Schattenblick →INFOPOOL →DIE BRILLE → FAKTEN

AUTOREN/029: Ein literarisches Porträt von Josef Winkler (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 10/2008

"Alles, was ich beschreibe, wird neu"
Ein literarisches Porträt des Georg-Büchner-Preisträgers Josef Winkler

Von Brigitte Schwens-Harrant


Josef Winkler erhält am 1. November den diesjährigen Georg-Büchner-Preis. Die Sprache des Österreichers ist durch und durch von der katholischen Bilderwelt geprägt. Seine Romane, die vor allem im Frühwerk stark autobiographisch sind, erzählen von der Ambivalenz religiöser Sozialisation.


*


Nachdem am 17. Juni 2008 bekannt wurde, dass Josef Winkler den diesjährigen Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhalten werde, war man sich in Österreich weitgehend einig: mit Josef Winkler wird ein sprachmächtiger Schriftsteller ausgezeichnet, dem am 9. Oktober nun auch noch der Große Österreichische Staatspreis überreicht wird.

In deutschen Zeitungen waren tags darauf aber auch andere Einschätzungen zu lesen. Tilman Krause etwa meinte in der "Welt", die Entscheidung für Josef Winkler sei falsch, denn Josef Winkler leite alle Übel dieser Welt aus dem Katholizismus ab, und er werde nicht müde, das Zerstörerische von Religion anzuprangern, wo immer er es treffe. Krause ordnete Winklers Literatur jenen zu, die unter Aufklärung Einreißen verstünden, denen es gefiele, gegen autoritäre Vaterfiguren Sturm zu laufen. Winkler finde auch in Italien nur eine nekrophile Grundstruktur, kommentierte Krause - der sich damit bestens in die Linie jener einschrieb, die von einander abschreiben, ohne die Werke zu lesen, über die sie schreiben.

Kein Wort ließ Krause fallen über die Ästhetik der Winklerschen Werke, über die Kunst der Komposition, die in fein gearbeiteten Werken wie "Natura morta" besonders auffällt, kein Wort über die Sprache der Liturgie oder des Gebetes, in der Winkler Beobachtungen und Rituale ebenso wie psychische Zustände "betet" oder "singt", kein Wort über die Wahrnehmungsfähigkeit des Autors, kein Wort über die Bilder, die einander "ehelichen", wie Winkler selbst es einmal ausdrückte, über die Bilder, in denen das Leben den Tod umarmt, wie in jenen zärtlichen Beschreibungen von wandelnden Pietàs: trauernde Menschen, die ihren Geliebten - ihr Kind, ihren Freund - als Toten auf den Armen tragen. Kein Wort von der Veränderung der Winklerschen Sprach- und Bildwelten in den letzten Jahrzehnten, provoziert durch seine vielen Reisen in andere Kulturen und Länder (nach Italien, nach Indien, nach Mexiko), in denen der Autor zwar den Tod, aber auch das Leben und dafür Bilder und Sprache findet.

"Blut-, Sperma- und Todesliteratur" sei Winklers Werk, so "extrem einseitig-subjektiv, dass sie nie Literatur werden konnte", schrieb Alexander Riebel in der "Tagespost" sich selbst widersprechend. Aussagen wie diese erzählen mehr über das eigenartige Literaturverständnis des Rezipienten denn über die Texte. Dass die Winklerschen Werke nicht gefallen wollen, ist eine andere und völlig unbestrittene Sache: "Wenn mir nicht ein Satz wie ein Mühlstein um den Hals hängt, wozu soll ich ihn dann loswerden?" fragt Winkler schreibend. Mühlsteine mutet der Autor auch seinen Lesern zu. Er schreibt nicht für ein Publikum, sondern um sein Leben.


Tod als Anstoß, Literatur als Schrei

Josef Winklers öffentlicher Auftritt als Romanautor beginnt 1979 mit "Menschenkind", dem die Romane der später "Das wilde Kärnten" benannten Trilogie folgten: "Der Ackermann aus Kärnten" (1980) und "Muttersprache" (1982). Die Texte dieser Jahre erzählen von am Hanfstrick aufgeknüpften jugendlichen Selbstmördern, von Speichel und Sperma, Todesfantasien und homoerotischen Fantasien, von Hass auf den Vater, ödipaler Liebe zur Mutter, vom Diebstahl von Hostien und dem Töten von Tieren, von sexuellen Praktiken mit Mensch oder Plastikpuppe, überhaupt von vielem, das man früher wohl als "Unzucht treiben" bezeichnet hätte.

