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STANDPUNKT/150: Anforderungen an einen wirksamen Pazifismus (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 3 - August 2016
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Anforderungen an einen wirksamen Pazifismus
Das Wichtigste ist die Glaubwürdigkeit

Von Andreas Zumach


Aktiver Einsatz für zivile Konfliktbearbeitung

Oberste Priorität für PazifistInnen - über die persönliche Verweigerung der Anwendung von Gewalt hinaus - ist das aktive politische Engagement für die Schaffung, Stärkung und den rechtzeitigen Einsatz ziviler Instrumente zur Bearbeitung von Konflikten: Instrumente zur Früherkennung von Konflikten, zur Prävention ihrer gewaltsamen Eskalation, zu ihrer Deeskalation und Beilegung sowie zur Überwindung der Konfliktursachen und schließlich zur Nachsorge für die Opfer der Konflikte und für den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur.

Dabei gilt es, der in der politischen Klasse - womit die Verantwortlichen in Parlament und Regierung sowie MedienvertreterInnen gemeint sind - weitverbreiteten Behauptung und Annahme zu widersprechen, es existierten bereits nennenswerte oder gar ausreichende Instrumente zur zivilen Konfliktbearbeitung. Tatsächlich sind die finanziellen, personellen, logistischen und sonstigen Ressourcen, die für zivile Konfliktbearbeitung heute national zur Verfügung stehen oder von Deutschland an die Uno, OSZE und andere multilaterale Institutionen übergeben werden, auch fast 20 Jahre, nachdem sie unter der rot-grünen Bundesregierung erstmals offiziell zum Regierungsprogramm wurden, immer noch katastrophal unterentwickelt und gemessen am Bedarf nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Vorrang genießen weiterhin die militärischen Instrumente. Und angesichts der mittelfristigen Ausgabenplanungen für die Bundeswehr droht sich dieses Missverhältnis in den nächsten Jahren sogar noch weiter zu verschärfen.

Mythen zur Gewalt-Rechtfertigung widersprechen

Seit Ende des Kalten Krieges vor einem Vierteljahrhundert sind eine Reihe von Mythen entstanden über neue Bedrohungen und die Veränderung der Natur von Gewaltkonflikten. Mythen, die vom Westen (USA/Nato) wie auch von Russland zur Rechtfertigung des Einsatzes kriegerischer Gewalt genutzt werden. Diese Mythen haben bis in die Reihen der Friedensbewegung Verunsicherung verursacht, den Widerspruch und den Widerstand gegen den Einsatz kriegerischer Gewalt geschwächt oder gar zu zumindest stillschweigender Zustimmung geführt.

Der hartnäckigste und wirkmächtigste Mythos ist die Behauptung von den "neuen Kriegen".

Im deutschen Sprachraum wurde und wird diese Behauptung vor allem und mit großem Erfolg von dem Berliner Politikprofessor Herfried Münkler verbreitet. Die wichtigsten Behauptungen sind:

- Im Unterschied zu den überwiegend zwischenstaatlichen Gewaltkonflikten während des Kalten Krieges zwischen 1950 und 1990 finden die Gewaltkonflikte seit 1990 überwiegend innerstaatlich statt.

- Es handelt sich um "asymmetrische Kriege" mit neuen Mitteln der Kriegsführung wie Anschlägen, Selbstmordattentaten etc. im Unterschied zu den früheren klassischen Kriegen zwischen den regulären Streitkräften zweier Staaten.

- In diesen "neuen Kriegen" treten neue Kriegsakteure (illegitime Kämpfer, Aufständische, kriminelle Banden, Warlords, Terroristen etc.) mit neuen Motiven und Interessen (Kampf gegen die staatliche Ordnung / die Regierung, religiöse oder ethnische Konkurrenzen, sich vom Krieg zu ernähren etc.) auf, die sich nicht an die Regeln des Kriegsvölkerrechts (Genfer Konventionen etc.) halten.

- Eine ganz neue Bedrohung ist der Terrorismus.

Ein Beispiel für die Wirkmächtigkeit dieser Behauptungen ist die Argumentation, mit der Erhard Eppler, in den 1980er Jahren einer der prominenten Vertreter der Friedensbewegung, ab Ende der 1990er Jahre für den militärischen Einsatz im ehemaligen Jugoslawien und für ein Zusammengehen von Pazifisten mit Militärs plädierte (u.a. "Gehetzte Vorreiter", taz Debattenseite, 19.11.2001)

Tatsächlich sind die Behauptungen Münklers und anderer über die "neuen Kriege" empirisch falsch und irreführend:

- Bereits von den weltweit rund 230 Gewaltkonflikten, die während des Kalten Krieges (1950-1989) stattgefunden haben, waren über 80 Prozent innerstaatliche.

