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HINTERGRUND/134: Wie Rechte von Kindern und Jugendlichen verletzt werden


die zeitung - terre des hommes, 4. Quartal 2007

Kinder der Gewalt
Wie Rechte von Kindern und Jugendlichen verletzt werden

Von Athanasios Melissis


Tag für Tag sind Kinder auf der ganzen Welt Gewalt ausgesetzt. Sie werden als Soldaten an die Front geschickt und müssen einen Krieg führen, den sie nicht verstehen. Mit ihren Familien werden sie aus ihren Dörfern vertrieben und müssen ihre Kindheit in einem Flüchtlingscamp oder Großstadtslum verbringen. Sie werden als Straßenkinder von der Gesellschaft ausgestoßen. Ohne Perspektive auf Bildung oder eine auskömmliche Arbeit schließen sich viele von ihnen Banden an, manche werden kriminell. Sie werden von der Polizei drangsaliert oder von Todesschwadronen ermordet.

Die Umstände, in denen Kinder Gewalt ausgesetzt sind, können sehr unterschiedlich sein. Eines haben sie jedoch in aller Regel gemeinsam: Sie sind von Erwachsenen herbeigeführt. Kinder werden Opfer von Strukturen, die sie nicht verschuldet haben.

terre des hommes sieht sich in seiner Arbeit mit allen Formen von Gewalt gegen Kinder konfrontiert. Die Ansätze der Unterstützung für die Kinder sind deshalb vielfältig: Kindergärten in Flüchtlingscamps oder Beratung für Vertriebene leisten direkte Hilfe, die die Not der Menschen lindert. Ein anderes Ziel der terre des hommes-Projekte ist, Kinder in die Lage zu versetzen, die sie umgebenden Strukturen aufzubrechen, sie zu ermutigen und zu stärken, die Opferrolle abzulegen und ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.


Vertriebene und Flüchtlinge: Kinder auf der Flucht

"Eines Tages kamen die Paramilitärs in unser Dorf. Erst befahlen sie uns, abends in unseren Häusern zu bleiben. Dann fingen sie an, Menschen einfach so umzubringen." Cristina lebt in einem Vorort der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Mit ihrer Familie floh die 13-Jährige vor dem Krieg, der in ihrer Region zwischen Regierungstruppen, der Guerilla und rechtsgerichteten Paramilitärs tobte. "Sie verboten uns auch zu fischen", erzählt das Mädchen. "Um uns zu ernähren, ging mein Vater dennoch heimlich zum Fluss. Er wurde erwischt, und die Paramilitärs drohten, uns alle zu ermorden. Mein Vater kam nach Hause, sagte, dass wir verschwinden müssten. Wir haben schnell ein paar Sachen zusammengepackt und sind sofort nach Bogotá geflohen."

Wenn Flüchtlinge - wie im Falle Cristinas und ihrer Familie - innerhalb der Staatsgrenzen ihres Landes bleiben, werden sie als "intern Vertriebene" definiert. Erst wenn jemand über eine internationale Grenze flieht, wird er offiziell zum "Flüchtling". In der Regel sind es bewaffnete Konflikte, bei denen die Menschen aus ihren Dörfern fliehen oder vertrieben werden. Auf der Flucht sind besonders Kinder großen Gefahren wie Unterernährung und Krankheiten ausgesetzt, aber auch Angriffen bewaffneter Gruppen. Häufig werden Mädchen sexuell missbraucht. Doch während es für Flüchtlinge, die eine internationale Grenze überschritten haben, mit dem UNHCR eine eigene UN-Organisation gibt, die sich um sie kümmert, ist die Versorgungssituation für intern Vertriebene oft katastrophal: Sie sind oftmals völlig auf sich allein gestellte. Am Ende der Flucht steht häufig das Elendsviertel einer Großstadt. Hier können Kinder wieder in den Strudel der Gewalt geraten: Studien belegen, dass vertriebene Kinder besonders gefährdet sind, von den Kriegsparteien zwangsrekrutiert zu werden.


Kindersoldaten: Opfer und Täter

Etwa 250.000 bis 300.000 Kinder und Jugendliche werden weltweit als Soldaten eingesetzt. Kindersoldaten werden von Erwachsenen mit Drogen, durch die Androhung körperlicher Gewalt oder durch Gehirnwäsche zu Tätern gedrillt. Kindersoldaten sind für die Kriegsherren besonders attraktiv. Sie bekommen wenig oder keinen Sold, verbrauchen wenig Proviant und sind gefügig. Oft werden jüngere Soldaten von den Vorgesetzten als "weniger wertvoll" angesehen und in besonders gefährlichen Einsätzen regelrecht verheizt. Sie werden durch Minenfelder getrieben oder zur Spionage eingesetzt. Entsprechend hoch ist das Risiko, verletzt oder getötet zu werden. Besonders Mädchen, die in den Einheiten dienen, werden sexuell missbraucht.

Kinder als Soldaten zu rekrutieren ist eine der schlimmsten Formen der Kindesmisshandlung. Die Rekrutierung von Unter-15-Jährigen wird deshalb als Kriegsverbrechen verfolgt. Doch auch die wenigen, denen es gelingt, aus dem Krisengebiet in ein sicheres Land zu fliehen, können sich nicht in Sicherheit wiegen. In Deutschland müssen ehemalige Kindersoldaten ein in keiner Weise kindgerechtes Asylverfahren durchlaufen, bei dem auf ihre starken Traumata und Sprachschwierigkeiten keine Rücksicht genommen wird. Fluchtgründe wie die Rekrutierung als Minderjähriger oder die Ermordung der Eltern werden nicht als asylrelevant anerkannt, sie erhalten meist nur eine Duldung. Die Gewaltspirale kann darin münden, dass Deutschland ehemalige Kindersoldaten als nicht anerkannte Asylbewerber gewaltsam wieder in das Herkunftsland abschiebt.