In Sprachbilder gebracht wird aber auch der bäuerliche Alltag: mit abgeschlagenem Hahnenkopf und rotem Blut, überhaupt mit vielen farbigen Adjektiven und drastischen Schilderungen. Immer wieder baumelt der berühmt gewordene "Winklersche" Kälberstrick in den Texten, mit dem man ins Leben helfen kann oder in den Tod. Mit ihm werden die Kälber aus dem Bauch der Mutter gezogen, mit ihm werden Kinder geschlagen, an ihm hängen sich die beiden Jungen auf, die ihre Beziehung nicht leben konnten.

Dieser Doppelselbstmord zweier junger Burschen im heimatlichen Kärntner Dorf Kamering - der 1953 geborene Winkler lebt schon in Klagenfurt - stößt das Schreiben an. Es bricht aus ihm heraus: zornig, wütend. Dabei helfen Lektüren, etwa Jean Genets "Notre-Dame-des-Fleurs". Das Verbotene wird nun nicht mehr länger verschwiegen, es wird im Gegenteil herausgeschrien. Tabubrüche, etwa homoerotische Fantasien, werden vor allem in den ersten Romanen zu einem Markenzeichen des Winklerschen Schreibens.

"So unangenehm war mir lange kein Buch. Josef Winklers Roman 'Der Ackermann aus Kärnten' ist ein Exzess der Metaphern, ein Abszess der Sprache", gab seinerzeit Ulrich Greiner zu. Er "verstößt, wo er nur kann, gegen den guten Geschmack." Als "nekrophile(n) Hymniker und Blasphemiker aus katholisch-barocker Tradition, besessen autobiographisch, schwankend zwischen Sakrament und Sakrileg", bezeichnete die Literaturkritikerin Sigrid Löffler den Autor. Und der Literaturwissenschafter Klaus Amann betitelte einen Beitrag über Winkler passend mit "Allerheiligenhistoriker, Karfreitagspsychologe, Christihimmelfahrtsphilosoph, Mariaempfängnisneurotiker".

Winkler verstößt nicht nur gegen den guten Geschmack, er stößt auch Heiligenbilder zu Boden. Sein Schreiben ist ein Bildersturm, allerdings nicht einer, der die religiösen Bilder abschafft, sondern einer, der sie neu schreibt. Winkler räumt nicht auf, sondern um. "Rußgeschwärzte Heiligenbilder, die in den Schlafzimmern der Bauern über den Betten hingen, fielen brennend zu Boden", so beginnt bezeichnend der Roman "Der Leibeigene" (1987). Literatur wird zum lauten Protest: "Obwohl der Pfarrer gesagt hat, dass man über diese und jene Dinge nicht reden soll, rede auch ich über diese Dinge nicht, solange ich nicht darüber reden will, aber jetzt will ich genau über Dinge reden, über die man nicht reden soll, denn ich will nur über Dinge reden, über die man nicht reden soll, sonst über nichts mehr." (Muttersprache)

Texte, etwa von Jean Genet, werden eingeschrieben, Gebete und Gebote provokant umgeschrieben. "Du sollst Unzucht treiben, wenn dir ein Junge lieber als ein Mädchen ist, du sollst den Jungen lieben wie dich selbst. Du sollst töten, wenigstens ein Tier töten, wenn dich dein Vater schlägt." In viele Gebets- und Liedtexte schreibt sich aber auch die Sehnsucht ein, etwa die nach der Zärtlichkeit der Mutter: "War nicht ich es, der die Mutter bat, in einer Nacht, wenn der Vater in Klagenfurt bei seinem Bruder schlief, neben ihr liegen zu dürfen? Ich schlief mehr in der Mitte, näher, meine Mutter, zu mir, näher zu mir." (Muttersprache)

"... ein katholisches österreichisches Kind" hat "bis in die fünfziger Jahre tatsächlich als erste Fremdsprache das Liturgische gelernt", schrieb die Literaturwissenschaftlerin Konstanze Fliedl, und das Liturgische ist es auch, das so auffällig in die Literatur des ehemaligen Ministranten Winkler einfließt. Die Gefahr ist groß, ihn in eine Schublade zu legen, auf der die Etikette "katholische Kindheit auf dem österreichischen Land" klebt. Die "Tageszeitung" mutmaßte denn auch, Winkler sei der "österreichischste Österreicher in der deutschsprachigen Literatur" und Hellmut Böttiger konstatierte in der "Süddeutschen Zeitung": "Dieser Autor ist Österreich im reinsten Konzentrat".