- Die Befreiungs- und Entkolonisalisierungskriege der 50er- bis 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts waren sämtlich "asymmetrische" Gewaltkonflikte zwischen den regulären Streitkräften der Kolonialmächte und den Aufständischen/Befreiungsorganisationen o.ä. in den damaligen Kolonien.

- "Asymmetrische" Gewaltkonflikte waren auch der Krieg der südvietnamesischen Vietcong gegen die regulären Streitkräfte der USA (1966-1975), der Krieg der von den USA unterstützten islamistischen Mudschaheddin in Afghanistan gegen die sowjetische Besatzungsarmee (1980-1988) oder der fast 50-jährige Krieg der britischen Streitkräfte gegen die Irisch-Republikanische Armee (IRA) in Nordirland.

- Auch in diesen asymmetrischen Gewaltkonflikten während der Phase des Kalten Krieges existierten bereits die Motive und Interessenlagen von Konfliktakteuren, die dann von Münkler und anderen erstmals mit Blick auf die ersten innerjugoslawischen Zerfallskriege (Slowenien, Kroatien, Bosnien) der Jahre von 1991 bis 1995 als "neu" behauptet wurden.

- Und in all den asymmetrischen Gewaltkonflikten während der Phase des Kalten Krieges missachteten nicht nur die "irregulären" Kämpfer der einen Seite die Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts (an die sie formal nicht gebunden waren), sondern auch die regulären Streitkräfte der anderen Seite, für die diese Bestimmungen völkerrechtlich verbindlich sind.

- Das gilt auch für die Kriege, die die regulären Streitkräfte der USA, der Nato sowie Russlands seit Ende des Kalten Krieges im Irak, gegen Serbien/Montenegro, in Tschetschenien und in Afghanistan führten.

- Auch der "Terrorismus" (der Begriff wird hier nur mit Vorbehalt benutzt, da es bis heute keine international vereinbarte Definition gibt), mit dessen Bekämpfung sowohl der Westen wie auch Russland seit den Anschlägen vom 11. September 2001 den Einsatz militärischer Mittel in immer stärkerem Maße begründen, ist keineswegs eine "neue Bedrohung".

- "Terroristische" Anschläge gab es bereits im 19. Jahrhundert, zum Beispiel gegen das britische Königreich. Auch einige der Befreiungsbewegungen der 1950er bis 1980er Jahre und ihre Führer wurden damals vor allem von westlichen Regierungen als "Terrororganisationen" und "Terroristen" gebrandmarkt (zum Beispiel die Befreiungsbewegung der südafrikanischen Schwarzen gegen das Apartheid-Regime und ihr Führer Nelson Mandela oder die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und ihr Vorsitzender Yassir Arafat). Neu ist allerhöchstens, dass die islamistisch gerechtfertigten Terroranschläge seit Anfang der 1990er Jahre (von denen über 95 Prozent bislang im Krisenbogen zwischen Marokko und Pakistan stattgefunden haben und deren Opfer zu über 95 Prozent Muslime waren) inzwischen auch die Wohlstands- und (vermeintliche) Sicherheitsinsel Europa erreicht haben.

Der Druck der Bilder

Tatsächlich neu sind die mediale Vermittlung von Gewaltkonflikten und der dadurch entstandene massive Handlungsdruck. Bedingt durch die neuen Kommunikationsmittel und noch verschärft durch die wachsende Konkurrenz zwischen den elektronischen Medien (in Deutschland seit der Zulassung privater Fernseh- und Rundfunksender Ende der 1970er Jahre) strömen in immer schnellerer Abfolge immer mehr Bilder und andere (vermeintliche) Informationen von immer mehr Quellen aus Krisen- und Konfliktregionen auf die Internet- und Handynutzer sowie Fernsehzuschauer ein.

Das folgt der Regel: Wer verbreitet die spektakulärsten, blutigsten, aufregendsten Bilder und Informationen als Erster? Die Printmedien stehen unter Druck, zumindest einen Teil der elektronisch übermittelten Bilder und Informationen nachzudrucken - oft ohne in der Lage zu sein, die Seriosität zu überprüfen.

