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BERICHT/040: "Freiheit statt Angst 2009" - eine Demonstration und ihre Nebenwirkungen (Mitteilungen)


MITTEILUNGEN Nr. 207, IV - Dezember 2009
Humanistische Union für Aufklärung und Bürgerrechte

"Freiheit statt Angst 2009" - eine Demonstration und ihre Nebenwirkungen

Von Sven Lüders


Am 17. Juni 2006 gingen in Berlin erstmals Bürgerinnen und Bürger unter dem Motto "Freiheit statt Angst" auf die Straße, um gegen die Überwachung in Staat und Gesellschaft zu demonstrieren. Der Kreis war überschaubar, Berichte sprachen von 250 Teilnehmer/innen, darunter "die üblichen Verdächtigen". Aus dem Motto von damals ist inzwischen eine Marke geworden. Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung hat mit dem Slogan "Freiheit statt Angst" in den letzten drei Jahren zehntausende Menschen auf die Straße gebracht, hat eine Massenbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung organisiert und damit einer neuen Datenschutzbewegung ein Gesicht gegeben. Das ist umso höher zu bewerten, als der AK Vorrat ein rein informeller Zusammenschluss von ehrenamtlich Engagierten ist, dessen "institutionelle Grundlagen" sich in einer Mailingliste und einem Wiki erschöpfen.

Vor diesem Hintergrund war es nur konsequent, dass die Beteiligten auch im Jahr der Bundestagswahl zu einer bundesweiten Datenschutz-Demonstration aufriefen und ihre Forderungen nach einem besseren Schutz der Privatsphäre platzieren wollten. Bereits im Vorfeld war jedoch erkennbar, dass dies keine leichte Aufgabe sein würde - mit jedem Erfolg steigt bekanntlich die Erwartungshaltung an die nächsten Vorhaben. Und es war klar, dass der bevorstehende Wahlkampf jene Aktiven, die sich auch in Parteien engagieren, absorbieren würde. Die Antwort war eine begrenzte Professionalisierung der Demo, die unter dem Dach der Humanistischen Union stattfand. Durch eine Projektförderung der Stiftung Bridge konnten wir mit Nina Eschke eine Koordinationsstelle bieten, die angefangen von den tausend Fragen rund um eine Demonstration (Wie viele WCs brauchen wir? Wo bekommen wir Strom und Internetanschluss her?) bis zur Koordination des breiten Bündnisses (mit am Ende über 160 Organisationen) alles im Blick hatte. Daneben war die HU in diesem Jahr Gastgeberin der zahlreichen Bündnistreffen und zeichnete für die Finanzen der Demonstration verantwortlich. So weit, so gut.


Was nicht erreicht wurde - Probleme und Ursachen

Das sicherlich etwas hoch gesteckte Ziel, mit der diesjährigen Demonstration "Freiheit statt Angst" das Thema Datenschutz im Wahlkampf zu präsentieren, konnte allenfalls in Ansätzen erreicht werden. Woran lag es? Die Rahmenbedingungen dafür, die informationelle Selbstbestimmung zu einem Wahlkampfschlager zu machen, waren eigentlich so gut wie seit Jahren nicht mehr: Die Flut an Sicherheitsgesetzen mit immer neuen Überwachungsmethoden, aber auch zahllose Skandale um Schnüffeleien in durchaus renommierten Unternehmen haben die öffentliche Sensibilität für das Thema mächtig gesteigert. Inzwischen haben die Verbraucherzentralen den Datenschutz als kundenrelevantes Anliegen entdeckt, mit www.netzpolitik.org hat sich ein Blog für datenschutzrelevante Enthüllungen etabliert, dem der Nachschub an immer neuen Datenlecks und Fällen des Datenmissbrauchs nicht auszugehen scheint.

