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SERIE/038: Das Gefängnis-Tagebuch der Heide L. - Einleitung (SB)


Das Gefängnistagebuch der Heide L.

Einleitung der Schattenblick-Redaktion zur Fortsetzung der Serie


Am 6. Februar 2010 wird anläßlich der diesjährigen sogenannten "Sicherheitskonferenz", so der euphemistische Begriff der weltweit größten und seit 1962 alljährlich in der bayrischen Landeshauptstadt abgehaltenen Militär- und Kriegführungstagung, in München unter Beteiligung internationaler Aktivisten eine Großdemonstration stattfinden, zu der fast 90 Friedensinitiativen und Organisationen aufgerufen haben. Die Kriegsgegnerin Heide Luthardt hätte, wäre sie noch am Leben, mit hoher Sicherheit an dieser Anti-NATO-Demonstration wie auch weiteren Protestaktionen teilgenommen, wie sie es zuletzt bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 getan hatte. Die Schattenblick-Redaktion hat sich aus diesem aktuellen Anlaß entschlossen, die im Oktober 2008 begonnene Serie über "Die tödliche Kriminalisierung der Heide L." [1] mit der Veröffentlichung ihrer bis zu ihrer Selbsttötung am 21./22. Juni 2008 weitergeführten persönlichen Tagebuchaufzeichnungen fortzusetzen.

Wir erinnern uns: Frau L. hatte sich in München nicht nur als Teilnehmerin an Antikriegsdemonstrationen und Protestaktionen einen Namen gemacht. Die Aktivistin des politischen und persönlichen Widerstands war auffällig geworden durch den Versuch einer besonderen Provokation, hatte sie doch, um das Gefühl der Bedrohung zu publizieren, mit Absicht als solche zu erkennende Scheinbomben ausgelegt. Zu der Serie von elf in Nah- und Fernverkehrszügen deponierten Bombenattrappen sowie einer Vielzahl von an den verschiedensten Flächen angebrachten Graffiti sollte sie später selbst, wie dem ersten, von ihr selbst verfaßten Brief [2] zu entnehmen ist, ihre politischen Beweggründe folgendermaßen schildern:

Sieben von elf Bombenattrappen hatte ich sog. Bekennerschreiben beigefügt, die sich überwiegend mit dem deutschen Anteil an Angriffskriegen und Besetzungen seit 1999, besonders denen im Nahen Osten und den im Bezug auf Entführungen und Folterflügen überaus aktiven CIA-Basen in Frankfurt und Stuttgart befassten. In den meisten Graffiti ging es um Parallelen zwischen dem Nationalsozialismus und der heutigen Politik der Natostaaten und Israels.

"Botschaften des Hasses" nannten es die empörten Meinungsmacher von der "SZ" bis zur "Bild". Hass war es nicht, wohl aber Verzweiflung und Machtlosigkeit darüber, dass Deutschland, ein Land, das zwei Weltkriege vom Zaun brach, wieder mit einer atemberaubenden Selbstverständlichkeit in den Kriegen dieser Welt mitmarschiert und darüber, daß das von der Mehrheit der Bevölkerung - vielleicht zähneknirschend - hingenommen wird. Mehr als 80 Millionen Euro täglich gibt dieses Land für Krieg und Rüstung aus, ansonsten - nichts als Sparprogramme. Ich habe legal demonstriert - kein Interesse, ich habe legale Briefe an Regierungen und Militärs geschrieben - keine Antworten, und so beschloss ich, einmal etwas zu tun, bei dem sie hinschauen müssen.

Wahrscheinlich ist ihr dann, wie nicht selten in solchen Fällen, in naiver Ausblendung des Strafrechts und der vollständigen Humorlosigkeit der Gegenseite der strategisch-taktische Fehler unterlaufen, mit der erbarmungslosen und scheuklappengesteuerten Ermittlung und Strafverfolgung nicht zu rechnen. An dieser Stelle hätte von jedem, der womöglich wie Heide L. empfunden und in so heiklen Angelegenheiten wie denen der Staatssicherheit und der Staatsräson mit clownesken Provokationen eine Diskussion hätte erzwingen wollen, die Lehre gezogen werden können, sich doch besser auf allgemein sehr akzeptierte und möglicherweise schienenartige Formen des Protestes zurückzuziehen. Sicherlich sollte das eine nicht zu unterschätzende und grundlegende Zielsetzung jener Staatsräson gewesen sein, die juristisch ganz offensichtlich mit Kanonen auf Spatzen geschossen hat, zumal sich ein derart willfähriges Opfer exempelstatuierender Staatsgewalt in der freien Wildbahn nicht so häufig finden lassen dürfte.

