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STANDPUNKT/112: Nur Frieden bringt Gewinn - Anleitung zur Gewaltfreiheit (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 37 - 1. Quartal 2013
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Nur Frieden bringt Gewinn
Anleitung zur Gewaltfreiheit

Von Bernhard Nolz



In Zeiten der Globalisierung muss die Friedenspädagogik nicht neu erfunden, aber anders akzentuiert werden. Alle Bildungseinrichtungen, insbesondere die Schulen, müssen sich zu aller erst der Aufgabe stellen, zum Frieden und zur Gewaltfreiheit beizutragen zu wollen. Das schließt Angebote zur Bewusstseinsbildung ("Friedensgesinnung") ebenso ein wie die Anleitung zum gewaltfreien Handeln (friedliche Konfliktbearbeitung) sowie die Wahrnehmung der Bestände des Wissens vom Frieden, von seiner Förderung und von seinen Verhinderungen.

Entscheidend ist, den Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit in der Schule zu verlagern: von der Befähigung zu einer individuellen friedlichen Verhaltensweise hin zur Anleitung für Formen gemeinschaftlichen (Friedens-)Handelns und für schulische Übungen zur kollektiven Gewaltfreiheit.


Vom Recht auf Leben und auf friedliche Mittel

Die friedenspädagogische Grundlagenarbeit ergibt sich aus der Notwendigkeit des Widerstandes gegen eine sich mit unterschiedlicher Ausprägung global ausbreitende Politik, die den Krieg zur Durchsetzung von Interessen für gerechtfertigt hält.

Die Friedenspädagogik beteiligt sich nicht an den verschiedenen wissenschaftlichen, politischen und medialen Versuchen, kriegerisches Eingreifen zu rechtfertigen. Die FriedenspädagogInnen halten an den Menschenrechten fest, deren wichtigstes das Recht auf Leben ist. Menschenrechte und Völkerrecht gebieten, dass der Frieden nur mit friedlichen Mitteln erreicht werden darf und nicht mit Gewalt durchgesetzt wird. Vom Völkerrecht kann eben nicht der Spielraum für kriegerische Gewalt abgeleitet werden, den sich einige Staaten wie z.B. die USA oder Deutschland herausnehmen.

Auch die Versuche, parlamentarisch beschlossene Kriegseinsätze in der Schule legitimieren zu lassen, scheitern an der Verpflichtung, zum Frieden erziehen zu sollen.


Gemeinschaftlich gegen die Globalisierung

Im Blick auf die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf das friedliche Zusammenleben der Menschen und der Völker erscheint es notwendig, die friedenspädagogische Arbeit in den Bildungseinrichtungen zu verändern. Es gilt von nun an, die pädagogischen Anstrengungen neu zu akzentuieren: von der Befähigung zu einer individuellen friedlichen Verhaltensweise hin zur Anleitung für Formen gemeinschaftlichen Friedenshandelns und für gewaltfreie Aktionen und Projekte. Zwar ist das friedliche Verhalten des Einzelnen weiterhin die unabdingbare Voraussetzung für eine humane Gesellschaft, deren Gewaltstrukturen aber können nur durch gemeinschaftliches Denken und Handeln überwunden werden.

Diese friedenspädagogische Anstrengung kann an vielen Schulen nicht mehr zufriedenstellend bewältigt werden. Friedenspädagogisches Know-how muss den Schulen, vor allem in Form von LehrerInnen-Fortbildung zur Verfügung gestellt werden.


Friedensbildung: zwischen Gewaltfreiheit und Occupy-Protest

Wie nachhaltig Friedensbildung wirken kann, zeigt sich an der Occupy-Bewegung, die ihre gesellschaftsverändernde Bedeutung dadurch erhält, dass sie immer dann als gewaltfreie Basisbewegung in Erscheinung tritt, wenn es notwendig ist, und dabei kraftvoll zur Wirkung kommt, ohne sich zu verschleißen. Den unverhältnismäßigen Reaktionen der Staatsgewalt auf diese und andere Proteste begegnet die Friedenspädagogik mit den bewährten Konzepten der beziehungsfreundlichen Kommunikation, dem herrschaftsfreien Dialog, der gewaltfreien Aktion und der Mediation, die flächendeckend und mit Unterstützung außerschulischer Bildungsträger in den Bildungseinrichtungen Verbreitung finden.

