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MELDUNG/107: "Weltweiter Tag der Genitalen Selbstbestimmung" am 7. Mai 2016


Terre des Femmes - Pressemitteilung vom 4. Mai 2016

Vierter Jahrestag des Kölner "Beschneidungs"-Urteils:

40 Organisationen feiern weltweit am 7. Mai den "Worldwide Day of Genital Autonomy"


Köln/BERLIN, 04.05.2016. Zum vierten Jahrestag der Verkündung des sogenannten "Kölner Urteils" fordern inzwischen 40 Organisationen aus zehn Ländern und fünf Kontinenten die Durchsetzung der Rechte aller Kinder weltweit auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung.

Am 07.05. 2012 verkündete das Kölner Landgericht ein richtungsweisendes Urteil, das erstmals eine medizinisch nicht indizierte Vorhautentfernung ("Beschneidung") eines Jungen nach geltendem Recht als strafbare Körperverletzung bewertete. Aus diesem Anlass rufen am 7. Mai 40 Kinder-, Menschen- und Frauenrechtsorganisationen und Ärzteverbände zum vierten "Worldwide Day of Genital Autonomy" auf. Neben der zentralen Kundgebung in Köln sind Veranstaltungen in New York, San Francisco, Palm Springs, Sydney und London angekündigt.

Die teilnehmenden Organisationen, darunter der Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V., der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte - BVKJ, TERRE DES FEMMES - Menschenrechte für die Frau e.V., pro familia NRW und intaktiv e.V., fordern den Schutz aller Kinder weltweit vor jeglicher Verletzung ihrer körperlichen und sexuellen Integrität unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion und Tradition. Dazu gehöre die Rücknahme der gesetzlichen Erlaubnis für nicht-therapeutische Vorhautentfernungen ("Beschneidungen") an Jungen. Sie begründen dies u.a. mit der UN-Kinderrechtskonvention: Art. 2. (Schutz vor Diskriminierung), Art. 3 (Vorrang des Kindeswohls) und 24 Abs. 3 (Abschaffung schädlicher Bräuche) seien für alle Kinder weltweit zu gewährleisten.

Weiter fordern die UnterstützerInnen des Aufrufes einen nationalen Aktionsplan zum systematischen und koordinierten Schutz von Mädchen, die von Genitalverstümmelungen bedroht sind.

Auch Kinder mit atypischen körperlichen Geschlechtsmerkmalen seien vor medizinisch nicht notwendigen Genitaloperationen und weiteren Eingriffen zu schützen.

Für Redebeträge auf der Kundgebung auf dem Kölner Wallrafplatz sind am 7. Mai ab 11:30 Uhr VertreterInnen der Organisationen angekündigt.

Önder Özgeday, Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V., bezeichnet den Jahrestag als einen Feiertag für unteilbare Kinder- und Menschenrechte: "Das Kölner Urteil hat 2012 klar gestellt, dass Jungen der gleiche umfassende Schutz zusteht wie Mädchen. Was für ein wichtiges Signal für uns negativ Betroffene! Endlich entstand eine gesellschaftliche Diskussion, in der wir aber noch immer oft überhört werden. Kinder dürfen nicht mehr mit Übergriffen in ihre Intimsphäre, ihren Ängsten, Schmerzen, ihrem lebenslang veränderten sexuellen Erleben, und manchmal sogar mit dem Leben dafür bezahlen müssen, dass sich Erwachsene einer schwierigen gesellschaftlichen Debatte entziehen. Kinder gehören geschützt. Jedes Kind, und zwar überall auf der Welt, über alle nationalen und kulturellen Grenzen hinweg. Dafür feiern wir heute mit vielen Freundinnen und Freunden in zahlreichen Ländern."

Für TERRE DES FEMMES - Menschenrechte für die Frau e.V. sagt Idah Nabateregga, Referentin Referat "Weibliche Genitalverstümmelung": "TERRE DES FEMMES geht es als Menschenrechtsorganisation grundsätzlich um die körperliche Unversehrtheit von Kindern als Menschenrecht, das für alle Kinder gleichermaßen gilt, egal welcher Herkunft, Religion und welchen Geschlechts sie sind. Irreversible Eingriffe in die Unversehrtheit von Kindern - mit Ausnahme medizinisch notwendiger Behandlungen - dürfen weder mit Religion noch Tradition gerechtfertigt werden. Menschenrechte sind nicht teilbar - auch nicht zwischen Mädchen, Jungen und intersexuellen Kindern."