Und dennoch: Vergleicht man allein die Teilnehmerzahlen bei den Demonstrationen für den Atomausstieg (5. September: ca. 50.000) und von Freiheit statt Angst eine Woche später (ca. 15.000) oder den politischen Druck, den beide Lager aufbauen konnten, so wird deutlich: die neue Datenschutz-Bewegung hat noch einen weiten Weg vor sich. Dazu gehört sicherlich, dass die derzeit zu beobachtende Aufteilung in neue Vereine oder Parteien (wie die Piraten) erst einmal verarbeitet und bestehende Differenzen zwischen dem AK Vorrat und den entstandenen "Abspaltungen" überwunden werden müssen. Allerdings sollten sich auch die beteiligten "Stammorganisationen" (CCC, FIfF, FoeBuD, HU, verdi ...) überlegen, wie sie das Bündnis repolitisieren und zugleich für weitere Zielgruppen öffnen können. Nach der Euphorie der vergangenen Jahre - die Erfolge lassen sich ja durchaus sehen - schleicht sich etwas Erschöpfung ein: So gelang es im Vorfeld der diesjährigen Demonstration nicht, durch Begleitaktionen, gut aufbereitete Hintergründe und dergleichen mehr auf das Thema aufmerksam zu machen. Zwar gab es gute Ansätze, wie den wöchentlichen vodcast mit Videobeiträgen über die beteiligten Organisationen. In der virtuellen Welt der Blogs und Webseiten war die Demonstration durchaus präsent, die Übersetzung in die klassischen Medien schlug jedoch fehl.


Erwünschte Nebenwirkungen

Wahrscheinlich wäre die Demonstration im Getöse des Wahlkampfs untergegangen, wenn nicht der "Mann in Blau" und die Berliner Polizei gewesen wären. Obwohl die Demonstration friedlich verlief, gab es das übliche Belauern zwischen den Ordnungshütern und einem dunkler gekleideten Demoblock. Während der Abschlusskundgebung entfachte ein Streit um den Lautsprecherwagen dieser Gruppe, von dem zuvor ein indizierter Song abgespielt worden war. Man stritt um die Personalien der Verantwortlichen, um den richtigen Standplatz für den Lautsprecherwagen, es kam zu kleinen Rangeleien. In diesem Moment geschah ein Polizeiübergriff. Die Polizei sprach in einer ersten Stellungnahme von einem nicht befolgten Platzverweis: "Nachdem dieser [Platzverweis] wiederholt ausgesprochen worden war und der Mann keine Anstalten machte, dem nachzukommen, nahmen ihn die Polizisten fest." (PM der Berliner Polizei vom 13.9.2009) Dumm nur, dass die ganze Szene von mehreren Teilnehmern der Demonstration gefilmt und fotografiert wurde. Und noch unangenehmer, dass sich Auszüge aus diesen Videos bereits am folgenden Tag über das Internet verbreiteten. Die Bilder zeigten nämlich einen ganz anderen Hergang des Geschehens: Ein Demonstrationsteilnehmer, der sich offenbar Dienstnummern von Polizisten notierte, setzte nach mehreren Aufforderungen zum Verlassen der Szene an. Im Weggehen wird er jedoch von einem Polizisten "zurück geholt", zu Boden geschlagen und anschließend festgenommen.

Wie gesagt, die Demonstration "Freiheit statt Angst" verlief davor wie auch danach absolut friedlich. Und es war auch keine besondere Brutalität bei diesem Zwischenfall im Spiel. Das Besondere war jedoch: Mit den aufgenommenen Videos ließ sich die polizeiliche Darstellung des Geschehens nicht aufrecht erhalten, jeder Internetnutzer konnte sich ein eigenes Bild vom Ablauf der Szene machen. Die Meldung über die veröffentlichten Bilder machte in den Medien schnell die Runde. Am Ende bezog sich die Mehrzahl der Medienberichte zur Demonstration auf diesen Zwischenfall und nicht auf den Gegenstand des Protestes selbst. Diesen Umstand muss man aus bürgerrechtlicher Sicht jedoch nicht bedauern, denn der einsetzende Unmut über die offensichtliche Politik des Vertuschens und Schönredens bei der Polizei führte zu durchaus wünschenswerten Konsequenzen. Der Berliner Polizeipräsident, Dieter Glietsch, nutzte die "Gunst" der Stunde und startete eine seit längerem geplante Initiative zur Kennzeichnung der Berliner Polizei. Sein Vorstoß setzt vorerst auf eine freiwillige Vereinbarung, wonach Berliner Polizeiuniformen künftig einen Aufkleber erhalten, der auf der einen Seite die Dienstnummer und auf der Rückseite den Klarnamen der Polizisten enthält. Im Normalfall sollen die Beamten mit ihrem Klarnamen ansprechbar sein, in geschlossenen Einsätzen können sie dann zum Selbstschutz zur Kennzeichnung durch Dienstnummern wechseln.