Doch es geht hier nicht um Österreich. Es geht nicht nur um katholische Sozialisation in den fünfziger und sechziger Jahren. Es geht auch nicht nur um den Tod. Es geht auch ums Leben. Vor allem aber: Es geht um Rituale und um Sprache.


Fasziniert und beschädigt

Freilich, Josef Winklers Sprachbilder sind nicht nur durch und durch von der katholischen Sprach- und Bilderwelt geprägt: sie sind (vor allem in den ersten Werken) katholische Bilderwelt. Heiligenbilder, Kruzifixe, Heiligenstatuen gehörten zum selbstverständlichen Inventar eines katholischen Hauses und taten ihre Wirkung. Kaum ein Schriftsteller hat derart intensiv über die Wirkungen religiöser Bilder (die ja meist im Unbewussten bleiben) geschrieben.

Mit ihnen findet sich die Ambivalenz der religiösen Erfahrung erzählt: sie verbreiten Angst und Schrecken, bieten aber auch Schutz und Heil. So erhofft sich Josef, das Kind in der "Trilogie", von seinem Schutzengelanhänger Schutz vor den Schlangen und vor dem Vater, andererseits bringen ihn die Bilder in Bedrängnis und Angst, die Figuren suchen ihn in seinen Träumen auf, und die Mutter muss als Retterin vor ihnen erscheinen. Die Heiligenfiguren, die "an allen Ecken und Enden stehen", treten bedrohlich aus dem Rahmen und verwandeln sich in Fleisch und Blut.

Winkler spricht heute in Interviews, wie etwa in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", von seinen Beschädigungen: "Den Kirchturm hat man mir nicht ins Herz treiben können, aber er hat mich schwerstens gestreift, und da ist man beschädigt bis ans Lebensende." Aber dennoch erzählen seine Werke mehr, nämlich von der Ambivalenz religiöser Sozialisation. Starke Abneigung und starke Faszination prägen sein Schreiben. Winkler schreibt zwar wie Charles Baudelaire die Hymnen der Kirche verstörend um; er schreibt aber auch viel und sehr fasziniert über die Erfahrungen mit Kirche, etwa wie er als Ministrant mit dem Kirchenblatt von Haus zu Haus gegangen ist und wie ihm das Pfarrhaus ein Ersatzelternhaus wurde. Denn Lesen war im heimatlichen Bauernhof nicht vorgesehen und erwünscht und im Pfarrhaus bekam er seine geliebten Karl-May-Bände geschenkt: "Auch eine Gottes- und Himmelserfahrung."

Auch im Bild des Vaters, dem "Gott meiner Kindheit", dem "Herrscher über Mensch und Tier im Dorf", einer der wichtigsten literarischen Gestalten in Winklers Werken, findet sich die Ambivalenz der religiösen Erfahrung erzählt: Ist in Winklers frühen Texten der Vater die erlebte Grausamkeit schlechthin, so ziehen sich doch immer auch stille literarische Spuren der (unerfüllten) Sehnsucht nach Zärtlichkeit durch die Werke und die versöhnlichen Töne werden in den letzten Werken lauter und formen sich in "Roppongi" (2007) zu berührenden Szenen.

In dieser Kindheit, in der die Kirche einen Ort sowohl der Wärme als auch einer gewissen Intellektualität darstellt, aber auch einen Ort der Angst, der, wie Winkler einmal in einem Gespräch mit Matthias Prangel erzählte, unzählige Menschen "wahnsinnig genervt und zerstört" hat, entsteht das existenzielle Interesse an Religion, an religiöser Sprache, Riten, Bräuchen. Dies ist in den ersten Romanen auf den Kärntner Katholizismus beschränkt, es bleibt aber nicht dabei. Winklers schonungslose Literatur zwingt ihn, eine Zeit lang das Dorf nicht mehr zu betreten und sich anderswo umzusehen. Er nimmt sein Interesse - das sich vor allem in einem akribisch genauen Beobachten und Niederschreiben äußert - mit, wohin auch immer er geht oder man könnte auch sagen: Er reist seinen Themen nach.