Nach den Anschlägen von New York am 11. September 2001 haben Bund und Länder das Gegenteil beschlossen und den "Krieg gegen den Terror" in die Gesellschaft und in die Schulen getragen. Mit so genannten Kooperationsvereinbarungen wird der Bundeswehr-Kriegspropaganda Tor und Tür geöffnet.

Die VertreterInnen der Friedenspädagogik haben dieses Vorgehen entschieden kritisiert und auf den schulgesetzlichen Auftrag verwiesen, zum Frieden erziehen zu sollen. In den Schulen ist nach ihrer Ansicht kein Platz für eine sicherheitspolitische Akzeptanzerziehung zugunsten der Option von Krieg und militärischer Gewalt.

Wenn die Bundeswehr Krieg führt, muss sie die Schulen meiden. Wenn sie keinen Krieg führt, liegt es im Ermessen der Lehrkraft, ob der Auftritt eines Vertreters der Bundeswehr in den Unterricht passt.


Die revolutionäre Idee vom Frieden mit friedlichen Mitteln

FriedenspädagogInnen in der ganzen Welt tragen dazu bei, dass die Menschen Vorstellungen davon entwickeln und durchsetzen können, wie ein glückliches und friedliches Leben in der Gemeinschaft mit Anderen möglich wird. Und sie setzen sich für die Völkerverständigung ein, was Krieg, Fremdenhass, Rassismus und eine rücksichtslose Interessenpolitik ausschließt. Der Friedensforscher Johan Galtung nennt es "eine revolutionäre Idee: dass der Frieden mit friedlichen Mitteln erreicht werden soll." Und der Revolutionär Che Guevara hat, bevor er ermordet wurde, verkündet: "Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker".

Diese "Zärtlichkeit" soll in die Herzen der SchülerInnen gelangen, damit die Feindbilder der Erwachsenen überwunden werden können.


SchülerInnen als BotschafterInnen des Friedens

Dann können die SchülerInnen als BotschafterInnen des Friedens auftreten. Das bezieht sich auf alle Bereiche des Friedens: den Frieden mit sich selbst, den Frieden zwischen den Menschen, den Frieden zwischen den Völkern und Staaten und den Frieden mit der Natur. Jede/r kann selbst entscheiden, wo er/sie eigene Schwerpunkte bei der Friedensarbeit setzen möchte.

Die Erfolge der Friedenspädagogik in den Schulen sind auch jetzt schon nicht von der Hand zu weisen. Z.B. die flächendeckende Verbreitung von Streitschlichter-Programmen oder die "Schulen ohne Rassismus". Doch wird es immer schwieriger, daran festzuhalten, weil es zur Politik der Globalisierung gehört, die sozialen Bindungen und gemeinschaftlichen Sicherungssysteme der Menschen zu schwächen oder zu zerstören.

Die Bundesregierung zahlt sogar Geldprämien an Mütter, die mitihrem Kind in der häuslichen Einsamkeit verkümmern wollen, statt sich von den Gemeinschaftserlebnissen in einer Kita anregen zu lassen.


Gewaltfreier Widerstand schafft demokratische Freiräume

Solchen unmenschlichen Entwicklungen muss Widerstand entgegen gesetzt werden. Es ist die Aufgabe der Friedenspädagogik, in Theorie und Praxis dazu beizutragen, dass sich vor allem in den Bildungseinrichtungen das Bewusstsein und die Aktionsformen entwickeln, mit denen staatlichen Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten gemeinsam und gewaltfrei entgegen getreten und für Verbesserungen gekämpft werden kann. Zu solchen demokratischen "Verbesserungen" in der Schule gehören z.B. von den SchülerInnen selbstbestimmte Lernbereiche und Leistungskriterien, flexible kostenfreie Nachmittags- und Freizeitangebote sowie Beratungsdienste und die völlige Lernmittelfreiheit.

