibändige Studie Große Romane der Weltliteratur.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2015, S. 61 - 63
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Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2015

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