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AUTOREN/021: Feste des Lebens - Günter Grass zum 80. Geburtstag (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2007

Feste des Lebens
Günter Grass zum 80. Geburtstag

Von Hanjo Kesting


Günter Grass gehört einfach zu den Schriftstellern - und man kann sie an einer Hand abzählen - die in meiner Generation die Grenzen der Dichtung gesprengt haben, so wie in der vorherigen Joyce, Proust und Musil. In meiner Vorstellung ist Günter Grass der Daumen dieser Hand, dieses kräftige und vorzügliche Werkzeug, ohne das man nichts greifen kann, wie behende auch die anderen Finger mit dem Stoff des Lebens spielen.
(Nadine Gordimer)


"Gestern wird sein, was morgen gewesen ist" - so lautet der erste Satz von Günter Grass' Erzählung 'Das Treffen in Telgte'. Als sie 1979 erschien, zeigte der Umschlag des Buches - vom Autor nach Gewohnheit selber gezeichnet - eine Hand mit einem Gänsekiel, die sich aus einem Trümmerfeld emporreckt. Trümmerliteratur also. Sei es die so etikettierte des Jahres 1947, als Hans Werner Richter deutsche Autoren nach Bannwaldsee zum ersten Treffen der späteren Gruppe 47 einlud; sei es die des Jahres 1647, in welchem Simon Dachs Einladung an deutsche Poeten zum Treffen in Telgte erging, "um vnsre sach einig zu machen, derweil das Vaterland zerrissen ..." So steht es in Günter Grass' Erzählung: Er hat dieses Treffen erfunden und die Autoren der Barockzeit auf dem Boden der Fiktion zusammengeführt.

Günter Grass ist oft als barocker Autor bezeichnet worden. Und er ist es tatsächlich, der persönlichen Statur wie seinem Schreiben nach. Von je hat ihm die Literatur der Barockzeit am Herzen gelegen, ihre Lyrik nicht anders als ihr größter Roman, der 'Abentheuerliche Simplicissimus' von Grimmelshausen. Er hat ihre Ahnherrschaft für das eigene Werk immer wieder anerkannt, und er hat sie ganz unmittelbar, nicht nur im 'Treffen in Telgte', zum Gegenstand des eigenen Erzählens gemacht, etwa in dem Kapitel des Romans 'Der Butt', das von dem Dichter Martin Opitz handelt und "Von der Last böser Zeit" überschrieben ist. Und noch tiefer durchsetzen der barocke Impuls, die barocke Haltung, das barocke Weltgefühl das gesamte Werk von Günter Grass, bis hin zur Selbstporträtähnlichkeit. Der junge, gewitzte Christoffel Gelnhausen aus dem 'Treffen in Telgte' ist ja nicht nur ein jugendrohes Porträt des großen Grimmelshausen, auch Günter Grass selbst steckt in diesem wilden, aufrührerischen, amoralischen Stoffel, gemäß einem Verwandtschaftsverhältnis, das von Grimmelshausens Barockroman zur 'Blechtrommel' führt, vom einfältigen Simplicius zum trommelnden Zwerg Oskar Matzerath.

Damit ist der Name, ist der Titel genannt, mit dem Günter Grass sich 1959 schlagartig in die Weltliteratur katapultierte. Der Roman war bei seinem Erscheinen in jeder Hinsicht eine Sensation. Keiner hatte diese Sensation vorausgesehen, nicht einmal die Autoren der Gruppe 47, die Grass ein Jahr zuvor für eine Lesung aus dem ungedruckten Manuskript ihren Preis verliehen hatten. Der Verfasser war noch jung, gerade zweiunddreißig Jahre alt, literarisch hervorgetreten nur mit einem schmalen Gedichtband: 'Die Vorzüge der Windhühner'. Geboren 1927 als Sohn polnisch-deutscher Eltern in Danzig, hatte er nach Nazizeit, Krieg und Gefangenschaft zunächst als Land- und Bergarbeiter, dann als Jazzmusiker und Steinmetz gearbeitet. Als Beruf hätte der Schüler Otto Pankoks an der Düsseldorfer Kunstakademie wahrscheinlich eher den des Bildhauers und Grafikers als den eines Schriftstellers angegeben.

Die 'Blechtrommel', der Debütroman, ist das berühmteste Buch nicht nur von Grass, sondern der gesamten "Nachkriegsliteratur". Das verdankt sie nicht nur ihrer literarischen Qualität. Die einzigartige Bedeutung liegt in der unwiederholbaren historischen Konstellation: Was anderthalb Jahrzehnte zuvor als Trümmerliteratur begonnen hatte, war hier kraftvoll zum Höhepunkt und Abschluss gebracht. Erst die 'Blechtrommel' konnte, trotz der Romane von Böll, Arno Schmidt, Wolfgang Koeppen, als überzeugende Antwort auf die immer wieder gestellte Frage nach dem großen deutschen Gegenwartsroman gelten. Das hatte zugleich einen äußeren Aspekt: Mit Grass trat die westdeutsche Literatur in die Zeit ihrer internationalen Geltung ein. Nur wenige begriffen das sofort, etwa Hans Magnus Enzensberger, der schon 1959 schrieb: "Mit seinem Roman hat sich Grass einen Anspruch darauf erworben, entweder als satanisches Ärgernis verschrien oder aber als Prosaschriftsteller ersten Ranges gerühmt zu werden." Beide Prognosen sind in Erfüllung gegangen, aber nur die zweite war von Dauer.