All das erhöht den Handlungsdruck auf die politisch Verantwortlichen in Regierung und Parlament und den Erwartungsdruck in der Bevölkerung, dass endlich etwas geschieht, um das Leiden von Menschen in Konfliktregionen zu beenden. Damit wird der Boden bereitet für den Einsatz von Gewaltmitteln.

Der sogenannte Islamische Staat (IS) verschärft diesen Druck noch, indem er als erster Gewaltakteur der Geschichte unter höchstprofessioneller Nutzung sämtlicher klassischer wie moderner Medienformate und Kommunikationsintrumente die Bilder und Videos der eigenen Gräueltaten weltweit verbreitet.

Einäugiger Pazifismus ist unglaubwürdig

Eine wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit von Pazifismus ist seine Glaubwürdigkeit. Das bedeutet, den Einsatz und die Androhung militärischer Gewaltmittel ausnahmslos zu kritisieren, egal, wo und durch wen. An dieser Glaubwürdigkeit mangelt es bislang mit Blick auf den Ukrainekonflikt in Teilen der Friedensbewegung und auch bei pazifistischen Gruppen und Organisationen. Ein Beispiel für diese fehlende Glaubwürdigkeit ist der Textvorschlag für Reden beim Ostermarsch 2014, der damals von der Kooperation für den Frieden (an der Pax Christi, der Bund für soziale Verteidigung, die DFG-VK und andere Organisationen mit pazifistischem Selbstverständnis beteiligt sind) beschlossen und bundesweit verbreitet wurde. In diesem Text findet sich kein kritisches Wort zu der kurz zuvor unter Einsatz und Androhung militärischer Gewaltmittel erfolgten völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und auch nicht zu der - ebenfalls völkerrechtswidrigen - hybriden Kriegsführung Russlands in der Ostukraine. Auch in vielen späteren Texten aus der Friedensbewegung kommt diese notwendige Kritik am Vorgehen Russlands nicht vor. Und bei zahlreichen Veranstaltungen seit Frühjahr 2014 habe ich erlebt, dass die Völkerrechtswidrigkeit des russischen Vorgehens unter Verweis auf die gravierenden völkerrechtswidrigen Kriege und anderen Gewaltakte des Westens in den letzten 25 Jahren relativiert, verharmlost oder gar völlig geleugnet wurde. So denunzierte Jürgen Rose, Ex-Oberstleutnant und Vorstandsmitglied im Arbeitskreis Darmstädter Signal sowie in Teilen der Friedensbewegung wegen seiner scharfzüngigen Kritik an Bundeswehr und Nato sehr geschätzt, Kritiker des völkerrechtswidrigen Vorgehens Russlands sogar mit dem Vorwurf, sie seien "... der antirussischen Propaganda von einer vorgeblichen Annexion der Krim auf den Leim gekrochen, ganz so wie die übergroße Mehrheit der hiesigen Konzernmedien-Journaille, auf deren Stirn in kapitalen Lettern das Qualitätssiegel Brainwashed by U.S. aufscheint". Jede weitere Debatte über diese Frage und eine von westlichen wie von russischen Regierungsinteressen unabhängige und souveräne eigene Haltung schloss Rose aus mit der apodiktischen Feststellung: "Der Behauptung, bei der Sezession der Krim handle es sich in Wahrheit um eine Annexion seitens Russlands, kommt in etwa der gleiche Erkenntniswert zu wie der Aussage, dass die Erde kein Ellipsoid, sondern eine Scheibe sei."

Rose und auch viele andere Apologeten des russischen Vorgehens berufen sich auf den Hamburger Strafrechtsprofessor und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, der den Kosovo-Krieg der Nato von 1999 und den Irak-Krieg der USA von 2003 in Artikeln für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) noch eindeutig als völkerrechtswidrig eingestuft hatte.

In einem Artikel für die FAZ vom 7. April 2014 verharmloste Merkel die Annexion der Krim durch Russland zu einem innerukrainischen Sezessionsvorgang, auf den völkerrechtliche Kriterien "keine Anwendung" fänden. Dabei beschönigte Merkel die Umstände und das Ergebnis des von Russland mit Gewaltmitteln durchgesetzten Referendums zur Abspaltung der Krim von der Ukraine vom März 2014. Weder Rose noch Merkel haben ihre Haltung bis heute korrigiert, obwohl Präsident Putin inzwischen längst öffentlich eingeräumt hat, was er zunächst geleugnet hatte: dass im Vorfeld des Referendums vom März 2014 russische Soldaten und Waffen auf die Krim verlegt wurden.