Der BVKJ - Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte ist mit Dr. Christoph Kupferschmid in Köln vertreten: "Die männliche Vorhaut ist ein Organ mit mehreren physiologischen Funktionen. Ihre Entfernung hinterlässt daher einen bleibenden Schaden. Medizinische Beschneidungen bedürfen aus diesem Grunde wichtiger rechtfertigender Gründe. In Deutschland werden viel mehr Beschneidungen aus medizinischen Indikationen vorgenommen, als nach dem Stand der Wissenschaft zu erwarten wäre. Dies offenbart zumindest Mängel in der Ausbildung und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten. Neuen Bestrebungen amerikanischer "Medizinethiker", weniger umfangreiche Formen von Mädchenbeschneidungen zu legalisieren, müssen wir als Ärzte entschieden entgegen treten. Bei religiösen Beschneidungen der Knaben opfert der Betroffene Körperfunktionen seinem Gott und seiner religiösen Gemeinschaft. Aus meiner Sicht kann ein solches Opfer nur von einem ausreichend reifen und einwilligungsfähigen Menschen gebracht werden."

Zur Situation von Kindern, die mit nichteindeutigen oder atypischen Genitalien zur Welt kommen, nimmt der Biologe Simon Zobel Stellung: "Angeborene körpergeschlechtliche Variationen betreffen jede 500. Person in der Allgemeinbevölkerung. Genitalnormierende kosmetische Eingriffe geschehen im nicht-einwilligungsfähigen Alter zum vermeintlichen Zweck der besseren sozialen Integration, die überdies nicht garantiert werden kann. Operative Eingriffe sind bis zur gesetzlichen Einwilligungsfähigkeit des Kindes - infor-med consent - ab dem 14. Lebensjahr, unter besonderen Umständen bis zum 12. Lebensjahr auszusetzen. Das macht ebenso viele körperbiologische Faktoren sowie die gesunde psychoemotionale Entwicklung betreffend Sinn. Nur das Kind selbst kann über sein Körpergeschlecht entscheiden."

Shemuel Garber, Jude, gebürtiger US-Amerikaner und Mitglied von "intaktiv e.V. - Eine Stimme für genitale Selbstbestimmung": "Viel von der Zurückhaltung der US-amerikanischen medizinischen Fachwelt, offen über Beschneidung zu sprechen, liegt in der Angst vor einem Vorwurf des Antisemitismus begründet. Als jüdischer Intaktivist kann ich mir kaum einen Vorwurf vorstellen, der verleumderischer wäre: Die Forderung nach gleichen Grundrechten für jede Person ist das Gegenteil von Bigotterie. Ich rufe die Rabbiner und muslimischen Geistlichen auf, ihren Gemeindemitgliedern genug Respekt entgegen zu bringen, um ihnen zu erlauben, informierte Entscheidungen zu treffen - anstatt zu versuchen, die Diskussion zu beenden, in dem Kritik an Beschneidung mit Hassreden gleichgesetzt wird."

Renate Bernhard, Mitglied von pro familia NRW sowie Journalistin und Filmemacherin u.a. zu Zwangsverheiratung und weiblicher Genitalverstümmelung: "Der Gleichheitsgrundsatz unseres Grundgesetzes bestimmt, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind, und niemand wegen seines Ge-schlechtes benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Es ist eine Benachteiligung von Jungen, wenn diese beschnitten werden dürfen, wohingegen Eingriffe an weiblichen Genitalien - nach jahrzehntelangen Kampagnen - nun endlich eindeutig als Körperverletzung wahrgenommen und strafrechtlich geahndet werden, betont pro familia NRW. Ich bin darüber hinaus der Meinung: die Jungenbeschneidung zu verharmlosen, befördert überholte Rollenzuordnungen, nach denen Frauen zu schützen und Männer keinen Schmerz zu kennen haben, dass also Verletzlichkeit ein Geschlechtsmerkmal sei, was es nicht ist! Wer Verletzlichkeit empfinden kann, wird auch sensibler für die Verletzlichkeit anderer. Ein wichtiger Aspekt, auch für die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt. Somit geht die Jungenbeschneidung uns Frauen viel mehr an, als die meisten glauben - unter anderem auch als betroffene Sexualpartnerinnen von Männern, denen durch die Beschneidung der enervierteste Teil ihres Geschlechtsorgans entfernt wurde."