Man hat sich angewöhnt, Grass' spätere Produktion an den frühen Geniestreichen zu messen und gar vom Nachlassen seiner Fantasie und literarischen Produktivkraft zu sprechen.

Lassen wir die Frage nach der Berechtigung solcher Kritik auf sich beruhen. Als Schriftsteller unterlag auch Günter Grass dem Gesetz der Verwandlung, das die Voraussetzung jeder Erneuerung ist. Man darf nicht übersehen, dass der Autor der Danziger Trilogie es mit der Wirklichkeit des Dritten Reiches zu tun hatte, mit singulären Verbrechen, nächtlichem Spuk, dem Einbruch des Bösen in die deutsche und Danziger Bürgerwelt. Er wich vor dieser Wirklichkeit nicht aus, errichtete seine Erzählkonstruktionen über dem Abgrund der Gewalt. Darauf beruhte ja die ebenso vehemente wie verstörende Wirkung besonders der 'Blechtrommel'. Enzensberger, um ihn nochmals zu zitieren, fragte, woher die Brisanz dieser Prosa rühre? Seine Antwort lautete: "... es ist in Grass eine Fantasie am Werk, die vor nichts haltmacht, die an das Dunkelste rührt und immer wieder, fast zwanghaft, in eine Sphäre des infantilen Aufruhrs zurückkehrt... Ich vermute, dass sein Geheimnis in dem prekären und einzigartigen Gleichgewicht liegt, das er zwischen seiner anarchischen Einbildungskraft und seinem überlegenen Kunstverstand herzustellen vermocht hat. Auf der einen Seite von Finsternis, auf der andern von Manier bedroht, arbeitet er ohne Netz auf dem Hochseil mit einer Sicherheit, die nicht Entrüstung, die Bewunderung verdient."

Die Sätze, 1959 geschrieben, nehmen die Begründung vorweg, mit der vierzig Jahre später der Nobelpreis für Literatur, der letzte des Jahrhunderts, an Grass verliehen wurde: "Der Spatenstich des Günter Grass in die Vergangenheit gräbt tiefer als der der meisten, und er findet, wie die Wurzeln des Guten und Bösen miteinander verschlungen liegen." (Der Satz ist auch ein Schlüssel für das späte autobiografische Buch 'Beim Häuten der Zwiebel', dem das Unglück widerfuhr, kaum literarisch wahrgenommen, vielmehr auf die Tatsache verkürzt zu werden, dass der Autor ein Faktum seines jugendlichen Lebens, einige Monate der Zugehörigkeit zur Waffen-SS, lange, vielleicht zu lange beschwiegen hatte.)

Man muss daran erinnern, dass die westdeutsche Literatur in den fünfziger Jahren von zwei gleich starken, aber gegenläufigen Impulsen bestimmt war: der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit - Zweitem Weltkrieg und Drittem Reich - auf der einen Seite, auf der anderen mit dem Versuch, an die literarischen Techniken der Moderne anzuknüpfen, an Vorbilder wie Faulkner, Joyce, Proust und Dos Passos. Günter Grass, der nicht zufällig aus der Schule Alfred Döblins kam, griff beide Impulse auf, ohne sie als Gegensätze zu begreifen: Er war vom ersten Auftreten an ein moderner Autor, der die formalen Standards beherrschte, aber mit einem Sprung eroberte er sich die Wirklichkeit, ohne wie so viele Künstler seiner Generation, voran die Maler und die Musiker, ins Gegenstandslose, Abstrakte und rein Konstruktive auszuweichen. Das gab seinen Büchern ihre innovative Kraft, die ausstrahlte auch in sein späteres Werk, in die märchenhaft-tiefsinnige Epik des 'Butt', das apokalyptische Pandämonium der 'Rättin', die Fabulierkunst und virtuose Mimikry des 'Treffens in Telgte'. Und noch der vielgescholtene Fontane- und Einheitsroman 'Ein weites Feld' ist in aller konstruktiven Überladenheit und schiefen Grundanlage über weite Strecken ein Zeugnis erzählerisch souveräner Epochentransgression.