Die unkritische Haltung gegenüber dem völkerrechtswidrigen russischen Vorgehen auf der Krim und in der Ostukraine offenbart einen besorgniserregenden Mangel an geistiger Unabhängigkeit und intellektueller Souveränität. Sie trägt dazu bei, die universell gültigen Normen des Völkerrechts und der Menschenrechte zu unterminieren und zu schwächen. Man sollte, kann und muss

- die völkerrechtswidrigen Kriege des Westens seit Ende des Kalten Krieges schärfstens kritisieren;

- die Hauptverantwortung dafür, dass es ab Ende 2013 zu dem eskalierenden Konflikt in der Ukraine und zwischen dem Westen und Russland über die Ukraine kam, bei der Politik der Nato- und EU-Staaten in den letzten 25 Jahren ansiedeln (Nato-Osterweiterung unter Bruch des Gorbatschow 1990 gegebenen Versprechens; die fatale Ukraine-Politik der EU seit 2005; das "Krisenmanagement" der EU seit Beginn der Maidan-Proteste Anfang 2014; die konfliktverschärfende Rolle der USA etc.);

- die einseitige Berichterstattung und Kommentierung zum Ukraine-Konflikt in deutschen und anderen westlichen Medien sowie die demagogischen Angriffe gegen die Person von Präsident Putin kritisieren (was etwas anderes ist, als eine - allerdings sehr notwendige - scharfe, aber sachliche Kritik sowohl an Putins zunehmend autoritärer bis diktatorischer Innenpolitik wie an Teilen seiner Außenpolitik);

- analysieren und erklären, warum Putin mit Blick auf die Krim und die Ostukraine so gehandelt hat (was nicht bedeutet, diese Handlungen zu entschuldigen, billigen oder rechtfertigen);

- mit ebenfalls guten analytischen Argumenten der Behauptung widersprechen, nun seien Polen und die baltischen Staaten von Russland bedroht und daher bedürfe es einer Aufrüstung der Nato in diesen osteuropäischen Staaten;

- die von den USA und der EU gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen als das von Anfang falsche und zum Scheitern verurteilte, weil völlig untaugliche Mittel zur Änderung der russischen Politik kritisieren;

- für konkrete erste Schritte der Nato zur Deeskalation des Konfliktes plädieren (zum Beispiel: eindeutiger Beschluss, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nicht geplant ist), damit dann auch Putin Deeskalationsschritte machen kann, (all das ist meine, in zahlreiche Reden, Diskussionsbeiträgen, Artikeln und Büchern der letzten 25 Jahre öffentlich vertretene Position)

- und andererseits zugleich auch das russische Vorgehen und seine Völkerrechtswidrigkeit klar benennen und kritisieren. Das wäre eine intellektuell souveräne und glaubwürdige pazifistische Position.

Die Debatte über die "Nützlichkeit" militärischer Gewalt vorantreiben

PazifistInnen lehnen den Einsatz militärischer Gewaltmittel grundsätzlich ab - und belassen es leider oft bei dieser Haltung. Doch es wäre wünschenswert, dass sich PazifistInnen stärker als bislang an der Debatte über die "Nützlichkeit" vergangener oder laufender Kriege beteiligen, ohne Angst zu haben, damit ihre grundsätzliche Position zu kompromittieren.

