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HINTERGRUND/126: terre des hommes im Zeitalter der Globalisierung


die zeitung - terre des hommes, 1. Quartal 2007

Zwischen Wirtschaftsboom und Globalisierung

terre des hommes im Zeitalter der Globalisierung


Der Globalisierungsprozess verändert unsere Welt in rasendem Tempo. Viele Wirtschaftsexperten sehen in dieser Entwicklung eine Chance, die Armut zu überwinden. Als Musterbeispiele gelten die aufstrebenden Wirtschaftsnationen Indien und China mit ihren hohen Wachstumsraten. Doch es gibt auch Stimmen, die diesen Optimismus nicht teilen. Über die Schattenseiten der Globalisierung und die Konsequenzen für die Arbeit eines entwicklungspolitischen Kinderhilfswerkes sprachen wir mit George Chira, Leiter des terre des hommes-Büros in Indien.


terre des hommes: Die Globalisierung hat viele Gesichter: Erschließung neuer Märkte, Investitionen auch in entfernten Regionen der Welt, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen sowie ein wachsender Konkurrenzkampf zwischen den Nationen und Produktionsstandorten. Was bedeuten diese Entwicklungen für ein Land wie Indien?

George Chira: Die Entwicklung führt zum Verfall traditioneller Industrien und viele bäuerliche Existenzen werden zerstört. Durch die Streichung staatlicher Unterstützungen erhöht sich der Konkurrenzkampf unter den Bauern. So verloren in Indien in den vergangenen zehn Jahren mehr als 100.000 Bauernfamilien ihre Lebensgrundlage. Durch diese Form der Existenzvernichtung, oft verbunden mit der Vertreibung der Familien von ihren Höfen, stieg in der Folge die Zahl der arbeitenden Kinder im Dienstleistungssektor. Die Privatisierungen in Bereichen von Bildung, Gesundheit oder Wasserversorgung sowie die Streichungen staatlicher Hilfen führten zum Ausschluss der Armen von vielen Dienstleistungen.

terre des hommes: Es wird aber immer wieder betont, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis auch die Armen vom neuen Reichtum profitieren würden. Die Unterstützer der Globalisierung argumentieren, dass die notwendigen wirtschaftlichen Reformen durch die Gegner verzögert worden seien. Sie plädieren deshalb für weitere Privatisierungen im sozialen Bereich. Während das indische Wirtschaftswunder, das zweistellige Wachstumsraten aufweist, in der ganzen Welt bejubelt wird, wird das Gesamtbild der wachsenden Ungleichheit einfach ignoriert. Nach offiziellen Berichten lebten früher 40 Prozent der Menschen in Indien unter der Armutsgrenze. Die Zahl sank später auf 36 Prozent. Heute leben von den circa 1,2 Milliarden Menschen in Indien etwa 26 bis 27 Prozent unterhalb dieser Grenze. Vergleicht man den Rückgang über größere Zeiträume, dann kann man feststellen, dass die Erfolge bei der Bekämpfung der Armut geringer werden. In den letzten zehn Jahren, in der Indien diese gigantischen Wachstumsraten hat, ging die Zahl der in Armut lebenden Menschen nur noch um 0,74 Prozent zurück, während das Bruttoinlandsprodukt im gleichen Zeitraum um etwa sechs Prozent stieg.

terre des hommes: Ist das nur ein indisches Problem?

George Chira: Nein. Die Situation ist in anderen Teilen der Welt ähnlich. Die Kluft zwischen Reich und Arm wächst innerhalb der Staaten, ebenso auch zwischen Staaten und Kontinenten. So sind beispielsweise die Menschen in Norwegen 40 Mal reicher als die Menschen in Niger; sie leben doppelt so lange und haben Zugang zu einem flächendeckenden Bildungssystemen; in Niger sind es nur 21 Prozent, die Zugang zu Bildung haben.

Die Verteidiger der Globalisierungspolitik sprechen gern von der Welt als "globalem Dorf" mit engmaschigem Verknüpfungen. Betrachtet man die Welt aber aus dem Blickwinkel des UN-Berichtes zur menschlichen Entwicklung (*), dann ist die Welt ein grobmaschiges Netz.

terre des hommes: Mit anderen Worten: Die Globalisierung hat nicht zur Angleichung der Lebensverhältnisse geführt?

George Chira: Genau!

terre des hommes: Im Rahmen der Welthandelsabkommen spielt das Thema Entbürokratisierung eine große Rolle. Kann die Privatisierung öffentlicher Aufgaben, zum Beispiel im Bildungsbereich, nicht auch helfen, die Bildungsangebote für Kinder zu verbessern?

George Chira: Auf der einen Seite wird viel dafür getan, die Bildungsangebote den internationalen Vereinbarungen anzupassen und für den globalen Wettbewerb zu öffnen. Dennoch liegt die Einschulungsrate für Kinder in mindestens 37 Staaten der Erde weiter bei weniger als 40 Prozent. Und noch immer sind die Bildungschancen von Jungen und Mädchen ungleich verteilt.

terre des hommes: Die Kritik an der ungleichen Einkommensverteilung wird lauter. Doch gibt es überhaupt eine Alternative zum Weg der Globalisierung?

George Chira: Die Herausforderungen liegen darin, eine größere Gerechtigkeit bei der Verteilung des Welteinkommens zu erreichen. Nur eine sozial ausgewogene Welt kann die Kinderrechte auch global garantieren. Dies erfordert eine durchdachte Kritik an der neoliberalen Wirtschaftspolitik und umfassendere und breit angelegte Wachstumsstrategien.

terre des hommes: terre des hommes setzt sich für Not leidende Kinder ein. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ist dabei von entscheidender Bedeutung. Doch welche Konsequenzen hat die Globalisierung für die zukünftige Arbeit von terre des hommes?

George Chira: terre des hommes muss die Kritik an der Globalisierung aufnehmen und sich mit denen verbunden, die nach alternativen Strategien suchen. Dazu zählen die sozialen Bewegungen, Frauengruppen, Jugendliche und all die, die Alternativen zur neoliberalen Wirtschaftspolitik formulieren. Das betrifft die Themen Bildung, Gesundheit und Landwirtschaft. Und es geht um die Beteiligung an politischen Entscheidungen, Demokratie, kooperative Produktionsformen und auch unabhängige Medien. Die Herausforderung für terre des hommes besteht darin, einen Platz unter denjenigen einzunehmen, die nach alternativen Wegen hin zu einer besseren Welt suchen. terre des hommes muss die unterstützen, die sich - gemeinsam mit den Kindern - für eine Welt ohne Benachteiligung und gegen neue Formen der Armut engagieren. terre des hommes muss sich aktiv in den Kampf für eine gerechte Welt, für Frieden und die Würde aller einbringen. Dies wird dann eine Beteiligung der Kinder im wahrsten Sinne des Wortes bedeuten.

Interview: Michael Heuer

Anmerkung:
Der "Bericht zur menschlichen Entwicklung" (Human Development Report) des UN-Entwicklungsprogramms untersucht alljährlich die soziale Reichtumsverteilung in der Welt. Der darin enthaltene Human Development Index bewertet alle Länder nach Kriterien wie Bildungschancen, Lebenserwartung und durchschnittlichem Pro-Kopf-Einkommen.


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Quelle:
die zeitung, 1. Quartal 2007, Seite 5
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
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Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2007