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STANDPUNKT/105: Was gesagt werden muss - Anmerkungen zu Günter Grass (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 33 - I/2012
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Was gesagt werden muss
Anmerkungen zum Prosagedicht von Günter Grass und dem Aufschrei der Empörung

Von Jochen Vollmer



1. Günter Grass schätzt die Gefahr, die gegenwärtig von Israel ausgeht, größer ein als die Gefahr, die vom Iran ausgeht. Israel denkt seit Monaten laut über einen militärischen Erstschlag gegen den Iran nach, der die mutmaßlichen Produktionsstätten von Atomwaffen zerstören soll. Die Asymmetrie der Machtverhältnisse ist offensichtlich. Israel ist ein militärisch hochgerüsteter Staat, der über Hunderte von Atomwaffen verfügt, während der Iran nicht einmal im Besitz einer einzigen nachgewiesenen Atomwaffe ist. Es ist möglich, dass der Iran gegen seine Beteuerung die Herstellung von Atomwaffen anstrebt.

2. Der Iran bestreitet permanent das Existenzrecht Israels, bestreitet den Holocaust und droht mit der Vernichtung Israels. Diese Vernichtungsrhetorik ist als Bedrohung Israels ernst zu nehmen. Sie wird - so vielfach die Kritik - von Grass nicht angesprochen. Es ist aber zu unterscheiden zwischen der Vernichtungsrhetorik auf der einen Seite und dem ernsthaften Vernichtungswillen und der tatsächlichen Vernichtungskapazität des Iran auf der anderen Seite.

3. Nicht fragen die Kritiker, worin die Bedrohung, der Israel ausgesetzt ist, ihren Grund hat. Diese Frage ist tabu. Israel verletzt seit 1947, also schon vor der Gründung des Staates, fortwährend und permanent die Menschenrechte und das Völkerrecht, indem es das palästinensische Volk seines Landes beraubt, es enteignet, Häuser und Olivenbäume seiner Bewohner zerstört, das palästinensische Volk aus seinen angestammten Gebieten vertreibt. Die Bedrohung, der Israel ausgesetzt ist, ist begründet in seinen permanenten Rechtsverletzungen an dem palästinensischen Volk und seinen permanenten Missachtungen der Resolutionen der Völkergemeinschaft. Erst unlängst hat der Staat Israel alle Verbindungen zum Menschenrechtsrat der UN abgebrochen. Damit stellt sich Israel außerhalb der Rechtsgemeinschaft der Vereinten Nationen.

4. Die israelische Regierung Netanjahu/Lieberman kann es sich nach eigenen Aussagen nicht leisten, aus Gründen der Sicherheit Israels den völkerrechtswidrigen Siedlungsbau einzustellen. Das heißt, um seiner Sicherheit willen meint Israel, das Völkerrecht fortlaufend brechen zu müssen. Dass seine Völkerrechtsverletzungen seine Sicherheit erst recht bedrohen, weigert sich Israel zu erkennen.

5. Ein militärischer Schlag Israels gegen den Iran - mit oder ohne Atomwaffen - hätte ungeahnte Folgen für die Region und für die Welt. Einen dritten Weltkrieg könnte niemand ausschließen. Israel gefährdet mit seiner ständigen militärischen Drohgebärde und seinem Drängen von deren Realisierung den Weltfrieden. Davor warnt Günter Grass. Sein Gedicht ist ein Aufschrei, der Aufschrei eines alten Mannes, der in seinem Leben durch Schweigen schuldig geworden ist und der auf seine alten Tage nicht wieder durch Schweigen schuldig werden will, bevor es definitiv zu spät ist und wir als Überlebende "allenfalls Fußnoten sind".

6. Warum Israel Atomwaffen haben darf, der Iran aber nicht, wird man in der Rechts- und Staatengemeinschaft nicht vermitteln können. Genau das ist das Problem, dass hier ständig mit zweierlei Maß gemessen wird ("Heuchelei des Westens"). Darauf kann der Iran, bei allen Schwierigkeiten, die er der Völkergemeinschaft macht, sich nicht einlassen. Ist es so schwer nachzuvollziehen, dass der Iran sich jede Bevormundung verbittet? Ein konstruktives Bemühen um einen gemeinsamen Weg muss auf jede Bevormundung verzichten.

7. Der Aufschrei der Israel-Lobby geschieht reflexartig. Ich unterscheide ausdrücklich zwischen dem Judentum und der Israel-Lobby und dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Die meisten Politiker und renommierten Presseorgane in Deutschland haben in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Israel-Lobby sich an der Empörung beteiligt, ohne nach der Intention des Grass-Gedichtes zu fragen. Aus Angst vor der Israel-Lobby begibt man sich - mit Immanuel Kant gesprochen - in die selbstverschuldete Unmündigkeit und verzichtet auf eigenverantwortliches Denken.