Denn durch die Debatte über die "Nützlichkeit" vergangener oder laufender Kriege ließe sich die Skepsis gegenüber der Fortsetzung aktueller Kriege und gegenüber künftigen Kriegseinsätzen in der Bevölkerung verbreiten - bis hinein in Kreise von Soldaten und konventionellen Sicherheitspolitikern. Denn es lässt sich ja aufzeigen, dass sämtliche Kriege, die in den letzten 25 Jahren seit Ende des globalen Ost-Westkonflikts von westlichen Staaten (und auch von Russland) geführt wurden, gemessen an ihrer erklärten Zielsetzung gescheitert sind. Und dass sie die Lage für die Menschen in den ehemaligen Kriegsgebieten nicht nachhaltig verbessert haben. Das gilt für die militärischen Interventionen der 1990er Jahre im ehemaligen Jugoslawien (wenn man denn bereit ist, die aktuelle Situation im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina und in Serbien nüchtern und ohne Scheuklappen und Schönfärberei zur Kenntnis zu nehmen). Das gilt für Afghanistan und Irak. Und das gilt ganz besonders für den nunmehr seit den Anschlägen vom 11. September 2001 geführten "Krieg gegen den Terrorismus". Dieser Krieg ist gemessen an seinen damals von den kriegführenden Regierungen erklärten Zielen und dem Versprechen an ihre Bevölkerungen, diese neue Bedrohung schnell zu überwinden, nicht nur gescheitert, sondern er hat sich als völlig kontraproduktiv erwiesen und das Problem des islamistisch gerechtfertigten Terrorismus und die von ihm ausgehende Bedrohung noch erheblich verstärkt. Für jeden - überwiegend durch Luft- und Drohnenangriffe der USA - getöteten tatsächlichen oder mutmaßlichen Terroristen sind zehn neue nachgewachsen. Die Zahl der terroristischen Anschläge und die Zahl ihrer Opfer haben sich in den letzten 15 Jahren vervielfacht. Und dieser Krieg hat seit seinem Beginn am 7. Oktober 2001 mit US-Luftangriffen auf Ziele des Al-Quaida-Netzwerkes von Osama bin Laden in Afghanistan eine enorme geographische Ausweitung erfahren: Inzwischen werden Ziele bekämpft in Pakistan, Mali, Libyen, Syrien, Irak, Somalia, Jemen, dem israelisch besetzten Gaza-Streifen und der ägyptischen Sinai-Halbinsel sowie weiterhin in Afghanistan. Die Ausweitung auf weitere Länder und Regionen ist absehbar. Ein Ende dieses Krieges oder gar ein Sieg sind nicht absehbar. Daher gibt es überhaupt keinen begründeten Anlass für die Hoffnung, die aktuelle Schlacht und jüngste Eskalationsstufe dieses Krieges, nämlich die militärische Bekämpfung des IS mit dem Ziel seiner "Vernichtung" (so US-Präsident Obama vor der Uno-Generalversammlung im September 2014) könne Erfolg haben. Seit dem 24. August 2014 bis Ende Juni 2016 hat die von den USA geführte Kriegskoalition in über 12.000 Einsätzen mehr als 42.000 hochmoderne, zumeist lasergesteuerte Bomben, Drohnen und Raketen gegen Ziele des IS im Irak und in Syrien verschossen. Hinzu kommen Bodeneinsätze von US-Spezialkommandos Gemessen an diesem massiven militärischen Einsatz ist das Ergebnis ziemlich marginal.

Begründete Ausnahmen

Pazifismus als grundsätzliche und ausnahmslose Ablehnung militärischer Gewaltmittel ist nicht nur eine ehrbare und völlig legitime Haltung, sondern auch politisch dringend notwendig: als ständige Infragestellung und als Korrektiv für diejenigen, die sich selber zwar für Abrüstung und die Stärkung ziviler Instrumente zur Konfliktbearbeitung engagieren, aber (noch) nicht auf die nationale Verfügung über militärische Mittel verzichten wollen.

Doch es gibt eine Ausnahmesituation, unter der vielleicht auch für PazifistInnen der Einsatz militärischer Mittel doch akzeptabel wäre: der nachweislich drohende oder gar bereits begonnene Völkermord und Verbrechen gegen die Menschheit - also zwei der vier "Kernverbrechen" (neben dem "Aggressionskrieg" und "Kriegsverbrechen"), die nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust und des von Nazideutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieges mit über 60 Millionen Toten 1945/46 vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal erstmals definiert und kodifiziert wurden und 1998 auch in das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes übernommen wurden.

In der Zeit des Kalten Krieges war die Frage einer Strafbarkeit dieser Verbrechen oder gar des Einsatzes militärischer Mittel, um sie zu verhindern oder zu beenden, tabu. Schon allein, weil die ständigen Vetomächte des Uno-Sicherheitsrates USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien auf freie Hand und Straflosigkeit für die von ihnen unter anderen in Vietnam, Algerien, Afghanistan und Nordirland verübten Kernverbrechen bedacht waren.