Zunächst ist es Rom, wo Winkler auf Märkten und Plätzen seine Wahrnehmungen aufliest und erschreibt, und wo die Fleischhändler "im Tonfall katholischer Litaneien die Preise ihres Rind- und Schweinefleisches" rufen (Natura morta, 2001). Später ist es Indien, wo Winkler in Benares (Varanasi) auf eine andere fremde Religion trifft: an der Leichenverbrennungsstätte am Ganges. Wenn die Heimat Thema ist, wird die Totenglocke zum Leitmotiv, wenn Indien zur Sprache kommt, der Gesang der Leichenträger "Ram Nam Satya hai!" und die siebensprossige Bambusleiter.

Winkler hat zwar den Ort des Beobachtens und Schreibens gewechselt, aber selbst dort, in der völligen Fremde, erinnert ihn vieles an daheim: Die Schreie eines Vogels erinnern an die Schreie des Totenvogels, eine rußige Wirbelsäule erinnert "an den schwarzen, knorpeligen, nach Schweiß und Urin riechenden, speckigen Rosenkranz meiner Großmutter, den ich bis heute noch nicht wegzuwerfen wagte, da an seinem Ende ein kleines silbernes Kruzifix hängt, dessen Gesichtszüge ich mir seit meiner Kindheit eingeprägt habe." Ein mit Jutesäcken belegtes Holzgestell erinnert "an die Zeit, als wir vor der sommerlichen Getreideernte in der Mühle die löchrigen Jutesäcke flicken mussten." (Domra)

Was aber in Indien grundlegend anders ist, und insofern verändert sich das Schreiben Josef Winklers wohl auch und gerade wegen des Ortswechsels: Tod und Leben gehören hier sehr augenscheinlich zusammen. Das wird nirgendwo - für Europäer verstörend - so deutlich sichtbar wie bei hinduistischen Bestattungsritualen. Winkler notiert alles. Ein Junge uriniert in den Aschehaufen, ein Mann zündet sich "an einem heißen weißen, feinlöchrigen Knochenstück des eingeäscherten Toten seine Zigarette an", Kinder fangen Fische mit einem Kunststoffleichentuch. In dieser Kultur gibt es die Schranken nicht, die das Leben vom Tod trennen, die etwa ein Begräbnis abschirmen, herausschälen aus dem Spektakel des Alltags. Winkler interessiert sich genau für dieses lebendige Treiben um den Tod herum, so sehr, dass er auch hier wieder Notizbuch um Notizbuch mit seinen Beschreibungen füllt, Tausende von Seiten, aus denen "Domra. Am Ufer des Ganges" (1996) entsteht.


Schreiben ist Leben ist Wandlung

Das Notizbuch zieht sich als roter Faden durch Winklers Texte. Es ist auch ein Buch der Namen: Während etwa der Erzähler die Verbrennungsrituale beobachtet, kommen Kinder, wollen ihren Namen eingeschrieben haben oder nachsehen, ob sie noch verzeichnet sind. Das Notizbuch wird zum Buch des Lebens.

Tausende beschriebene Seiten bilden die Grundlage für Winklers Romane und Novellen. Winkler sammelt Bild für Bild. Schreiben ist zunächst einmal: genaues Beobachten und Notieren. Das ist auch Thema in seinem jüngst erschienenen Büchlein "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot" (2008), in dem unter anderem eine fast schon verzweifelte Suche - in fremden Worten, in fremden Welten - nach den eigenen Worten erzählt wird: "Meine schwarze Tinte war eingefroren, und ich konnte kein Wort aus meinem Eis lösen". Winkler reist in die Welt, um seine Lektüren zu leben und das Leben zur Lektüre zu machen.

Das Schlimmste nämlich wäre: nicht schreiben zu können. "Wäre ich im Dorf durch Gespräche von diesen Fantasien erlöst worden, müsste ich heute wahrscheinlich nicht schreiben. Es sind dieselben Fantasien, dieselben Ängste, die wiederkommen, um schreibend aus dem Weg geräumt zu werden", heißt es im Roman "Muttersprache". Die auch psychotherapeutische Bedeutung des Schreibens war bei den ersten Romanen Josef Winklers offensichtlich und er hat sie in Gesprächen bestätigt: Schreiben kann von Ängsten befreien, die erlebte Sprachlosigkeit aufheben.

