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STANDPUNKT/166: Visionen brauchen Fahrpläne (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 4 - November 2017
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Visionen brauchen Fahrpläne
Wünsche zum 125jährigen Bestehen der Deutschen Friedensgesellschaft

Von Michael Germer und Werner Glenewinkel


Wer wie wir als Kriegsdienstverweigerer und ehemalige Vertreter der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer die 125jährige Geschichte der DFG würdigen möchte und dazu in dem Buch Nieder die Waffen von Guido Grünewald blättert (Bremen 1992), dem fällt auf, dass es genau besehen zwei Geschichten der Deutschen Friedensgesellschaft gibt: die eine von der Gründung 1892 bis zum Kriegsende 1945 und die andere von 1945 bis heute. Seit 1974 gibt es die DFG-VK.

Aus den Dokumenten wird ersichtlich, dass die Verweigerung des Krieges als individuelle Friedenshandlung erst am Ende des Ersten Weltkriegs und nach sehr kontroversen Debatten in den Blick der Organisation geriet; so im Programm der DFG von 1929: "Kann der Ausbruch eines Krieges nicht verhindert werden, so wird die DFG um des menschlichen Gewissens willen ihn durch Propagierung der Kriegsdienstverweigerung in jeder Form aktiv bekämpfen." Mit der Gründung des Bundes der Kriegsdienstgegner (BdK; 1919) und der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK [bzw. War Resisters' International]; 1921 [1923]) wurde die Kriegsdienstverweigerung nach und nach programmatisch verankert.

Jetzt heißt es in dem seit 1974 gültigen Programm neben der Grundsatzerklärung der War Resisters' International, wonach der Krieg ein Verbrechen an der Menschheit und jedes Mitglied keine Art von Krieg zu unterstützen entschlossen sei, zur KDV:

"Die DFG-VK bekämpft alle Bestrebungen, das Grundrecht der KDV gemäß Artikel 4 Absatz 3 des GG direkt oder indirekt auszuhöhlen."

Somit werden die Schnittmengen zur Arbeit der 1957 gegründeten Zentralstelle KDV deutlich sichtbar. Die wechselvolle und oftmals kontroverse Geschichte des Rechts auf KDV und seine Bedeutung für den Kampf gegen Krieg endet in Deutschland am 1. Juli 2011. Vorläufig jedenfalls. Zu diesem Zeitpunkt tritt das Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 in Kraft.

Damit ist ein deutlicher Einschnitt in der Friedensarbeit verbunden.

Sechs Jahre nach der Aussetzung der Wehrpflicht könnte man sich fragen, wo das millionenfache Friedenspotenzial der KDVer geblieben ist. Ist mit Beendigung der Gewissenprüfung ein Vakuum entstanden, weil die Problematik von Krieg und persönlicher Betroffenheit im Alltag in den Familien der wehrpflichtigen Männer von der Notwendigkeit der Diskussion und Entscheidung darüber "befreit" worden ist? Oder ist diese neue Situation eine Chance, weil die persönliche Frage der KDV grundsätzlich, also für die wehrpflichtigen Männer des jeweiligen Jahrgangs, weggefallen ist und somit der Blick auf die grundlegende Frage von Krieg, seinen Ursachen und die Rolle des Militärs gelenkt werden kann?

Unabhängig von der Einschätzung dieser politischen Entscheidung einer CDU/CSU-Regierung (gekonnte Strategie oder erfreulicher Nebeneffekt oder ...?) werden manche eine Entpolitisierung der Friedensbewegung und der Anti-Kriegs-Debatten befürchten. So ist auch die Auflösung der Zentralstelle KDV zum 31. Dezember 2014 von kritischen Stimmen begleitet worden. Gleichwohl hat die Zentralstelle KDV in ihrer Abschlussveranstaltung helfen wollen, die strukturelle Frage nach der Rolle des Militärs - ganz im Sinne der DFG-VK-Programmatik - in der öffentlichen Debatte zu verankern (www.zentralstelle-kdv.de/index.php?ID=10). Die Frage "Geht es auch ohne Militär?" müsste eigentlich lauten: "Was geht mit Militär?" Die Antwort auf diese Frage ist eine vernichtende Bilanz. Die Folgerung daraus: Wir Kriegsgegner müssen nicht defensiv gegen das Militär argumentieren. Stattdessen müssen das Militär und dessen Auftraggeber die Pflicht haben zu beweisen, worin das Produktive, Friedensfördernde an Militäreinsätzen besteht. Wir brauchen eine Umkehr der Beweislast.