FriedenspädagogInnen stellt sich die Aufgabe, zusammen mit SchülerInnen, Eltern und KollegInnen Freiräume innerhalb der Schule zu schaffen, um dort - und mit Unterstützung außerschulischer PartnerInnen - gewaltfreie Handlungsansätze ins Gespräch und in gemeinsamen Aktionen zur Durchsetzung zu bringen und neue Formen unmittelbarer Beteiligung an Entscheidungsprozessen auszuprobieren.

Dieses Eingreifen wird zur friedenspädagogischen Notwendigkeit, wenn z.B. mit der Schuldenbremse gesellschaftliche Emanzipation und schulischer Fortschritt abgewürgt werden sollen.


Gewaltfreiheit und Kooperation: Alle sollen gewinnen!

FriedenspädagogInnen können Friedensprozesse initiieren und moderieren. Deren "Zauberwörter" heißen heute Gewaltfreiheit und Kooperation. Es geht darum, die Konflikte der Menschen, insbesondere die der Jugendlichen, in Dialoge und Verhandlungen "auf Augenhöhe" zu transformieren und angemessenen Lösungen zuzuführen, die sich an Win-Win-Ergebnissen orientieren. In einseitigen, das sind gewaltsame Lösungen, steckt der Keim zu neuer Gewalt und neuem Unrecht, das von Jugendlichen auch als solches empfunden wird, auch wenn sie es oftmals nicht ausdrücken können.

Alle Gewalthandlungen, vor allem Kriege, nehmen Opfern und Tätern die Menschenwürde und setzen sie der Willkür und dem Unrecht aus. Diesem Unrecht wird von den PolitikerInnen mit Gewaltandrohungen und Drohnen, mit Kriegen und Rüstungslieferungen sowie mit geheimen Rechtsmanipulationen zum Durchbruch verholfen. In der Tradition von Bertha von Suttner setzt die Friedenspädagogik weiterhin auf konstruktive Konfliktbearbeitung, auf Völkerverständigung, auf internationale Friedenskonferenzen und auf Abrüstung nach innen und außen.

In den Schulen führt kein Weg daran vorbei, den Willen der SchülerInnen zum Frieden mit friedlichen Mitteln erheblich zu stärken.


Gerechtigkeit und Frieden sind das Ziel

Angesichts der Wettbewerbs- und Konkurrenzideologie der Globalisierung beteiligen sich die FriedenspädagogInnen an der Wiederentdeckung des Sozialen im Bildungsbereich und in anderen politischen Zusammenhängen. Soziale Bildung richtet sich gleichermaßen gegen die pädagogische Verflachung ("Leben ist mehr als Arbeit!") einer Berufsorientierung in den allgemeinbildenden Schulen wie gegen die Auswirkungen des Hartz-IV-Systems, das vor Zwangsmaßnahmen und der Verfestigung von Kinderarmut nicht zurückschreckt. Dagegen bringt die Friedenspädagogik Lernmaterialien zu Modellen einer umfassenden Grundsicherung sowie über solidarisches Wirtschaften in den Schulen zur Kenntnis und macht neue Verhaltens- und Denkformen erfahrbar. Außerdem sollen dort Alternativen zum Krisenkapitalismus kennengelernt und weiterentwickelt werden.

Das dürfte enorme Auswirkungen auf das Beurteilungs- und Selektions(un)wesen in den Bildungseinrichtungen haben. Zukünftig können Leistungen, die in Partnerschafts-, Team- und Gruppenarbeit erbracht werden, dem individuellen Leistungsvermögen positiv zugerechnet werden. Damit könnte das gewalttätige Konkurrenz- bzw. Wettbewerbsprinzip erheblich eingeschränkt werden.