8. Es ist für mich unerträglich, wenn Israelkritik mit Antisemitismus gleichgesetzt wird. Auch wer in seiner Israelkritik irrt, weil er die politische Situation anders oder falsch analysiert, ist noch lange kein Antisemit. Dass die Israel-Lobby und der Zentralrat der Juden in Deutschland die exklusive Deutungshoheit über das, was dem Judentum entspricht, wie über das, was als antisemitisch zu gelten hat, in Anspruch nehmen, ist nicht hinnehmbar. Der Zentralrat der Juden in Deutschland verrät mit seiner unkritischen Identifizierung mit dem Staat Israel und seiner Politik die großen humanistischen und universalen Traditionen des Judentums, indem er fortwährend das Einverständnis der deutschen Bürger und Bürgerinnen mit den Rechtsverletzungen des Staates Israel einfordert.

9. Dass Günter Grass jetzt nicht mehr schweigen kann, als sein persönliches Problem abzutun, weil er lange genug schuldhaft geschwiegen habe und sich jetzt durch dieses Gedicht von seiner Schuld gleichsam reinwaschen wolle, halte ich für eine perfide Unterstellung und einen Versuch, ihn mundtot zu machen. Wie soll ein Schuldeingeständnis anders möglich sein, als dass man nicht die gleichen Fehler von früher endlos wiederholen will? Wer das moniert und daran Anstoß nimmt, weiß nichts von der befreienden Kraft der Vergebung durch Eingeständnis von Schuld. Das Schweigen zu den unsäglichen Rechtsverletzungen an Israel und der Judenheit und das Schweigen zu den Rechtsverletzungen an dem palästinensischen Volk und das Schweigen zu den Rechtsverletzungen an dem iranischen Volk durch einen möglichen militärischen Erstschlag Israels sind zusammen zu sehen. Rechtsverletzungen sind Rechtsverletzungen - von wem immer sie begangen werden.

10. Auch wenn man der Auffassung ist, dass Grass manches hätte differenzierter sagen und manches hätte noch angesprochen sollen, so berechtigen diese "Mängel" nicht entfernt zu der Kritik, die Grass nun erfährt.

11. Das Spiel mit dem Feuer eines militärischen Erstschlags von Seiten Israels gegen den Iran ist politisch unverantwortlich und widerspricht den besten Traditionen des Judentums. Deutschland, die EU, die USA und die Völkergemeinschaft müssen Israel helfen, die Gefangenschaft in seinem Apartheidstatus zu überwinden, in die Rechtsgemeinschaft der Völker und Staaten zurückzukehren und mit dem Iran und anderen Staaten, die Israel bedrohen, einen modus vivendi zu finden.

12. Dass Deutschland an Israel ein weiteres U-Boot liefern soll, das mit atomaren Sprengköpfen bestückt werden kann, ist ausgesprochen kontraproduktiv und vereitelt alle Bemühungen, mit dem Iran doch noch in einen vernünftigen Interessenausgleich zu kommen.

13. Die Reaktionen auf das Gedicht von Grass zeigen, dass die Streitkultur in unserem Land für die ungeteilten Menschenrechte weltweit, für ein Israel, das die Menschenrechte achtet, für das palästinensische Volk, das menschenwürdig leben kann, für die arabischen Völker und auch für den Iran wie für alle Menschen auf der Erde, in welchen Staaten sie immer leben, auf einem Tiefststand angekommen ist. Ich jedenfalls bin nicht bereit, mich von der Israel-Lobby, von einer von der Israel-Lobby nahezu gleichgeschalteten Presse in Deutschland bevormunden zu lassen, wann und wem gegenüber ich für die Menschenwürde und die Menschenrechte eintreten darf, wann, wie und wem gegenüber ich meine Sorge um den Frieden in Nahost artikulieren darf.

14. Den Vorschlag von Grass, das israelische und das iranische Atompotenzial einer internationalen Kontrolle zu unterstellen, halte ich für ausgesprochen sinnvoll und produktiv. Statt reflexartig auf Grass einzuschlagen, sollte man die positiven Ansätze seines Gedichts aufgreifen und in der Diskussion weiterführen. Wir sollten Günter Grass dankbar sein, dass er sein Schweigen überwunden und Ansätze zu einem konstruktiven Dialog formuliert hat. Wenn doch Israel und die Israel-Lobby hierzulande erkennten, was dem Frieden in Nahost dient, Die Empörungen über das Gedicht bestätigen nur Israel auf seinem falschen Weg.

Pfarrer i.R. Dr. Jochen Vollmer ist Mitglied im Versöhnungsbund.

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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 33 - I/2011, S. 42 - 43
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2012