Das geht nicht von heute auf morgen, sondern wird dauern, lange dauern. Die zweite Hälfte der DFG-Geschichte deckt sich ziemlich genau mit unserer Lebenszeit, die nicht ohne die geschichtlichen Umstände und unser persönliches Erleben verstehbar ist. Deshalb erlauben wir uns einige Anmerkungen zu unserer persönlichen Geschichte - siehe Kasten unten.

Wir möchten aber auch der DFG-VK gratulieren und zwar vor allem zu ihrer Beharrlichkeit, mit der sie - immer wieder und oftmals in sehr kleinen Schritten - der Kriegslogik eine Friedenslogik entgegen gesetzt hat.

Ausblick

Schauen wir in die Zukunft. Wir gehen davon aus, dass es die DFG-VK in 25 Jahren noch geben wird, nein: geben muss! Was werdet Ihr - die aktive Generation in der DFG-VK - bis 2042 gemacht und geschafft haben? Wir werden wohl nicht mehr erleben, welchen Fahrplan Ihr für Eure Visionen finden werdet.

Wir erlauben uns, Euch unsere Wünsche mit auf den Weg zu geben: Für eine DFG-VK in einem zivilgesellschaftlichen Umfeld, wie wir das gerne hätten. Wir wünschen uns als Erstes eine zivilgesellschaftliche Entwicklung, über die im Jahre 2042 Folgendes zu berichten wäre:

• Die Bundespräsidentin wird zu einem Bürger-Empfang nach Berlin einladen aus Anlass des 150jährigen Bestehens der DFG-VK. Sie wird sich öffentlich für deren geduldiges und nachdrückliches Eintreten für eine Welt ohne Kriege bedanken.

• Die Ministerin für Frieden und Abrüstung wird von den jüngsten Verhandlungen in Genf berichten, bei denen ein Aussöhnungsprogramm für ehemalige Kriegsparteien verabschiedet wurde.

• Der Rüstungskontrollausschuss des Deutschen Bundestages legt den Jahresbericht für das zurückliegende Jahr 2041 vor: Es gab erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik keine Rüstungsexporte.

• Das Institut für Konversion und Friedenslogik berichtet, dass 89 Prozent der ehemaligen deutschen Rüstungsindustrie erfolgreich die Konversion abgeschlossen haben - dazu gehören Betriebe in den Bereichen Feinmechanik, Maschinenbau, Verkehrstechnik und erneuerbare Energie.

• Die Vereinigung Bundesrepublik ohne Armee BoA legt in ihrer Jahrestagung die neusten Zahlen vor: Danach ist der Militärhaushalt mittlerweile auf die Hälfte geschrumpft. Gleichzeitig hat die zehntausendste Friedensfachkraft ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen.

Wem unsere Wünsche allzu unrealistisch vorkommen, den verweisen wir auf die Debatten um die deutsche Wiedervereinigung in den 40 Jahren von 1949 bis 1989.

Zum Zweiten haben wir Wünsche an die Organisation DFG-VK und stellen uns vor, dass auf dem Bundeskongress 2042 über Folgendes diskutiert und entschieden werden wird:

• Die Arbeitsgruppe DFG-VK-Zukunfts-Strategie stellt Überlegungen vor, wie und mit welchen Aktionsformen gegen den Wandel des Krieges (zunehmende Entstaatlichung) informiert werden kann; wie gegen die technische Veränderung der Kriegsmittel (Entpersönlichung der Kriegsführung z.B. durch Drohnen) wirksam vorgegangen werden kann; wie die rechtliche Begrenzung kriegerischer Konflikte (Erneuerung der völkerrechtlichen Abkommen) auf den "richtigen" Weg gebracht werden kann.

