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FREE GAZA/155: Monströse Assoziationen - Rechtfertigungen der Attacke Israels (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 2. Juni 2010

Monströse Assoziationen
Rechtfertigungen der Attacke Israels

Von Arnold Schölzel


In einem Interview des Deutschlandfunks kommentierte der frühere israelische Botschafter in der Bundesrepublik Shimon Stein am Donnerstag die militärische Attacke auf einen Hilfskonvoi für Gaza im Mittelmeer. Stein äußerte sich im Ton moderat, folgte in der Sache aber der Haltung von Premierminister Netanjahu. Der hatte am Tag zuvor in einer Rede zu dem Überfall von bereits gestoppten und von geplanten Waffenlieferungen nach Gaza berichtet und dramatisch davor gewarnt, das von Israel und Ägypten unter Blockade gestellte Gebiet könne ein »iranischer Hafen im Mittelmeer« werden in der Nähe zu Israel und Europa. Daher habe Israel »das Recht, Fracht Richtung Gaza zu inspizieren«.

Diese Argumentationskette hat eine krude Logik: Die Rechtsposition wird aus propagandistischen Thesen abgeleitet. Die Berufung Netanjahus auf die »internationale Gemeinschaft«, für die sich Israel in die Bresche wirft, erscheint besonders grotesk in einem Moment, da das Ignorieren jeder Äußerung internationaler Institutionen sich wieder einmal als israelische Staatsräson erweist. Die gerade erneuerte Aufforderung der UNO nach Aufhebung der Blockade Gazas dürfte in Tel Aviv dasselbe Schicksal erleiden wie alle Resolutionen zur Erleichterung der Lebenssituation von weit über einer Million Menschen.

Deren katastrophale Lage ist kalkuliert wie offenbar auch die Toten des Hilfskonvois: Es geht um Abschreckung durch Liquidierung Unschuldiger - mit weißem Phosphor oder mit Pistolen. Dafür sprechen im jüngsten Fall die Berichte z.B. schwedischer Augenzeugen, die Erschießungen aus nächster Nähe erlebten. Es wird aber auch indirekt dadurch bestätigt, daß - wie die Bundestagsabgeordnete Inge Höger in dieser Zeitung erklärte - israelische Geheimdienste bei den Vorbesprechungen der Aktivisten Material sammelten, das den Inhaftierten präsentiert wurde. Man war offenkundig recht genau informiert, wer und was auf den Schiffen war.

Botschafter Stein gab in dem Interview zu erkennen, daß er die Position Netanjahus, der Angriff sei vom Völkerrecht gedeckt, teilt. Der Diplomat kritisiert lediglich die angewandten Mittel. Aufhorchen läßt das Argument, mit dem er die völkerrechtliche Legitimation der Attacke belegt. Er berief sich auf die US-Seeblockade gegen Kuba im Oktober 1962. Das übertrifft allerdings noch die monströse Argumentation Netanjahus. Die Welt stand damals so nahe am Rand eines Atomkrieges zwischen USA und Sowjetunion wie nie zuvor und nie danach. Was besagt es, wenn eine Situation, in der die Welt um Haaresbreite dem Untergang entging, Argument für gegenwärtiges Handeln wird? Die Berufung auf eine bislang singuläre historische Situation, auf die Gefahr eines Atomkrieges, im Zusammenhang mit einem Hilfskonvoi für Gaza ist nicht nur unverhältnismäßig, sie ist maßlos, weil außerhalb jeder politischen und rechtlichen Verständigungsmöglichkeit. Worüber wird da nachgedacht?


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Quelle:
junge Welt vom 04.06.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2010