In den Bildungseinrichtungen können wir unser Verständnis vom gesellschaftlichen Allgemeingut in der Demokratie vermitteln: Die Bereiche der Daseinsvorsorge (Bildung, Gesundheit, Wohnen, Kultur, Energie u.a.) sollen nicht länger privatem Gewinnstreben unterliegen, sondern als Allgemeingut gemeinschaftlichen Zwecken dienen und zur freien Nutzung zur Verfügung stehen.

Mit den SchülerInnen können kommunale Entwicklungsmöglichkeiten der solidarischen Daseinsvorsorge im Unterricht erarbeitet und öffentlich präsentiert werden.


Die Inklusion bringt den sozialen Frieden voran

Mit dem 2008 in Kraft getretenen Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen haben die Vereinten Nationen (UN) ein radikales Umdenken in den Schulen in Richtung Frieden eingeleitet.

Zentraler Begriff ist die Inklusion. Das pädagogische Konzept der "einen Schule für alle" zielt auf das angemessene, nicht-hierarchische und damit demokratische Eingehen auf die vorhandene Verschiedenartigkeit der SchülerInnen. Im "Index für Inklusion" werden drei Aufgaben entworfen: Inklusive Kulturen schaffen, inklusive Strukturen etablieren, inklusive Praktiken entwickeln. Ein friedenspädagogisches Programm!

Gemeinsam mit den SchülerInnen kann überlegt werden, wie die Inklusion in der Schule voran gebracht werden kann. Schnell werden alle zu der Erkenntnis gelangen, wie wichtig die Inklusion von Menschen mit Behinderung für die Gestaltung einer lebenswerten Schule ist. Wenn alle in die Schulgemeinschaft eingeschlossen werden, kann es Ausschlüsse wegen einer Behinderung, wegen einer Lernschwäche, wegen einer Verhaltensabweichung oder aus anderen Gründen nicht mehr geben. Auf diese Weise kann sich eine Kultur des Friedens ausbreiten und die Gewaltkultur von Politik und Wirtschaft zurückgedrängt werden. Es leuchtet ein, dass mit der Verwirklichung des Prinzips Inklusion ein Weg beschritten wird, auf dem der soziale Frieden in einem bedeutenden Gesellschaftsbereich wieder hergestellt werden kann.

Inklusion fängt ganz einfach an - indem der gegenseitige Respekt und ein gewaltfreier Umgang miteinander zur alltäglichen pädagogischen Praxis gehören.


Lernen ohne Gewalt

Alle Jugendliche brauchen gemeinschaftliche Integrationserfahrungen, um sich über eigene Lernerfolge und die Anderer freuen und im friedlichen Miteinander leben zu können. Die FriedenspädagogInnen sehen deshalb ihre Aufgabe vor allem darin, in allen Bildungseinrichtungen die Lernprozesse zu fördern, die gemeinschaftsbildende, sozial aktivierende und gesellschaftspolitisch aufklärende Wirkungen haben und den gesellschaftlichen Frieden fördern. Wir gehen davon aus, dass die Mehrheit der in den Bildungseinrichtungen tätigen PädagogInnen die gleichen Ziele vertritt. Sie brauchen die Unterstützung und Ermutigung der Schulministerien, Landesregierungen und Landesparlamente.

Nur Frieden bringt Gewinn! Erziehung zum Frieden und Friedensbildung - jetzt!


Bernhard Nolz ist Lehrer i.R., Friedenspädagoge, Träger des Aachener Friedenspreises, Sprecher der Pädagoginnen und. Pädagogen für den Frieden (PPF) und
Forum Pazifismus-Redakteur.

*

Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit
Nr. 37 - 1. Quartal 2013, S. 38 - 41
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen)
mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK,
Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für Pazifismus,
Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
Redaktion: Am Angelweiher 6, 77974 Meißenheim
Telefon: 07824/664 04 87, Fax: 03212-102 82 55
E-Mail: Redaktion@Forum-Pazifismus.de
Internet: www.forum-pazifismus.de
 
Erscheinungsweise: in der Regel vierteljährlich in der zweiten Quartalshälfte.
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Die Bezugsgebühr für ein volles Kalenderjahr (4 Hefte) beträgt 20,- Euro
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2013