Aber auch unter den Bündnisteilnehmern der Demonstration zeitigte der Zwischenfall einige Konsequenzen: Das Publikum von "Freiheit statt Angst" setzte sich wie in den Vorjahren vor allem aus jungen Menschen zusammen, für einige von ihnen dürfte die Teilnahme an der Demo noch in die biografische Politisierungsphase fallen. Entsprechend groß war das Bedürfnis, sich über die Wirkung dieses Polizeieinsatzes, über die Kontrollierbarkeit der Polizei und den polizeilichen Umgang mit Demobeobachtern auszutauschen.

In diesem Moment erwies sich das Bündnis plötzlich handlungsmächtiger als oft zuvor: Bereits am Tag nach der Demonstration gab es eine Gegendarstellung zur polizeilichen Schilderung des Ablaufs; der Chaos Computer Club führte eine anonyme Sammelstelle für die zahlreichen privat erstellten Aufnahmen von dem Zwischenfall ein und stellte das Material später für eine Strafanzeige des Betroffenen zur Verfügung. Auf Vorschlag der Humanistischen Union verfasste das Bündnis ein Forderungspapier, mit dem die Initiative des Polizeipräsidenten zur Kennzeichnungspflicht unterstützt, aber auch weitere Schritte zur Transparenz der Polizeiarbeit angemahnt werden (Dokumentation s. Webseite). Und so könnte die diesjährige Datenschutz-Demonstration am Ende dazu beigetragen haben, dass eine Forderung der Humanistischen Union von 1968 (!) zumindest in Berlin einmal in Erfüllung geht: die Kennzeichnung von Polizisten.


Nachbereitung

Wie es mit dem Bündnis um den Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung weiter gehen wird, welche Initiativen nach der im kommenden Jahr zu erwartenden Entscheidung des Verfassungsgerichts angesagt sind, ist derzeit noch offen. Entschieden wurde dagegen, dass das Bündnis seine Demonstrationserfahrungen nutzen will, um sich auf dem Weg des nachträglichen Rechtsschutzes für bessere Bedingungen der Versammlungsfreiheit in Berlin einzusetzen. Dies betrifft vor allem die polizeilichen Beschränkungen im Umfeld der eigentlichen Demonstration, die gerichtlich geprüft werden sollen. So streitet das Bündnis seit Jahren darum, durch die Berliner Friedrichstraße (eine zentral gelegene Einkaufsstraße) ziehen zu dürfen, die von der Polizei mit Rücksicht auf die exklusiven Geschäfte faktisch demonstrationsfrei gehalten wird. Außerdem zeichnet sich die Tendenz ab, Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf ihrem Weg zur Demonstration einer stärkeren Kontrolle zu unterwerfen. Dabei geht es nicht nur um die Suche nach "gefährlichen" Gegenständen, die auf einer Demonstration nichts zu suchen haben. Die Polizei betätigt sich hier auch als Hüterin der Gewerbe- und Meinungsordnung: Beispielsweise mussten sich zwei Berliner HU-Mitglieder, die in diesem Jahr unseren Infostand aufbauen wollten, einer Vorabkontrolle unterziehen, bei der die Broschüren und Materialien der HU polizeilich geprüft wurden. Dabei erregte vor allem der diesjährige Slogan auf dem Transparent der HU ("Grundrechte entfesseln") den Argwohn der Beamten und veranlasste sie zu Nachfragen bei ihren Vorgesetzten, "ob das denn zulässig sei".

