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STANDPUNKT/046: Große Erwartungen - 20 Jahre nach Oslo, eine Momentaufnahme (medico international)


medico international

Große Erwartungen

20 Jahre nach Oslo. Eine Momentaufnahme.

von Tsafrir Cohen, Frühjahr 2013



Als am sündhaft teuren Tel Aviver Immobilienstandort Rothschild-Boulevard Tausende im Zelt des medico-Partners Ärzte für Menschenrechte (PHM-Israel) vorbeischauten und über das Recht aller - auch von papierlosen Migranten - auf Gesundheit diskutierten, als Hunderttausende jene Politik der herrschenden Parteien infrage stellten, die innerhalb von drei Dekaden aus einem Wohlfahrtsstaat eine Gesellschaft mit einer US-amerikanisch anmutenden Kluft zwischen arm und reich gemacht hat, keimten bei unseren israelischen Partnern große Erwartungen. Nicht nur sie, sondern viele der Demonstrierenden hofften, dass dieser Protest Israels Gesellschaft neu politisiert. Die Abwicklung des solidarischen Gesundheitssystems könnte vielleicht rückgängig gemacht werden und der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit alle ethnisch-religiösen Grenzen auflösen. Vielleicht würde das endlich den Weg bereiten für eine israelische Politik, die auf einen gerechten Ausgleich mit den Palästinensern ausgerichtet ist.


Gescheiterte Re-Politisierung

Doch spätestens mit dem Ausgang der israelischen Wahlen im Februar 2013 erwies sich das hergebrachte politische System als äußerst überlebensfähig. Das gelang mit den üblichen Taktiken. Die Politelite vereinnahmte den Protest mithilfe vorgeheuchelter Sympathiebekundungen für die Forderungen der Demonstranten. Zum Schein ging man darauf ein und berief zunächst eine Kommission. Die legte Monate später hinhaltende Ergebnisse vor, als der Elan des Aufruhrs abgeebbt war. Sie verschwanden in der einen oder anderen ministerialen Schublade. Darüber hinaus gelang es der Politelite die sozialen Proteste in eine ressentimentgeladene Aufwiegelung verschiedener Gruppen gegeneinander umzudeuten und damit die Re-Politisierung zu kippen. Zentrales Wahlkampfthema war so nicht die Frage, wie ein gerechtes soziales und wirtschaftliches System aussehen könnte, sondern warum ultraorthodoxe Juden oder die palästinensische Minderheit im Land nicht in der Armee dienen. Soziale Gerechtigkeit wurde während des Wahlkampfes umgemünzt in "gerechte Lastenaufteilung".

Dem auf diese Weise militaristisch und patriotisch aufgeladenen Diskurs hatten linke und emanzipatorische Kräfte nichts entgegenzusetzen. Bis tief ins Lager der Arbeitspartei überwog die Angst, sich dem Vorwurf des Antipatriotismus auszusetzen. Die großen Gewinner der Wahlen waren dann auch die Nationalreligiöse Partei um den Hightech-Multimillionär Naftali Bennett, der messianisches, rechtsradikales Gedankengut modern verpackt, sowie eine neue populistische Partei um den feschen Moderator Yair Lapid, die sich antiklerikal und establishmentkritisch geriert, in Realität aber die Interessen einer "weißen" und mitunter rassistischen Mittelschicht attraktiv zu präsentieren weiß. Er war der entscheidende Protagonist in der Umdeutung der sozialen Frage, und er ist äußerst populär bei den Anhängern der Protestbewegung.


Verdrängung dauert an

Im Windschatten einer Wahl, bei der die existenzielle Frage nach der Besatzung der palästinensischen Gebiete kaum zur Sprache kam, kann der alte und wohl auch neue Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit neoliberaler Wirtschaftspolitik sowie der Verdrängungspolitik der Palästinenser fortfahren. An seiner Regierung prallt der Protest unseres Partners Adalah, einer Menschenrechtsorganisation aus Haifa, gegen den Prawer-Plan ab. Dieser sieht die Zwangsevakuierung von 70.000 Beduinen - allesamt israelische Staatsbürger - aus ihren angestammten Dörfern in Israels Süden zugunsten von neu zu gründenden Gemeinden, exklusiv für jüdische Israelis, vor. In der besetzten Westbank verhindert Israel weiterhin den Aufbau ziviler Infrastruktur für palästinensische Gemeinden, etwa von Wind- und Solaranlagen der israelischen Comet-ME oder von einfachen Tierställen der palästinensischen Union of Agricultural Work Committees, um die Palästinenser aus großen Teilen der Westbank zu verdrängen. Gleichzeitig wird kräftig an der Infrastruktur für jüdisch-israelische Siedler weitergebaut. Die letzte Entwicklung und Perfektionierung im System der ethnisch-religiösen Segregation ist die Errichtung getrennter öffentlicher Bussysteme - eins für israelische Siedler, das andere für Palästinenser. Bislang hatte das System noch Schlupflöcher und Palästinenser mit Sondergenehmigung beispielsweise konnten das für die Siedler gut ausgebaute Bussystem nutzen. Nun ist es damit vorbei.


Palästina: Frei nur im Gefängnis?

Auf diese Herausforderungen reagiert die palästinensische Gesellschaft hilflos. Im Kampf ums Überleben ist sie selbst in das System verstrickt. Ihre politischen Institutionen sind durch den Dauerzwist zwischen der im Gaza-Streifen regierenden reaktionären Hamas und der Fatah, die über die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) eine Reihe von geografisch miteinander nicht verbundenen Enklaven in der Westbank verwaltet, gelähmt. Beide sind aufgrund ausbleibender Wahlen kaum noch demokratisch legitimiert.

