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FREE GAZA/138: Mit den Händen verteidigt (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 3. Juni 2010

Mit den Händen verteidigt

Menschenrechtsaktivisten widersprechen israelischen Darstellungen
über Stürmung der »Free Gaza«-Flotte. Gewalt ging von Soldaten aus

Von Karin Leukefeld


Die offizielle israelische Darstellung der gewaltsamen Erstürmung der »Free Gaza«-Hilfsschiffe am Montag morgen gerät gehörig ins Wanken. Internationalen Medienvertretern wurde zwar mittlerweile eine Fülle von Militärvideos präsentiert, um die Behauptung der »Notwehr« zu untermauern. Doch die Arbeit der Medien- und Imageberater (Spin-Doctors) der israelischen Armee scheint wenig erfolgreich zu sein. Und intern fragt man sich laut einem Artikel in der Washington Post in der israelischen Regierung bereits, wie die Operation in einem solchen PR-Desaster enden konnte. Grund sind die vielen unabhängig voneinander abgegebenen Zeugenberichte von Passagieren der »Mavi Marmara«, aber auch von den anderen Schiffen, die internationale Medien nicht mehr ignorieren können. Alle beschreiben »kriegsähnliche Zustände« und ein gewaltsames Vorgehen der israelischen Soldaten bei der Erstürmung der Flotte mit Hilfsgütern in internationalen Gewässern.

Huwaida Arraf, eine der Organisatorinnen von »Free Gaza«, sagte im US-Fernsehsender CNN, die Soldaten seien sehr gewalttätig vorgegangen, obwohl die Passagiere der »Challenger 1«, auf der sie sich befunden habe, lediglich mit ihren Händen versucht hätten, die Soldaten am Entern des Schiffes zu hindern. Sie selbst sei auf den Boden geworfen und gefesselt worden, dann habe man ihr eine Tüte über den Kopf gestülpt. Im Hafen von Aschdod sei sie von den anderen getrennt worden, man habe ihr Telefon, Geld, Taschen und Computer abgenommen, sie an ihren Haaren in ein Polizeiauto geschleppt und später irgendwo rausgeworfen. Sie habe sich am Kopf verletzt, habe das Bewußtsein verloren und sei erst in einem Krankenwagen wieder zu sich gekommen.

Hassan Nohwara, Brite palästinensischer Herkunft, wurde bei dem Sturmangriff verletzt und kehrte auf Krücken zurück nach Hause. Er habe »Schreie und Schüsse« gehört, berichtete er dem britischen Telegraph. Die Soldaten hätten Tränengas eingesetzt. Huseyin Tokalak, einer der Kapitäne, berichtete auf einer Pressekonferenz in Istanbul, die israelischen Marineoffiziere hätten ihm vor der Erstürmung gedroht, sein Schiff »Gazze« zu versenken. Danach hätten die Soldaten ihm und seinem zweiten Kapitän die Waffen direkt an die Köpfe gehalten.

Verschiedene Aktivisten berichteten, daß die Soldaten noch auf Passagiere geschossen hätten, nachdem man eine weiße Fahne gehißt habe. Mohamed Vall, Reporter des TV-Senders Al-Dschasira, sagte, man sei von dem Angriff völlig überrascht worden. »Etwa 30 Kriegsschiffe hatten unser Schiff umzingelt, und Hubschrauber schossen mit Leucht- und Schallgranaten auf uns.« Die ersten Soldaten, die sich aus Hubschraubern abseilten seien von Passagieren der »Mavi Marmara« abgewehrt worden, die nächsten Soldaten hätten dann sofort geschossen. Einige der Passagiere seien Jemeniten gewesen, die traditionell eine bestimmte Art von Messer bei sich trügen. Damit sollte jetzt bewiesen werden, daß die Passagiere der »Mavi Marmara« »gewalttätig« gewesen seien. Der Kameramann Issam Zaatar beschrieb, wie ein israelischer Soldat mit einem Elektroschockgewehr hinter ihm her rannte und versuchte, ihm die Kamera abzunehmen. Als ihm die Kamera aus den Händen fiel, habe der Soldat sie zertrampelt.

Hazim Farouk, ein ägyptischer Abgeordneter und Arzt, beschrieb gegenüber Al-Dschasira, wie vier Menschen vor seinen Augen starben. »Für das, was geschehen war, hätten wir ein Feldlazarett gebraucht.« Die Soldaten hätten ihm und anderen Helfern nicht erlaubt, Verletzte abzutransportieren, sondern hätten mit den Laserleuchten ihrer Gewehre auf die Köpfe der Verletzten gezielt. Der griechische Kapitän Mihalis Grigoropoulos, der mit seinem Schiff direkt hinter der »Mavi Marmara« fuhr, sagte, Leute hätten mit einer Art menschlichem Schutzwall versucht, die Erstürmung der Kapitänsbrücke zu verhindern. Die Soldaten hätten gegen sie Gummigeschosse eingesetzt und sie mit Elektroschockwaffen gelähmt. Die palästinensische Knesset-Abgeordnete Haneen Zubi befand sich auf dem zweiten Deck, wohin die Toten und Verletzten gebracht worden seien. Als eine Stimme über die Schiffslautsprecher sagte, die »Mavi Marmara« sei in der Gewalt der Israelis, hätten dort sechs Tote gelegen.


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Quelle:
junge Welt vom 03.06.2010
mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2010