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AUTOREN/045: Stefan Heym - Historische Zeugenschaft (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013

Historische Zeugenschaft
Zum 100. Geburtstag von Stefan Heym

Von Hanjo Kesting



Sein Werk hatte zuletzt einen Umfang erreicht, dass selbst Freunde nicht alle seine Bücher gelesen hatten. Die Werkausgabe, erschienen zum 80. Geburtstag, umfasste 18 Bände mit rund 12.000 Seiten im Schuber. Ein lohnendes Leseabenteuer, denn Stefan Heym war seit seinen Anfängen ein Autor für Leser und nicht bloß einer für Kenner und Kritiker. Er hat stets das Publikum gesucht durch Stoffe und Schreibweise, und fast immer hat er ein großes Publikum gefunden.

Seine Anfänge als Schriftsteller liegen im amerikanischen Exil, wo er 1942 mit dem in englischer Sprache geschriebenen Roman Hostages (dt. Der Fall Glasenapp) debütierte. Die USA waren bereits die dritte oder vierte Station auf der lebenslangen Odyssee des Autors durch Länder und Zeiten. Geboren 1913 in Chemnitz als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, mit eigentlichem Namen Helmut Flieg, hatte Heym als Kind noch das deutsche Kaiserreich erlebt, als Jugendlicher die Weimarer Republik, er war 20, als Hitler an die Macht kam und das Dritte Reich anbrach, es folgten das Exil zunächst in der Tschechoslowakei (wo er sich den Schriftstellernamen Stefan Heym zulegte) und in den Vereinigten Staaten (in deren Uniform er am Krieg gegen Hitler-Deutschland teilnahm), schließlich 37 Jahre in der DDR, in dem sozialistischen Staat, den er mit seinen Hoffnungen betraute, wo er aber zunehmend in die Rolle eines Oppositionellen gedrängt wurde, schließlich das letzte Jahrzehnt seines Lebens in der neuen, erweiterten Bundesrepublik.

Ein Leben mit wechselnden Staatsbürgerschaften, in unterschiedlichen Ländern; keines davon konnte ihm wirklich zur Heimat werden. Aber zeitlebens hat Stefan Heym geschrieben, zunächst als Journalist in Emigrantenzeitschriften, danach als freier Schriftsteller; 60 Jahre lang hat er Buch an Buch gereiht, von Hostages bis zu dem letzten Roman Die Architekten - ein imponierendes literarisches Lebenswerk.

Als Schriftsteller ist er durch zwei Schulen gegangen, die Schule Amerikas und die Schule des Journalismus. Das hat ihm von Seiten der Kritik zuweilen den Vorwurf eingetragen, ein "Kolportageschriftsteller" zu sein. Vielleicht ist Stefan Heym aber auch nur durch die Schule des Lebens, seines Lebens, gegangen: mit dem Wunsch, sich einzumischen, Stellung zu beziehen, mit Literatur zur Veränderung der Verhältnisse beizutragen. Die Zeitgeschichte war sein eigentliches Thema: der Kampf gegen Hitler in Hostages, die Widersprüche der US-Gesellschaft in den Romanen Der bittere Lorbeer und Goldsborough, die schwierigen Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung, die er in seinem Buch über Ferdinand Lassalle in hinreißender Form beschrieben hat, und später immer wieder die Lebenslügen des DDR-Sozialismus. Heym war der erste Autor seines Landes, der in dem Roman Fünf Tage im Juni das Tabu-Thema des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 aufgriff (dabei nicht völlig gefeit gegen die Legende von der imperialistischen Unterwanderung des Landes).

Die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit in seinem Land hat Stefan Heym früh wahrgenommen, doch brauchte er Zeit, um sie sich einzugestehen. Der 17. Juni als Begrüßungssalut für den zweifachen Emigranten scheint ein lähmendes Trauma bewirkt zu haben. Skepsis und Misstrauen wuchsen nur langsam. Nicht nur, weil er anfangs das Wohlwollen der staatlichen Obrigkeit genoß, sondern weil die Träume wenig taugen, von denen man schmerzlos Abschied nimmt. Heym passte sich nicht an, aber er vermied die Konfrontation, übte sich statt dessen in der Kunst des Möglichen, sogar in den zehn langen Jahren zwischen 1963 und 1973, als keines seiner Bücher in der DDR erscheinen konnte.