Die PA wurde im Rahmen der Osloer Friedensverträge zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO als Embryo eines künftigen Staates Palästina ins Leben gerufen. Sie ist 20 Jahre später noch immer von Israel völlig abhängig. Israel verlangt von der PA, die palästinensische Bevölkerung besser zu kontrollieren und seine Sicherheit zu garantieren. Man verlangt die Festnahme von Landsleuten, die verdächtigt werden mit Gewalt gegen Israel vorzugehen. Tut die PA das nicht, so verfügt Israel über eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten, etwa die Zurückhaltung der Steuergelder, die Israel erhebt und der PA weiterleiten soll: bei der Mittelknappheit der PA ein enormes Druckmittel. Denn die Löhne der PA ernähren etwa eine Million Menschen und sichern den Machterhalt der Fatah.

Angesichts dieser Verstrickung sind die palästinensischen Häftlinge in den israelischen Gefängnissen die einzigen, die momentan genug innere Freiheit besitzen, um auf breiter Front den widrigen Verhältnissen zu widerstehen. Seit Jahren demonstrierten zum ersten Mal wieder Zehntausende Palästinenserinnen und Palästinenser in Solidarität mit den hungerstreikenden Häftlingen. Eine Erinnerung daran, dass der gegenwärtige Status quo auf Dauer nicht zu halten ist.


Paradigmenwechsel auch in Berlin

1993, vor 20 Jahren, wurden die Osloer Verträge auf dem Rasen des Weißen Hauses vor der Weltöffentlichkeit geschlossen. Seitdem galt für die westlichen Machteliten die Besatzung als beendet. Nach dieser geradezu doktrinär gewordenen Lesart schien es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Detailfragen in bedingungslosen Verhandlungen zwischen den beiden Parteien gelöst würden. Zwei Jahrzehnte später muss man von einem großen Scheitern sprechen. Die asymmetrischen Machtverhältnisse haben dazu geführt, dass Israel die eigene politische Vision - dichtgedrängter sowie voneinander getrennter palästinensischer Enklaven, die von Israel permanent militärisch, aber auch wirtschaftlich kontrolliert und abhängig sein werden - durchsetzt. In vielen Lobbygesprächen, die medico gemeinsam mit israelischen sowie palästinensischen Partnern im politischen Berlin führte, konnten wir beobachten, dass der Groschen auch dort langsam fiel.

Der Zustimmung für die Analyse folgte anfangs nicht die Zustimmung zu unserer Forderung: Es müssten von außen klare Parameter für einen gerechten Frieden gesetzt werden. Immer wieder trugen wir vor, dass Druck notwendig sei, da die israelische Gesellschaft nicht in der Lage sei, die Besatzung von sich aus zu beenden. Spätestens mit der Ermordung des Ministerpräsidenten Rabin wurde klar, dass in Israel keiner Wahlen gewinnen kann, der die Kontrolle über die besetzten Gebiete aufgibt. Unsere Analyse besagte, dass nur Druck von außen den Druck der Siedlerbewegung ausgleichen kann. Empathie für Israel müsse mit einer deutlichen Ablehnung der Besatzungspolitik verbunden sein. In internen Gesprächen stießen wir vielfach auf Zustimmung. Doch offiziell wollte in Europa keiner einen Konflikt mit Israel riskieren. Europa zog sich in die bequeme Rolle des Gehilfen der USA zurück.

Gegenwärtig können wir beobachten, dass europäische Akteure angesichts einer handlungsunfähigen US-Regierung an einer eigenen und einheitlichen europäischen Politik arbeiten. Konsequent durchgehalten könnte sie Druck auf Israel ausüben. 22 europäische Organisationen, darunter medico, haben beispielsweise im Herbst letzten Jahres eine Studie veröffentlicht, die den europäischen Handel mit israelischen Siedlungsprodukten kritisch beleuchtet und nachweist, dass er zur Erhaltung der widerrechtlichen Siedlungen beiträgt. Die Studie wurde in der europäischen Politik sehr positiv aufgenommen. Eine Kennzeichnung der israelischen Siedlungsprodukte scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. So deutlich wie selten sprechen sich Politiker aus Deutschland und Europa gegen die Vertreibung von Palästinensern aus und bezuschussen Projekte, die versuchen diese zu verhindern.

Ob das mehr ist als ein Hoffnungsschimmer auf eine eigenständige europäische Politik bleibt fraglich. Jederzeit muss man damit rechnen, dass die Akteure, von ihrem eigenen Mut erschrocken, zurückrudern. Dann müssen wir unsere Lobbyarbeit für eine differenzierte Politik gegenüber Israel wieder bei Null beginnen.


Für Bürgerrechte - Der neue medico Partner Adalah
Mitglieder der arabisch-palästinensischen Minderheit in Israel genießen alle Bürgerrechte. Die in Haifa beheimatete Adalah (Arabisch für Gerechtigkeit) tritt dafür ein, dass diese Rechte keine leere Formel bleiben, sondern auch in allen Lebensbereichen realisiert werden. Etwa im Gesundheitssektor: In arabischen Gemeinden wird weniger investiert, und die Bewohner haben folglich einen schlechteren Zugang zu Gesundheit. Indem Adalah Sammelklagen und öffentliche Kampagnen initiiert, fördert sie staatsbürgerliches Engagement und zwingt Israels Gesellschaft dazu, sich Fragen der Gerechtigkeit jenseits ethnischer Grenzen zu stellen.

Zuerst erschienen im Rundschreiben I/2013 von medico international
http://www.medico.de/material/rundschreiben/2013/01/grosse-erwartungen/

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Quelle:
Tsafir Cohen
Nahostreferent / Middle East Coordinator
medico international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2013