Straßenkinder: Ausgestoßen und verfolgt

Sie betteln, putzen Schuhe oder verkaufen Süßigkeiten - schätzungsweise 30 Millionen Straßenkinder gibt es weltweit. Die Gründe, warum ein Kind oder ein Jugendlicher seinen Lebensmittelpunkt auf der Straße hat, sind sehr unterschiedlich. In vielen Fällen erscheint dem Kind ein Leben auf der Straße als die bessere Alternative, statt bei seiner Familie oder in einem Heim zu bleiben. Erfahrungen mit Gewalt sind für diese Entscheidung fast immer ausschlaggebend. Das kann körperliche Gewalt sein, die ein Kind am eigenen Leib erfahren hat und der es durch eine Flucht von zu Hause entkommen kann, wie die Prügel der Eltern oder die Vergewaltigung durch den Stiefvater. Andere Kinder landen auf der Straße, weil sie ihre Eltern verloren haben: in Bürgerkriegen, oder - vor allem in Afrika - durch AIDS.

Doch der Gewalt entkommen sie in der Regel nicht. Auf der Straße einer Großstadt zu leben bedeutet, kein Rückzugsgebiet, keinen geschützten Raum zu haben. Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen wie Schlafplätze oder Nahrung sind an der Tagesordnung. Auch die Polizei ist Verursacher von Gewalt: Als potentielle Diebe und Drogendealer werden Straßenkinder geschlagen oder eingesperrt. Sie werden zusammengetrieben und in den Vorstädten ausgesetzt, um das Stadtbild nicht mehr zu verschandeln. In Ländern wie Angola, Kolumbien oder den Philippinen kommt es immer wieder vor, dass Straßenkinder ins Visier von Todesschwadronen geraten. Dies sind Mörderbanden, die beispielsweise im Auftrag lokaler Geschäftsleute und oft mit Billigung der Stadtverwaltung so genannte "soziale Säuberungen" durchführen, indem sie Straßenkinder ermorden.


Jugendliche in Banden: Das Erbe des Krieges

Das Phänomen, dass Kinder und Jugendliche kriminellen Banden beitreten, ist ebenso in Brasilien verbreitet wie in Südafrika, Bolivien oder Mittelamerika. Oft sehen die Kinder und Jugendlichen dies als einzige Möglichkeit, zu überleben: Die Bande versorgt ihre Mitglieder mit materiellem Auskommen, bietet ihnen Schutz und dient als Ersatzfamilie. In Mittelamerika haben sich diese Banden zu einem massiven Problem entwickelt. Es wird geschätzt, dass in El Salvador, Guatemala, Honduras und Mexiko bis zu 200.000 Jugendliche Banden, den so genannten "Maras", angehören. Das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt bei 19 Jahren, wobei die Anführer oft über 30 sind.

Diese Entwicklung wird durch mehrere Faktoren begünstigt: In El Salvador und Guatemala haben sich die langen Bürgerkriege tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben. Gewalt als Mittel, um die eigenen Interessen durchzusetzen, wird von weiten Teilen der Gesellschaft eher als Norm akzeptiert denn als Ausnahme betrachtet. Schusswaffen aus den Bürgerkriegen sind auch heute noch praktisch an jeder Straßenecke zu bekommen. Die Regierungen haben es versäumt, der Jugend eine lobenswerte Perspektive im eigenen Land zu bieten. Die Maras sind ein Ergebnis dieses gesellschaftspolitischen Versagens. Gleichzeitig müssen sie als Sündenbock für das Unvermögen der Regierung herhalten, soziale Fragen zu lösen. Die Antwort der Regierungen auf das Mara-Problem lautet "Mano dura", "harte Hand": Auf Gewalt der Banden reagiert der Staat mit extremer Gegengewalt. Dazu gehört eine repressive Jugendgesetzgebung, in der Rehabilitation und Resozialisierung praktisch nicht vorkommen. Und doch werden die Maras bei jeder sich bietenden Gelegenheit instrumentalisiert: Beispielsweise war in El Salvador in den letzten Jahren vor Wahlen regelmäßig eine Zunahme von Morden zu verzeichnen. Diese wurden ohne Beweise den Maras in die Schuhe geschoben, um so die Stimmung zu Gunsten des Wahlprogrammes der rechtskonservativen Regierungspartei zu beeinflussen.


Gewalt gegen Kinder

250.000 bis 300.000 Jungen und Mädchen werden weltweit als Soldaten eingesetzt.
Schätzungsweise 5,7 Millionen Kinder weltweit arbeiten in Schuldknechtschaft. 22.000 Kinder sterben jährlich durch Arbeitsunfälle.
35 Millionen Menschen weltweit sind auf der Flucht vor Krieg und Menschenrechtsverletzungen. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder.
In mehr als 100 Staaten ist Prügelstrafe in der Schule legal.
Etwa eine Million Mädchen und Jungen werden jährlich Opfer von Kinderhandel. Viele landen in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen oder in der Prostitution.
Schätzungsweise 150 Millionen Mädchen und 73 Millionen Jungen unter 18 Jahren haben sexuelle Gewalt erlitten.
Etwa 30 Millionen Jungen und Mädchen haben ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße. Viele von ihnen sind täglich Gewalt ausgesetzt.

Quellen: UN, ILO, terre des hommes


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Quelle:
die zeitung, 4. Quartal 2007, S. 4
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2008