Den Aufruf zum "Weltweiten Tag der Genitalen Selbstbestimmung" unterstützen:
  • Attorneys for the rights of the child (Kalifornien, USA)
  • Australasian Institute for Genital Autonomy - AIGA Inc. (Australien)
  • Bay Area Intactivists (USA)
  • beschneidungsforum.de - das Forum zum Thema Beschneidung (Deutschland)
  • Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte BVKJ (Deutschland)
  • Bundesweiter Arbeitskreis Säkulare Grüne (Deutschland)
  • Canadian Foreskin Awareness Project (Kanada)
  • Children's Health & Human Rights Partnership (Kanada)
  • Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin DAKJ (Deutschland)
  • Deutsches Kinderbulletin - jedem Kind eine Chance / Politische Kindermedizin (Deutschland)
  • Doctors Opposing Circumcison (D.O.C.) - Physicians for Genital Integrity (Seattle, USA)
  • Droit au corps (Frankreich)
  • Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V. - Eine Stimme für Betroffene (Deutschland)
  • Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse (Deutschland)
  • Genital Autonomy (Großbritannien)
  • giordano bruno stiftung - gbs (Deutschland)
  • (I)NTACT - Internationale Aktion gegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen e.V. (Deutschland)
  • IBKA - Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten (Deutschland)
  • Intact Africa (Afrika)
  • Intact Denmark (Dänemark)
  • Intact Kenya (Kenia)
  • Intact Switzerland (Schweiz)
  • intaktiv e.V. - eine Stimme für genitale Selbstbestimmung (Deutschland)
  • Just a snip" (Dänemark)
  • Men Do Complain (Großbritannien)
  • MOGiS e.V. - "Eine Stimme für Betroffene" (Deutschland)
  • NOCIRC - National Organization of Circumcision Resource Centers (USA)
  • NORM-UK / 15 Square (Großbritannien)
  • Partei der Humanisten (Deutschland)
  • Piratenpartei Deutschland (Deutschland)
  • pro familia Nordrhein-Westfalen (Deutschland)
  • Pro Kinderrechte CH (Schweiz)
  • Protect the Child (Israel)
  • Schwules Netzwerk NRW e.V. (Deutschland)
  • Sexpo (Finnland)
  • TABU e.V. - Verein zur Verhinderung der FGM, der weiblichen Genitalverstümmelung (Deutschland)
  • TERRE DES FEMMES - Menschenrechte für die Frau e.V. (Deutschland)
  • Verband medizinischer Fachberufe e.V. (Deutschland)
  • Your Whole Baby (USA)
  • Zentralrat der Ex-Muslime (Deutschland)

Veranstaltungshinweis:

Begleitend zum "Weltweiten Tag der Genitalen Selbstbestimmung" präsentieren MOGiS e.V. - Eine Stimme für Betroffene und pro familia NRW eine Reihe von Filmabenden mit Podiumdiskussion in Anwesenheit der FilmerInnen sowie Medizinern in München (5.5.), Düsseldorf (6.5.), Köln (7.5.) und Berlin (8.5.)

Programm:
  • Circumcision Dokumentation von Ari Libsker, Israel 2004, 21 Min.
  • Hibos Lied - Weibliche Genitalverstümmelung und die Macht der Tradition von Renate Bernhard und Sigrid Dethlof, Deutschland 2007, 55 Min.
  • Hermes und Aphrodite Zeichentrickkurzfilm von Gregor Zootsky, Deutschland 2013, 10 Min.

Moderation:
Helga Vollmer (5.5.), Angelika Bergmann-Kallwass (6./7.5.), Dr. Ute Sonntag (8.5.)

Details unter:
https://genitale-selbstbestimmung.de/filmabend/


TERRE DES FEMMES ist eine gemeinnützige Menschenrechtsorganisation für Mädchen und Frauen, die durch Aktionen, Öffentlichkeitsarbeit, persönliche Beratung, Förderung von Projekten und internationale Vernetzung von Gewalt betroffene Mädchen und Frauen unterstützt. TERRE DES FEMMES klärt auf, wo Mythen und Traditionen Frauen das Leben schwer machen, protestiert, wenn Rechte beschnitten werden und fordert eine lebenswerte Welt für alle Mädchen und Frauen - gleichberechtigt, selbstbestimmt und frei! Unsere Schwerpunktthemen sind Häusliche und sexualisierte Gewalt, Zwangsheirat und Ehrverbrechen, weibliche Genitalverstümmelung, Frauenhandel und Zwangsprostitution. Der Verein wurde 1981 gegründet und finanziert sich durch Spenden, Mitgliedsbeiträge und Zuschüsse. Die Bundesgeschäftsstelle befindet sich in Berlin.

Weitere Informationen unter:
www.frauenrechte.de

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Quelle:
Pressemitteilung vom 4. Mai 2016
Bundesgeschäftsstelle TERRE DES FEMMES e. V.
Brunnenstr. 128, 13355 Berlin
Telefon: 030 40504699-0, Fax: 030 40504699-99
E-Mail: info@frauenrechte.de
Internet: www.frauenrechte.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2016

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