Der Intellektuelle und die Macht

Er war ein Meister der Drahtseilkunst, mal kritisch vorpreschend, mal beflissen Solidarität übend, vorsichtig im Umgang mit Partei und Staat, misstrauisch bei Begegnungen mit westlichen Journalisten. Die Interviews, die er gab, zeichnete er, um sich gegen Manipulation zu schützen, auf einem Tonband auf, das er immer bei sich führte. Manchmal mochte es irritierend wirken, welchen Belastungen Heyms Solidarität mit seinem Staat standzuhalten vermochte. Man hat es ihm im Westen zum Vorwurf gemacht, im Osten nicht auf Dauer honoriert. Zweifellos war Stefan Heym, nach einem Wort von Wolf Biermann, "kein furchtloser Held". Aber was heißt Heldentum? Heym zeigte oft genug, dass seine Bereitschaft zum Kompromiss nicht seine Kritikfähigkeit erstickt hatte. Der kritische Marxist und entschiedene Sozialist erwies sich immer deutlicher als Moralist, dem es wichtiger war, mit seinem Gewissen als mit seiner Umwelt in Frieden zu leben. Nach der von ihm mitunterzeichneten Biermann-Petition wurde er in der DDR endgültig zum Außenseiter. Die Biermann-Affäre hat er später in der Tagebuch-Chronik Der Winter unsers Missvergnügens in beklemmender Weise nachgezeichnet.

Stefan Heym, das zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf seine Bibliografie, war ein außerordentlich produktiver Schriftsteller: 13 Romane, vier Erzählungsbände, zahllose Essays, Reiseberichte, Zeitungsartikel. Ein Autor, der immer wieder Neues erfand, der den Widersprüchen der Wirklichkeit nachging und auch da, wo sie ihn selber einholten, keine Ruhe gab. Vielleicht lässt sich der Rang des Autors, seine Könnerschaft und, nicht selten, Meisterschaft, am besten an den Büchern ablesen, in denen er aktuelle Themen in historischer Verkleidung darstellte: etwa der Satire Die Schmähschrift, die von der Verfolgung des unbotmäßigen Schriftstellers Daniel Defoe durch die englische Kronjustiz berichtet, oder dem König David Bericht, einer Parabel über Geschichtsfälschungen zum Zwecke der Machtpolitik.

Am Hof des Königs Salomo tritt eine Kommission hochgestellter Beamter zusammen, deren Aufgabe es ist, einen Bericht über das Leben und die Taten König Davids zu schreiben, Salomos Vater und Vorgänger auf dem Thron. Der Historiker Ethan soll der Redaktor des Berichts sein, der, wie er bald erkennt, auf eine gigantische Geschichtsfälschung hinausläuft. Denn König David, den die Legende als gottesfürchtigen Herrscher und Auserwählten Gottes beschreibt, als mutigen Kämpfer, der den Riesen Goliath mit der Steinschleuder besiegte, erweist sich in Wirklichkeit als Machtpolitiker, der über Leichen ging und das Wort Gottes seinen jeweiligen Zwecken anpasste. Der Historiker Ethan, der "eine Schwäche für die Wahrheit" hat, ohne ein Prinzipienreiter zu sein, sieht sich bald in einer Zwickmühle. So wählt er für seine Biografie des Königs David "einen glücklichen Mittelweg zwischen dem, was ist, und dem, was die Menschen glauben sollen". Und doch wird er am Ende wegen Hochverrat, Subversion und ideologischer Abweichung angeklagt. König Salomo, berühmt für seine Weisheit und Gerechtigkeit, sitzt über ihn zu Gericht und verhängt die Strafe: Er soll nicht getötet, sondern totgeschwiegen werden. Von da an weiß man, was von einem salomonischen Urteil zu halten ist.

Man kann den König David Bericht als Satire auf den Personenkult im Sozialismus lesen (König David trägt unverkennbar die Züge Stalins) oder als ironische Paraphrase auf den Versuch eines jungen Staates, sich eine historische Genealogie anzueignen. Im Zentrum aber steht das Problem des Intellektuellen, der schreiben soll, was die Mächtigen befehlen, und der nur zufällig Ethan heißt. Vielleicht lag es an dieser biblischen Verschlüsselung, dass das Buch 1972 in der DDR erscheinen konnte. Soviel Verschlüsselung wollte Heym sich später, nach vielen bitteren Erfahrungen und dem Exodus so vieler Kollegen, nicht mehr gestatten. In dem Erzählungsband Die richtige Einstellung (1977) und dem Roman Collin (1979) hat er das verdrängte stalinistische Erbe unverhüllt dargestellt. Einige Jahre später folgte der Roman Schwarzenberg, den man wieder als historische Parabel bezeichnen könnte, besäße er nicht einen bemerkenswerten realgeschichtlichen Kern.