Das Wort taugt aber als Abbildung, als Nachbildung nicht. Tabubrechen bedeutet daher: alles in das Wort zu setzen, das Wort stark zu machen, stärker noch als die Erlebnisse. Schreiben ist bei Winkler ein liturgischer Akt, ist Zelebration; Schreiben ist Wandlung. "Alles, was ich beschreibe, wird neu." (Der Ackermann aus Kärnten)

Bei aller Abscheu, die Josef Winkler in Interviews äußert, und auch wenn seine Hoffnung ausgewandert ist aus der katholischen Kirche in das Schreiben: die religiösen Sprachbilder bleiben. "In einer Kirche möchte ich wohnen und schreiben, meine Manuskripte auf den Altar legen und nach getaner Arbeit in den Tabernakel geben", heißt es im Roman "Muttersprache" und selbst im jüngsten Buch schreibt sich der Klang vertraut-unvertraut in die ersten Seiten ein: "Berühr mich mit deinem Staub, und ich zerfalle zu einem Menschen."

Winklers Beobachten und Beschreiben von Ritualen und Begegnungen ist nicht nur von einer akribischen und verstörenden Genauigkeit, sondern oft auch von starker Zärtlichkeit. Kunst sind aber auch die - durch die französische Literatur geschulten - Fantasien, die sich aus der Welt und in diese hineinschrauben, böse, unerbittlich, erbarmungslos. Messerscharf schlitzt Winkler die (religiöse) Sprache auf und entdeckt dabei auch die Engel: als Holzfiguren, vorne vergoldet, hinten hohl.

Josef Winklers Literatur ist eine Literatur "im Zeichen des Kreuzes". So formulierte es der Literaturwissenschafter Wendelin Schmidt-Dengler sehr treffend, der in Winklers Werken immer wieder eine Rolle spielen durfte und eine Laudatio auf Josef Winkler hätte halten sollen, aber völlig überraschend am 7. September 2008 gestorben ist. Das Kreuz hat sich in das Heimatdorf eingeschrieben. In seinem zweiten Roman "Der Ackermann aus Kärnten" widmet Winkler jedem Haus seines Dorfes ein Kapitel, wobei diese Häuser entlang den zwei sich kreuzenden Straßen ein Kreuz, das Dorfkreuz bilden. Das Dorf ist Ort körperlichen Schmerzes, der Folter und des Todes, der Gang durchs Dorf wird zur Passion. Die Tode sind selten "natürliche" Tode: es sind Selbstmorde, Stromstöße, Verkehrsunfälle, von denen Winkler erzählt. Schreiben gibt Winkler die Möglichkeit, Verstorbenen "Grabsteine mit Inschriften" zu setzen.

In der Erzählung "Wenn es soweit ist" führen die Prozessionen zum Friedhof am Höllenbild vorbei, das auf den Bildstock gemalt ist (und das sich auch auf den Beichtbildchen findet, die der Pfarrer verteilt, und als Wasserzeichen auf den Hostien). Dieser Bildstock erinnert, erschreckt, ermahnt. Er ist an einer zentralen Stelle des Ortes, man kann ihm nicht ausweichen, der eigene Weg führt unweigerlich an ihm vorbei. Es kommt nicht von ungefähr, dass Winkler gerade dem Bildstock in dieser Erzählung eine so zentrale Bedeutung zukommen lässt. Denn Winklers Texte sind im Grunde selbst Bildstöcke, sie mahnen nicht vor Höllenstrafen im Jenseits, sondern erinnern - nicht minder grausam genau wie kirchliche Höllendarstellungen - an so manche Hölle im Diesseits. Und an den Tod.

Grabstein mit Inschriften und Bildstock: diese Metaphern stimmen, doch Winklers Texte sind nicht statisch. Hier wird nichts in Marmor gemeißelt, hier bleibt schon deswegen alles im Fluss, weil Winkler seine Bilder selbst immer wieder neu liest, neu baut, die Satz- und Bild-Türme stürzen lässt, wieder neu aufbaut. Die Bilder, die in seinen Werken auftauchen, sind oft bekannt, die Komposition ist stets neu.

