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PROJEKT/171: Bolivien - Straßenkinder helfen sich auf die Beine


die zeitung - terre des hommes, 1. Quartal 2007

Mädchen mit Mut
Bolivien: Straßenkinder helfen sich auf die Beine

Von Peter Strack


"Anita hat es geschafft", hieß es Mitte der 90er Jahre in einer Reportage aus dem Oqhariquna-Projekt. Dort hatte das Straßenmädchen aus der bolivianischen Hauptstadt La Paz Zuflucht gefunden, psychologische und medizinische Betreuung bekommen, sowie eine Automechankerausbildung absolviert. Anita ist eine von gut 800 Mädchen und jungen Frauen, denen das Projekt in den 19 Jahren seines Bestehens geholfen hat, von der Straße wegzukommen.

Dabei sind die Aussichten auf Rückkehr in ein halbwegs erträgliches Leben unter würdigen Bedingungen für Straßenkinder schlecht. Hirnschäden durch Drogenkonsum, vermindertes Sehvermögen, fehlende oder geringe Schulbildung und vor allem die seelischen Verletzungen. Sie sind schon für Menschen aus wohlhabendem Milieu nur schwer zu überwinden. Oqhariquna aber heißt auf Deutsch: "Wir stehen gemeinsam auf".


Sexueller Missbrauch als Auslöser Projekte für Straßenkinder unterstützt terre des hommes schon seit 35 Jahren, zuerst in Kolumbien. Im ärmeren Bolivien sah man aber erst zehn Jahre später mehr Kinder auf der Straße. Die Gründe sind vielfältig. Diktatoren der 70er Jahre hatten einer Minderheit in die Taschen gewirtschaftet. Staatsschulden und sinkende Weltmarktpreise für Mineralien in den 80er und 90er Jahren verschärften Konkurrenzdruck, Arbeitslosigkeit und Sozialabbau. Nachbarschaftshilfe und Familienzusammenhalt wurden geschwächt. So wurde aus Armut Elend. Auslöser dafür, dass Mädchen ab zwölf Jahren auf die Straße gehen, sind jedoch Gewalterfahrungen in der Familie. Bei 80 Prozent der Straßenmädchen aus dem Oqhariquna-Projekt war dies sexueller Missbrauch. Um die Familie zu verlassen, bedürfe es jedoch einer gehörigen Portion Mut, weiß die Psychologin Susana Ayllón, die die Arbeit seit vielen Jahren leitet.

Vor allem an solchen Stärken, wie auch an der Kreativität, der Solidarität und dem Humor der Mädchen setzt dann auch die Projektpädagogik an. "Immer haben wir die Mädchen ernst genommen, immer hatten wir ein offenes Ohr", sagt Ayllón. Nur 20 Prozent der Mädchen schaffen den direkten Weg von der Straße zurück in ihre Familien, in ein Heim oder ein eigenständiges Leben. Die meisten durchlaufen das mehrjährig und mehrstufig angelegte Programm in den Wohngruppen. Dort bestimmen sie nicht nur über den Alltag im Projekt und pädagogische Entscheidungen mit. Sie wählen auch ihre eigene Vertretung für das Aufsichtsgremium der Institution. Die Beteiligung ist ein praktischer Beitrag zur Umsetzung der Rechte der Mädchen und gleichzeitig Teil der Therapie.

So konnte die Betreuungsdauer für die insgesamt 1.260 begleiteten Mädchen von anfangs fünf bis sieben Jahre auf heute durchschnittlich zwei bis drei Jahre reduziert werden.


Frühere Straßenkinder helfen kommenden Generationen

Von Rechtsbewusstsein und seelischer Stabilität allein kann ein eigenständiges Leben jedoch nicht bestritten werden. Und eine Anstellung finden ehemalige Straßenkinder schwer. In einem neuen Projekt werden deshalb künstlerische und Handwerksbetriebe aufgebaut. Ein Plastikrecyclingunternehmen soll darüber hinaus nicht nur Einkommen für arbeitende und Straßenkinder schaffen, sondern künftig auch einen Teil der Sozialarbeit der Institution finanzieren. So werden die Kinder und Jugendlichen selbst zu Helfern für die kommenden Generationen.

"Was wir gemeinsam erträumt haben, ist heute voller Schwung" haben die Fachkräfte und Straßenmädchen ihr Buch über das gemeinsam entwickelte pädagogische Modell genannt. Es drückt die Kraft aus, die sich Menschen wie Susana Ayllón trotz der extrem belastenden Arbeit bewahrt haben, und es drückt das Selbstbewusstsein aus, das junge Frauen wie Anita im Projekt zurückgewonnen haben. Als Automechanikerin fand sie in dem "Männerberuf" zwar keine Anstellung. Und die Gründung einer eigenen Werkstatt mit ihren Ersparnissen scheiterte, als ihr damaliger Lebensgefährte die junge Familie bei einem Autounfall erneut in Schulden stürzte. Doch Anita hat sich wieder einmal aufgerappelt. Heute arbeitet sie als Händlerin auf einem Markt von La Paz, unterstützt Geschwister und Nichten und ist aktiv in einer Frauenorganisation. Ihre Töchter sind inzwischen selbst 15 und 13 Jahre alt. Dank ihrer Schulerfolge können sie auf ein Universitätsstudium hoffen.


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Quelle:
die zeitung, 1. Quartal 2007, Seite 7
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2007