Zu einem von der Uno unter Kapitel 7 der Charta beschlossenen Einsatz militärischer Zwangsmittel (gemeint sind Truppen mit Kampfmandat im Unterschied zur Stationierung von Blauhelmtruppen zur Friedenssicherung nach Kapitel 6 der Uno-Charta sowie mit vorheriger Zustimmung der jeweiligen Konfliktparteien) kam es daher während der 40 Jahre des Kalten Krieges nur einmal: 1950 im Korea-Konflikt. Und das auch nur, nachdem die Uno-Generalversammlung nach monatelanger Blockade des Sicherheitsrates in dieser Angelegenheit einen entsprechenden Beschluss gefasst hatte.

Über einen Einsatz militärischer Zwangsmittel zur Verhinderung bzw. Beendigung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit oder anderen schweren Menschenrechtsverletzungen wurde erstmals nach Ende des Kalten Krieges angesichts der innerjugoslawischen Zerfallskriege ab 1991 diskutiert, damals unter der von Nato-Regierungen geprägten, irreführenden Überschrift "humanitäre Intervention". Dann 1994 mit Blick auf Ruanda und 1998/99 wegen des eskalierenden Gewaltkonfliktes zwischen Serben und Albanern im Kosovo.

Im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums wurde die Nato-Intervention in Afghanistan zum Teil mit menschenrechtlichen Argumenten gerechtfertigt und 2011 die Kriegsführung der drei Nato-Staaten Frankreich, USA und Großbritannien gegen den libyschen Herrscher Gaddafi. Die aktuelle Debatte dreht sich um Syrien.

Für PazifistInnen und auch für nicht grundsätzlich pazifistische Mitglieder der Friedensbewegung hat diese Debatte der letzten 25 Jahre drei zentrale Dilemmata:

1. Für alle vorab genannten (und auch andere) Gewaltkonflikte seit 1990 lässt sich feststellen, dass die von PazifistInnen/Friedensbewegten seit Jahrzehnten immer wieder eingeforderten zivilen Instrumente zur Prävention, Deeskalation und Beendigung dieser Konflikte entweder überhaupt nicht eingesetzt wurden oder nur unzureichend, viel zu spät oder gar in falscher, konfliktverschärfender Weise.

Ist das aber ein Grund für PazifistInnen zu sagen: Das ist dann nicht mehr "unser Bier"?

2. Die Rechtfertigungen des Westens für seine militärischen Interventionen in die Gewaltkonflikte der 1990er Jahre als angeblicher "ultima ratio" sind sämtlich falsch. Im bosnischen Srebrenica fand im Juli 1995 zwar unzweifelhaft ein Völkermord durch serbische Nationalisten an rund 8000 muslimischen Männern statt. Doch dieser Völkermord hätte verhindert werden können, wenn die Regierungen der USA (mit Unterstützung Frankreichs und Deutschlands) die ostbosnischen Enklaven nicht ganz bewusst den Serben zur Eroberung überlassen hätten, um dann auf der Basis zweier ethnisch "homogener" Teilrepubliken in Bosnien das "Friedensabkommen" von Dayton von Dezember 1995 zu besiegeln.

Im Kosovo-Konflikt wäre im Herbst 1998 eine Deeskalation durch eine (vom damaligen US-Botschafter bei der Nato in Brüssel sogar vorgeschlagene) gemeinsame amerikanisch-russische Peacekeeping-Mission mit Uno-Mandat möglich gewesen. Doch die Regierung in Washington wollte den dann ab März 1999 geführten Krieg gegen Serbien/Montenegro: um die Bedeutung der Nato zu unterstreichen, deren weitere Notwendigkeit und hohe Kosten nach Ende des Kalten Krieges selbst in konservativen Politikerkreisen in Europa zunächst in Frage gestellt wurde. Und um die Vormachtstellung der USA in der Nato zu bekräftigen.

Einzig überzeugendes Szenario für den Einsatz militärischer Zwangsmittel zur Verhinderung/Beendigung schwerer Menschenrechtsverletzungen war die Situation in Ruanda Anfang 1994. Dort drohte damals erwiesenermaßen ein Völkermord größeren Ausmaßes. Die Beweise für die Vorbereitungen dieses Völkermordes wurden von einer Beobachtergruppe der Uno gesammelt. Doch als der damalige Uno-Generalsekretär Boutros Boutros Ghali dem Sicherheitsrat diese Beweise vorlegte und die Entsendung von 25.000 Blauhelmsoldaten zur Stationierung zwischen den Siedlungsgebieten der Hutus und Tutsis forderte, um den drohenden Völkermord zu verhindern, erhielt er von keinem der 15 Ratsmitglieder Unterstützung. Kein Land war bereit, für die geforderte Blauhelm-Mission Soldaten, Transporthubschrauber oder andere Logistik bereitzustellen. Der dann folgende Völkermord an fast einer Million Menschen in Ruanda wurde nicht verhindert wegen mangelnden Interesses der übrigen Mitglieder der Staatengemeinschaft.