Der Roman enthält eine Kritik am deutschen Einigungsprozess. Kritisiert wurde nicht dessen Ziel, die Einheit, vielmehr der Modus, wodurch sie zustande kam. Das trug Grass prompt den Vorwurf ein, es fehle ihm am rechten patriotischen Feuer. Er muss diesen Vorwurf als sonderbar empfunden haben, denn er war ja der Dichter der Einheit, längst bevor sie geschichtlich real wurde; er war es nirgends mehr als in der Erzählung vom 'Treffen in Telgte'. Ihre Intention war es, in der Kultur und Literatur, im einigenden Band der Sprache, die fehlende nationale Einheit zu beschwören: Die unverlierbare Einheit der Kulturnation. Wurde hier nicht ein Leitmotiv deutscher Geschichte angeschlagen, gültig für die Dichter der Klassik ("Deutschland, aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden" heißt ein berühmtes Epigramm von Schiller) wie für die Autoren der Gruppe 47, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einem geteilten Land wiederfanden? Im 'Treffen in Telgte' sind es die barocken Poeten, die den Frieden nach langem Krieg und die kulturelle Einheit des Vaterlandes erhoffen und mit Manifesten beschwören: "Schließlich war man wer. Wo alles wüst lag, glänzten einzig die Wörter. Und wo sich die Fürsten erniedrigt hatten, fiel den Dichtern Ansehen zu. Ihnen, und nicht den Mächtigen, war Unsterblichkeit sicher." So sinniert Simon Dach nachts in seinem Bett. Alles Licht in der Erzählung fällt auf die Poeten, auch wenn sie keinen langen Schatten werfen und ihnen am Ende in ihrer realen Ohnmacht heimgeleuchtet wird.

Doch wäre es verfehlt, bei Grass den Akzent auf den politischen Menschen zu setzen: In einem tieferen künstlerischen Sinn entzieht er sich der politischen Zuordnung. Die Verwandlungen und Metamorphosen, die sich in seinen Büchern vollziehen, sind Ausdruck einer Weltsicht, die das rein Politische, Gesellschaftliche ebenso umgreift wie überschreitet. Grass springt durch Mythen und Legenden, Geschichte und Geografie, oft vermittels des uralten Kunstgriffs, das irdische Treiben aus der Perspektive einer anderen Spezies, nämlich aus der Sicht von Tieren, zu betrachten. Seine Bücher enthalten eine erstaunliche Menagerie, die sich mit berühmten Fabeldichtern von Äsop bis La Fontaine messen kann. Da sind Katz und Maus aus der frühen Danziger Novelle, Unke und Schnecke, Butt und Rättin, Mehlwürmer und Windhühner. Aber die Tiere sind, anders als bei den Fabeldichtern, weder symbolisch, noch allegorisch, noch emblematisch zu verstehen. Sie sind ganz einfach Tiere, Erscheinungen des lebendigen Lebens. Ihr Geschlecht ist nicht nebensächlich: darum ist es, im Roman einer Endzeit, keine Ratte, sondern eine Rättin. Noch das Steckenpferd, das Günter Grass in einem Aufsatz über Literatur und Revolution bereits im Titel zitiert, ist ein "schnaubendes" Steckenpferd, mithin lebendig.

Zum Leben gehören seine gemeinhin verpönten Erscheinungsformen, einschließlich der Ausscheidungen. Die pferdekopffressenden Aale der 'Blechtrommel', der Wettbewerb onanierender Danziger Jungen in 'Katz und Maus', die Vorliebe für kulinarische Innereien, für Gekröse und Ähnliches, in so vielen Büchern von Günter Grass: All das hat Abwehrreflexe erzeugt, weil damit an einen Teil der menschlichen Natur gerührt wird, der leicht dem Tabu verfällt. Auch die Erzählung vom 'Treffen in Telgte' spart die drastischen und abstoßenden Erscheinungsformen des Lebens nicht aus: die aufgedunsen in der Ems treibenden Leichen, die rohe Gewalt der Landsknechte, das blutige Handwerk des Fouragierens; daneben, weniger gewalttätig, die animalische Sinnlichkeit, die triebhafte Sexualität, die Gier nach Genuss. Dichter und Mägde liegen verschlungen in nächtlichem Gliederspiel, bezwungen von der Kraft des Vollmondes - der Erzähler sieht es mit Gleichmut an. So steht bei Günter Grass das Schöne neben dem sogenannten Hässlichen, das Anmutige neben dem scheinbar Widerwärtigen, das Anziehende neben dem angeblich Ekelhaften. Aber Leben ist's immer! Günter Grass weigert sich einfach, das Leben, das natürliche, lebendige Leben, einer Norm zu unterwerfen, sein Lebensrecht in Frage zu stellen. So sind seine Bücher auch immer Feste des Lebens. Es ließe sich in diesem Zusammenhang Goethe zitieren: "Man tut nicht wohl, sich allzulange im Abstrakten aufzuhalten... Leben wird am besten durchs Lebendige belehrt."

Nun wird Günter Grass 80 Jahre alt. Wir gratulieren.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2007, S. 62-65
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2007