Veränderungen seiner Schreibweise im Lauf der Jahre sind wahrnehmbar. Seine ersten Romane, "wo der ganze autobiographische Stoff noch mit einem viel größeren Druck daherkam", geschrieben aus Zorn und Eifer, sind stark surrealistisch. Später kehrt - trotz des Wieder-Holens der Bilder - mehr erzählerische Distanz ein, etwa durch die Wahl anderer Namen der Erzählerfigur oder des Dorfes, aber auch durch strengere Formen, die den Bildern klarere Strukturen aufzwingen. Fertig ist, so kann man es auch aus dem jüngst erschienenen Werken lesen, noch lange nichts: "Ich vollende nichts, ich schließe nichts ab, was ich sage, ist immer nur fragmentarisch, Blitzlichter sollen es sein, die die Landschaft meiner Kindheit und Jugend erleuchten, aber sofort wieder ins Dunkle hüllen." (Muttersprache)

In den früheren Werken Winklers identifizierte sich Josef mit Jesus Christus und seiner Passion, der Erzähler sprach als Jesu Zwillingsbruder. Zunächst scheint das eigene Leid im Vordergrund, aber davon rückt der Erzähler weg, nimmt die Rolle des Dorf- (Wenn es soweit ist) oder Friedhofschronisten (Der Friedhof der bitteren Orangen) ein. Um Winklers eigenes Bild aus "Wenn es soweit ist" aufzugreifen: Der Erzähler sammelt als Knochensammler die Knochen, das heißt: die Geschichten der Verstorbenen, holt sie aus dem Vergessen, erzählt sie, obwohl man "über diese und jene Dinge nicht reden soll" und ordnet sie in seinem Tonkrug neu.

In seinen Werken greift Winkler den Schreibanstoß, den Selbstmord der beiden Freunde, immer wieder auf. Winkler lässt die Toten nicht in Ruhe und stört die Totenruhe, wo er nur kann. Er schreibt über all die unglücklich zu Tode Gekommenen, über die nicht nur Friedhofserde sondern vor allem Schweigen geworfen wird. Literatur wird zum "Skandal für die Lauen, die Gleichgeschalteten, die Plattmacher (Ludwig Hang). Schreiben ist aber auch eine Art Totenauferweckung, und zwar nicht nur der Toten, sondern auch der totenstillen Lebenden: "Die Lebenden sollen endlich von den Toten auferstehen". (Der Ackermann aus Kärnten)

Im jüngsten Büchlein "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot" beschreibt Winkler unter anderem eine Reise mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Mexiko im Oktober/November 2007. In der Nacht zum 1. November wird dort die "Ankunft der verstorbenen Kinder erwartet, der Angelitos, der kleinen Engel". Tote kleine Engel sind auch Thema des Buches, in dem Winkler erzählt und erinnert, wie unschuldige Kinder zu Tode kamen: durch Mord, Selbstmord oder tragische Autounfälle. Dass Josef Winkler der Georg-Büchner-Preis gerade am 1. November verliehen wird, ist verdient und passend.


*


Dr. Brigitte Schwens-Harrant (geb. 1967) ist Ressortleiterin "Literatur" der österreichischen Wochenzeitung "Die Furche" und Literaturkritikerin. Sie studierte Germanistik und Theologie in Wien. Buchpublikationen: "Literaturkritik. Eine Suche" (2008), "Erlebte Welt - Erschriebene Welten. Theologie im Gespräch mit österreichischer erzählender Literatur der Gegenwart" (1997). Herausgeberin der Webseite www.literatur-religion.net.


Werke von Josef Winkler bei Suhrkamp, Frankfurt:

Menschenkind, Roman, 1979
Der Ackermann aus Kärnten, Roman, 1980
Muttersprache. Roman, 1982
Die Verschleppung. Njetotschka Iljaschenko erzählt ihre russische Kindheit, 1984
Der Leibeigene, Roman, 1987
Friedhof der bitteren Orangen. Roman, 1990
Das Zöglingsheft des Jean Genet, 1992
Domra. Am Ufer des Ganges, Roman,1996
Wenn es soweit ist, Erzählung, 1998
Natura morta. Eine römische Novelle, 2001 (Lesetipp!)
Leichnam, seine Familie belauernd, 2003
Roppongi. Requiem für einen Vater, 2007
Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot, 2008

*


Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2008, S. 531-535
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de

Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,40 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2008