Rechtfertigt diese Erfahrung der letzten 25 Jahre aber tatsächlich die Haltung, dass schwere Menschenrechtsverletzungen immer nur Vorwand und Camouflage seien für militärische Interventionen aus anderen Interessen, und dass auch das Konzept der "Schutzverantwortung" (Responsibility for Protect) nur "eine neue Verkleidung" derartiger Interessen ist?

3. Militärische Instrumente (Soldaten, Waffen, Ausrüstung etc.) existieren bislang nur in Besitz oder unter Verfügung von Nationalstaaten oder dem Militärbündnis Nato. Wenn sie in der Vergangenheit eingesetzt wurden, hatten - selbst, wenn der Einsatz vom Uno-Sicherheitsrat mandatiert war und die Truppen unter einem Uno-Kommando standen - die nationalen Interessen der jeweiligen Entsendestaaten immer einen - oftmals problematischen - Einfluss auf den Verlauf der Mission.

Ist das aber ein unveränderliches Naturgesetz?

Trotz aller schlechten Erfahrungen der letzten 25 Jahre plädiere ich dafür, dass PazifistInnen die Frage von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen auch als Herausforderung für ihre Haltung begreifen und ernstnehmen. Und dass sie sich aktiv an der Debatte beteiligen, was zur Verhinderung/Beendigung derartiger Verbrechen getan werden muss, selbst dann, wenn zivile Instrumente zuvor nicht oder nur unzureichend eingesetzt wurden. Oder vielleicht tatsächlich frühzeitig und umfassend eingesetzt wurden und dennoch gescheitert sind. Auch ein solches Szenario ist denkbar. Denn sonst werden die Debatte und Entscheidungen immer wieder jenen überlassen, die ausschließlich oder überwiegend militärische Instrumente zur Konfliktbearbeitung im Sinn haben.

PazifistInnen sollten sich einsetzen für die Schaffung einer internationalen Uno-Truppe, die unter klar definierten Regeln vom Uno-Sicherheitsrat oder besser noch durch eine qualifizierte Mehrheit der Uno-Generalversammlung eingesetzt werden kann, um Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschheit zu verhindern beziehungsweise zu beenden. Ob es sich dabei um eine Polizeitruppe oder eine militärische Blauhelmtruppe handelt, wäre noch genauer zu klären. Wichtig ist, dass diese Truppe von ihrem Mandat und ihrer Ausrüstung her in der Lage wäre, etwa im Konfliktfall Ruanda 1994 die gewaltsamen Übergriffe der Hutus auf die Tutsis zu verhindern. Entscheidend ist, dass diese Uno-Truppe nicht aus bereits bestehenden nationalen Polizeieinheiten oder Soldatenverbänden zusammengestellt wird, über die dann wiederum nationale Interessen der entsendenden Mitgliedsstaaten die jeweilige Mission bestimmen würden. Stattdessen sollte die neue Uno-Truppe aus BürgerInnen der Mitgliedsstaaten bestehen, die sich individuell bei der Uno für diese Truppe bewerben, dort eine gemeinsame Ausbildung erhalten und auf ihre künftigen Einsätze vorbereitet werden. Die Forderung nach dem Aufbau einer solchen multinationalen Uno-Truppe sollte einhergehen mit der Forderung nach dem Abbau aller militärischen Instrumente unter nationaler Verfügung.


Andreas Zumach ist politischer Korrespondent der taz bei der Uno in Genf und Autor ("Globales Chaos - machtlose Uno: Ist die Weltorganisation überflüssig geworden?"; Zürich 2015). Bereits Anfang der 1980er Jahre war er einer der Sprecher des damaligen bundesweiten Koordinierungsausschusses der Friedensbewegung. Er ist seit Jahrzehnten Mitglied der DFG-VK. Der Text beruht auf einem Referat, das er Ende April bei einem Seminar der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden und der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg gehalten hat.

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Quelle:
ZivilCourage Nr. 3 - August 2016, S. 24 - 27
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2016

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