Schließlich mussten Demonstrationsteilnehmer und unbeteiligte Dritte immer wieder feststellen, dass sie genau dann, wenn sie die Polizei bei ihrer Arbeit beobachten und dies evtl. mit Kamera oder Fotoapparat dokumentieren wollen, behindert oder willkürlich wirkenden Kontrollen unterworfen wurden. Die regelmäßig hervorgebrachte Drohung "Bilder löschen oder Kamera weg" zeigt, wie wenig souverän Polizistinnen und Polizisten mit dem eigentlich selbstverständlichen Anspruch von "Bürger/innen beobachten die Polizei" immer noch umgehen. Und wer weiß: Vielleicht ergeben sich aus der neuen Datenschutzbewegung auch neue Anregungen für jene Praxis der Demonstrationsbeobachtung und der Polizeikontrolle, die in der Humanistischen Union oder im Komitee für Grundrechte und Demokratie eine lange Tradition haben. Über den richtigen Umgang mit der neuen Bilderflut, die inzwischen von privater Seite bei solchen "Events" erzeugt und über das Internet verbreitet wird, muss gerade unter Datenschutzgesichtspunkten noch einmal diskutiert werden. Ihr Potential haben diese neuen Medien bei der diesjährigen Demonstration jedenfalls eindrucksvoll gezeigt - die Informationshoheit der Polizei ist hinfällig geworden.


Sven Lüders ist Geschäftsführer der Humanistischen Union, die er im Demonstrationsbündnis "Freiheit statt Angst" vertritt.

Informationen:

Alle Redebeiträge der Demonstration sowie einen Pressespiegel gibt es beim AK Vorrat:
http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/Pressecenter.
Eine ausführliche Auswertung der Kampagnenarbeit der HU im Rahmen des Demonstrationsbündnisses "Freiheit statt Angst" findet sich im internen Bereich des HU-WIKIs unter
https://www.humanistische-union.de/wiki/intern/antrag (s. Bericht auf Seite 22 in den Mitteilungen Nr. 207) oder kann über die Geschäftsstelle bezogen werden.

Die Mitglieder des AK Vorrat haben ihre "Manöverkritik" an der diesjährigen Demonstration in ihrem WIKI versammelt, abrufbar unter
http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/304/79/lang,de/

Mitglieder der HU können alle genannten Materialien auch über die Bundesgeschäftsstelle beziehen - wir senden diese auf Wunsch gern zu.


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Literatur zum Thema Polizeiübergriffe & Polizeikennzeichnung

Anti-Diskriminierungsbüro Berlin: Vom Polizeigriff zum Übergriff. Berlin 2008 (2. Aufl.), http://www.polizeigriff.org

Demonstrationsbündnis "Freiheit statt Angst 2009": Datenschutz und Transparenz sind zwei Seiten einer Medaille. Stellungnahme anlässlich der Vorfälle um die Demonstration am 12. September 2009, Berlin am 21. September 2009.

Humanistische Union: Petition für die namentliche Kennzeichnung der Polizei. vorgänge Heft 1/1970, S. 31-40

Humanistische Union: Gesetzesvorschläge zur Kennzeichnung der Polizei, vorgänge 10/1968, S. 360

Norbert Pütter: Polizeiübergriffe. Polizeigewalt als Ausnahme und Regel. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 67 (Heft 3/2000)

Falco Werkentin: Der Kampf um Bilder. Oder: Warum prügeln Polizisten JournalistInnen? vorgänge Nr. 96 (Heft 6/1988), S. 1-6

Alle Texte sind über die HU-Webseite abrufbar:
www.humanistische-union.de/shortcuts/polizeikontrolle


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Quelle:
Mitteilungen der Humanistischen Union e.V.
Nr. 207, IV - Dezember 2009, S. 14-16
Herausgeber: Humanistische Union e.V.
Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
Tel: 030/204 502 56, Fax: 030/204 502 57
E-Mail: info@humanistische-union.de
Internet: www.humanistische-union.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2010