Am 23. Februar 2007 wurde Heide Luthardt verhaftet. Nach vier Tagen im Polizeigewahrsam verbrachte sie die Zeit ihrer Untersuchungshaft in dem Frauen- und Jugendgefängnis München-Neudeck, wo sie mit ihren Tagebuchaufzeichnungen begann. Nach ihrer Verurteilung zu drei Jahren und neun Monaten wurde sie am 9. November 2007 in die JVA Aichach gebracht. Hier wurde sie am Morgen des 22. Juni 2008 in ihrer Zelle erhängt aufgefunden. In all diesen Monaten hat sie, Woche für Woche, basierend auf ihren Tagebucheintragungen aus der Anfangszeit ihrer Untersuchungshaft, Briefe an den Münchner Lokalsender Radio Lora geschickt, die dort gesendet wurden und später den ersten Teil der im Schattenblick publizierten Serie bildeten.

Der letzte, in chronologischer Reihenfolge eine Woche vor ihrem Tod verfaßte Brief datiert vom 15.6.2008 und bezieht sich auf einen Tagebucheintrag vom 24.4.2007. Das war zwei Monate nach ihrer Verhaftung. Parallel zu dieser Publizierungsarbeit hat Heide L. ihr Tagebuch auch während ihrer Haftzeit in Aichach weitergeführt. Ihr Gefängnistagebuch umfaßt ihre gesamte Haftzeit vom Polizeigewahrsam über die Untersuchungshaft bis hin zur Strafhaft, und dies unmittelbar bis zu ihrem Tod. Um inhaltliche Überschneidungen zu vermeiden, haben wir mit dem ersten Tagebucheintrag unserer nun fortgesetzten Serie an dem Zeitpunkt begonnen (29.4.2007), der sich an die bislang veröffentlichten, noch von Heide Luthardt selbst verfaßten Briefe unmittelbar anschließt.

Wir machen die Leser darauf aufmerksam, daß der Umstand, das wesentlich umfangreichere Tagebuch erst zu diesem Zeitpunkt zu veröffentlichen, diversen Gründen - so beispielsweise der zeitlich verzögerten Zurverfügungstellung - zu schulden ist. Vom Gesamtbild wie vom Detail läßt es sich geradezu sinnverstärkend bei dem Versuch, der Situation der Heide L. nachzugehen, als Verständnishilfe anfügen wegen des größeren Umfangs, der vielen Einzelheiten sowie der organischen Gestalt des Inhalts. Daß es sich bei diesem Gefängnistagebuch um persönliche Aufzeichnungen handelt, die selbstverständlich nichts anderes als die subjektiven Erlebnisse und Einschätzungen der Autorin wiedergeben und insofern den Anspruch wahrheitsgestützter Tatsachenbehauptungen gar nicht erheben können, bedarf keiner weiteren Erwähnung. Um etwaige Verletzungen der Persönlichkeitsrechte Dritter von vornherein auszuschließen, wurden sämtliche Namensnennungen anonymisiert. Orthographie und Interpunktion wurden originalgetreu übernommen.

Ebenso möchten wir es an dieser Stelle nicht versäumen, uns bei den nächsten Angehörigen der verstorbenen Autorin für deren Bereitschaft, uns die Veröffentlichung des Gefängnistagebuchs zu ermöglichen, ganz herzlich zu bedanken, und unseren Lesern nicht vorenthalten, daß die Familie Luthardt diesen Schritt ausdrücklich als die Erfüllung von Heide L.'s Ansinnen und Wünschen betrachtet.


Anmerkungen:

[1] Schattenblick -> INFOPOOL -> BÜRGER/GESELLSCHAFT -> REDAKTION:
SERIE/001 bis SERIE/037: Die tödliche Kriminalisierung der Heide L.

[2] Schattenblick -> INFOPOOL -> BÜRGER/GESELLSCHAFT -> REDAKTION:
SERIE/003: Die tödliche Kriminalisierung der Heide L. - 1. Brief - Anfang

22. Januar 2010