Geschichte als Möglichkeitsspiel

Schwarzenberg ist eine kleine Stadt im Erzgebirge, im äußersten Winkel Sachsens südlich von Zwickau, der Geburtsstadt Robert Schumanns, und von Chemnitz, der Geburtsstadt Stefan Heyms, an der Grenze zu Tschechien. Mit dem Namen dieser Provinzstadt verbindet sich eine historische Anekdote, die sich glänzend dafür eignet, über das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit in der Weltgeschichte nachzudenken. Im Mai 1945 nämlich, als nach dem Ende des "Tausendjährigen Reiches" die alliierten Siegermächte Deutschland besetzten und gemäß den Beschlüssen von Teheran und Jalta in ihre Besatzungszonen einrückten, blieb durch eine missverständliche Order der Militärbehörden ein kleiner Zipfel des alten deutschen Staatsgebietes unbesetzt, eben jener Landkreis Schwarzenberg im Erzgebirge, in dem die Deutschen nach Hitlers Untergang noch einmal die Selbstverwaltung proben durften. Die Episode dauerte sieben Wochen, dann wurde ihr von der Besatzungsarmee, in diesem Fall der sowjetischen, ein Ende gesetzt.

Stefan Heym untersucht in seinem Roman die Frage, ob aus der Episode nicht dauerhafte historische Wirklichkeit hätte werden können. Der Roman ist ein Möglichkeitsspiel im welthistorischen Sandkasten: Geschichte wird darin zwar nicht a posteriori umgeschrieben, aber auch nicht a priori akzeptiert. Heym stellt in das historische Szenario fiktive Figuren, erprobt mit ihnen das Modell eines demokratischen Sozialismus, die "Republik Schwarzenberg" - man könnte von einer konkreten Utopie sprechen. Woran sie scheitert, wird nicht verschwiegen: der Hinweis auf die Uranvorkommen im Erzgebirge, die das Material für die erste sowjetische Atombombe lieferten, dürfte genügen. Und doch wirft der Roman die Frage auf, ob nicht schon im Frühjahr 1945, also von Anfang an, die Weichen falsch gestellt wurden. Zugleich beleuchtet Heym in den Figuren seines Buches die Stationen der eigenen politischen Biografie: da ist Max Wolfram, der vom gerechten Staat träumt und Demokratie und Sozialismus als Komplementärbegriffe versteht; der Genosse Reinsiepe, der die Führungsrolle der Sowjetunion niemals in Zweifel zieht; der Lieutenant Lambert, amerikanischer Besatzungsoffizier mit einem Germanistikstudium in Leipzig; da sind die russischen Offiziere Workutin und Bogdanow, Falke und Taube; und da ist der Genosse Ernst Kadletz aus Schwarzenberg, der nüchterne Chronist der Ereignisse. Sie alle spielen mit in dieser hintergründigen Offenbachiade, die ein historisches Denkspiel ist und vielleicht sogar - wenn es so etwas gibt - eine überpersönliche Autobiografie. In Schwarzenberg fand Stefan Heym für sein großes Lebensthema noch einmal ein charakteristisches Modell. Und dieses Lebensthema ist nicht allein die Frage nach dem Soll und Haben des realen Sozialismus; andere, vielleicht wichtigere Fragen drängen sich in den Vordergrund: wo die Fronten liegen zwischen Recht und Unrecht; was aus Menschen wird, die in und mit der Lüge leben, schließlich die Frage, wie der Frieden bewahrt werden kann in einer Zeit der Rüstungs-Paranoia.

Mit Romanen wie Schwarzenberg wurde Stefan Heym zum großen alten Mann der DDR-Literatur. Im vereinigten Deutschland, in dem er das letzte Jahrzehnt seines Lebens verbrachte, wusste man einen gebührenden Platz für ihn nicht zu finden, und der Spott, mit dem man ihm - nun Abgeordneter und Alterspräsident des Deutschen Bundestags - begegnete, offenbarte neben Unwissenheit und Hilflosigkeit auch viel schnöde Herablassung gegenüber der eindrucksvollen Biografie des Geistesmenschen.

Dessen Urbild hat Heym 1981 in dem Roman Ahasver beschrieben: der ewige Jude als Prototyp des kämpferischen Intellektuellen, der allen Anfeindungen zum Trotz sich selber und seinem Willen nach Veränderung treu bleibt. Ahasver ist Stefan Heyms persönlichstes Buch, fast im Sinne einer Konfession. Man erkennt darin die Physiognomie eines Autors, dem seine Stoffe nicht ausgingen und dessen Hauptinteresse historische Zeugenschaft war. Ein geborener Erzähler, ein kluger Essayist, ein redlicher Chronist, gallig im Witz, listig in der Ironie, menschenfreundlich in aller Skepsis.


Hanjo Kesting (*1943) ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Grundschriften der europäischen Kultur. Erfahren, woher wir kommen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013, S. 62 - 65
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2013