• Die Bemühungen um eine Europäische FG-VK gewinnen immer mehr an Gestalt und stehen kurz vor einem Kooperationsabkommen mit anderen europäischen Friedensorganisationen.

• Aus der Zeitschrift Die Zivilgesellschaft kommen immer mehr Vorschläge an die DFG-VK, welche Themen kritisch hinterfragt und welche neuen und kreativen Aktionsformen ausprobiert werden sollen.

• Die Gruppe der Friedensmittler in der DFG-VK legt ein umfassendes Konzept für die Ausbildung von Mediatoren und anderen Konfliktvermittlungstätigkeiten sowie ein großes Angebot an Fortbildungsmöglichkeiten zur Stärkung der Konfliktlösungsfähigkeit vor.

Wer solchen Wünschen misstraut, möge mit einem Blick auf die 125jährige Geschichte der DFG bedenken, was in 25 Jahren an Veränderungs- und Entwicklungs-Prozessen gelingen kann.

Schließlich und drittens bleiben noch Wünsche übrig, für die nur wir selbst in unserem Alltag verantwortlich sein können:

• Das sorgfältige Achten auf eine Alltags-Sprache, die sich an der Friedenslogik und nicht an der Kriegslogik orientiert.

• Das ständige Bemühen um ein Alltags-Handeln, Konflikte - egal welcher Art und Größe - durch Miteinandereden zu bewältigen.

• Eine bewusste Alltags-Haltung, die an diesem Satz der
DFG-Gründerin von 1891 orientiert ist:

"Darum ist es notwendig, dass überall dort, wo Friedensanhänger existieren, dieselben auch öffentlich als solche sich bekennen und nach Maßstab ihrer Kräfte an dem Werke mitwirken."

*

Zwei "Nachkriegskinder" und Kriegsdienstverweigerer sagen: Nie wieder Krieg - Die Waffen nieder - Frieden schaffen ohne Waffen!

Wir sind Nachkriegskinder, also geboren nach dem Krieg und zugleich betroffen vom Krieg. Denn: "Krieg hört nicht auf, wenn die Waffen schweigen." Diese einfache Formel stammt von Sabine Bode, die die Kriegsfolgen für die Gesundheit der betroffenen Menschen in Gesprächen erforscht und eindringlich beschrieben hat (S. Bode: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen; Stuttgart 2015; Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation; Stuttgart 2017). Jeder Krieg hinterlässt Spuren - nicht nur bei den Kriegskindern, die Krieg selbst erlebt haben, sondern auch bei den nachfolgenden Generationen: bei den Nachkriegskindern und selbst noch bei deren Nachfahren (selbst wenn sie 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurden), die sich Kriegsenkel nennen. Sie spüren die Schatten der Vergangenheit und merken, dass etwas auf ihnen lasten kann, obwohl sie behütet und in Frieden aufgewachsen sind. Sie erleben es, wenn Häuser aufgrund von plötzlich entdeckten Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg evakuiert werden müssen.

Nachkriegskind - was ist das für eine merkwürdige Bezeichnung. Wir sind beide nach dem 8. Mai 1945 - also im Frieden - geboren. Warum bezeichnet man uns - wir uns selbst - nicht als "Friedenskind"? Das wäre eine ganz andere Botschaft. Unsere Sprache verrät mehr über uns, als wir uns bewusst machen. Sie zeigt aber auch, dass der Krieg wirkmächtiger ist als der Friede. Krieg kann man nicht wirklich erzählen in seiner Grausamkeit, seiner Unbarmherzigkeit und seiner Zerstörungskraft. Und doch wird täglich von Krieg gesprochen: in Bildern, Filmen, Agenturmeldungen und Kommentaren. Warum? Weil irgendwo auf der Welt immer Krieg herrscht. Allem Anschein nach wird Frieden als das Normale, Gewünschte, über das man weniger Worte verliert, verstanden.

Krieg kann man nicht wirklich erzählen. Vielleicht geht es besser, Krieg zu malen, so wie es Otto Dix 1929 bis 1932 mit Der Krieg versucht hat. Seine Bilder werden zur Zeit im Düsseldorfer Museum ausgestellt, passend zu dem Jahr, in dem die DFG-VK ihr 125-jähriges Bestehen feiert.

Das Bild Der Krieg erregt zunächst Aufmerksamkeit über seine Form. Es ist ein Triptychon, also drei Bild-Tafeln mit einem schmalen, mittigen Unterteil. Farblich dominiert ein düsterer Braungrau-Ton. Beim Näherkommen sieht man deutlicher, dass ein heller nebelartiger Lichtstreifen von links bis in die Mitte des Gemäldes zieht. Zu sehen sind in der linken Tafel Soldaten, die aufbrechen; das Licht suggeriert ein Morgengrauen; im Mittelteil erkennt man ein Schlachtfeld - Leichen, zerstörte Häuser - eine Stätte des Todes; auf der rechten Tafel scheinen die Soldaten aus der Schlacht zurückzukehren - sichtbar gebrochen. Der Unterteil sieht aus wie ein Unterstand, in dem Soldaten ruhen oder sterben.

Was kann uns solch ein Bild zeigen? Der Krieg schafft nur Unheil - körperlich und seelisch und sozial. Er hinterlässt Schweigen und unbeantwortete Fragen. Wir sind in der Nachkriegsgesellschaft aufgewachsen mit den vielen Fragen nach der Rolle der Väter, den Gründen für ihr Schweigen, der Unklarheit über ihre Rolle - eher Täter oder Opfer oder beides? -, dem Familienleben in der NS-Zeit. Und jetzt, selbst Väter und Großväter, drängt sich auch noch eine andere Frage in den Vordergrund: Was habe ich von ihnen - dem Vater und/oder der Mutter - "geerbt"? Was mache ich anders, besser?

Sind das Fragen, über die man mit den Kriegsenkeln ins Gespräch käme? Was wären generationsübergreifende Anlässe für Gespräche? Wie kann man über Krieg sprechen, wenn man vom Krieg nur gehört und gelesen hat? Was bedeutet Frieden in einer global ungerechten Welt? Es ist dringend notwendig, dass die Generationen miteinander ins Gespräch kommen und Schweigegebote und Hilflosigkeit überwinden. Die Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen könnte helfen, an eigene jeweils gemachte Erfahrungen anzuknüpfen. Fangen wir der Einfachheit halber bei uns beiden an: Was hat Dich veranlasst, zunächst zur Bundeswehr zu gehen und dort zwei Jahre zu bleiben? Und was hat Dich dann zur Kriegsdienstverweigerung gebracht? Gute Frage, wie war es bei Dir: Hast du sofort den Kriegsdienst verweigert? Wie waren Deine Erfahrungen mit dem Inquisitionsverfahren? Eine längere Geschichte. Letztlich haben wir eine Gemeinsamkeit, nämlich staatlich nicht als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu sein. Gute Voraussetzungen, den Appell "Nie wieder Krieg" durch die Handlungsanweisung "Die Waffen nieder" und "Frieden schaffen ohne Waffen" zu konkretisieren.


Michael Germer, 69, ist evangelischer Pfarrer im Ruhestand. Bis zur Auflösung der Zentralstelle KDV 2014 war er deren stellvertretender Vorsitzender. Er ist Mitglied im Aufsichtsrat des Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD), dem neben 27 weiteren Organisationen auch die DFG-VK als Mitgliedsorganisation angehört.

Werner Glenewinkel, 72, ist promovierter Jurist und Mediator. Er war bis zu seiner Pensionierung lehrend an einer Fachhochschule tätig. Bis zu ihrer Auflösung war er Vorsitzender der Zentralstelle KDV. Er war in den 1970er Jahren schon Mitglied der DFG-VK und ist es wieder seit 2007.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Otto Dix: Der Krieg (1929 begonnen, 1932 vollendet)

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Quelle:
ZivilCourage Nr. 4 - November 2017, S. 12 - 14
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
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E-Mail: zc@dfg-vk.de
Internet: www.zc-online.de
 
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Einzelheft: 2,30 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Dezember 2017

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