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GRUNDSÄTZLICHES/011: Friedensbewegung - Wie zu gewaltbereiten Gruppen verhalten? (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 22 - II/2009
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Wie soll sich die Friedensbewegung zu gewaltbereiten Gruppen verhalten?
Grundsätzliche Überlegungen nach den Anti-Nato-Protesten

Von Wolfgang Sternstein


Es gibt Naturgesetze und soziale Gesetze. Zu den wichtigsten sozialen Gesetzen gehört so genannte Zweck-Mittel-Relation. Sie lässt sich so beschreiben: Mittel und Zweck, Weg und Ziel gehören untrennbar zusammen. Sie sind so eng verbunden wie Same und Pflanze. Selbst im Zeitalter der Gentechnik wird es nicht gelingen, aus einer Eichel einen Kastanienbaum oder aus einer Kastanie eine Eiche zu züchten. Auf die Welt der sozialen Beziehungen angewandt heißt das: Mittel und Zweck, Weg und Ziel müssen übereinstimmen, wenn der Zweck erfüllt, das Ziel erreicht werden soll. Demzufolge ist es unmöglich, durch Krieg Frieden zu schaffen, durch Aufrüstung Sicherheit herzustellen, mit Gewalt eine gewaltfreie Gesellschaft zu erreichen oder durch eine Diktatur (und sei es auch die des Proletariats) eine Demokratie aufzubauen.

Ich wage es zu behaupten, dass in der Welt 99 Prozent der Politik auf der Missachtung dieses sozialen Grundgesetzes beruhen. Kein Wunder, dass Politik heutzutage von den meisten Menschen mit dieser Missachtung gleichgesetzt wird. Deshalb ist die Welt, sowie sie ist.

Seit ich mich 1968 zum ersten Mal aktiv an politischen Auseinandersetzungen beteiligte, habe ich unzählige Male das Argument gehört: "Wir haben ein konkretes Ziel, das wir erreichen wollen. Jede und jeder ist uns als Bundesgenosse willkommen, egal mit welchen Mitteln er dieses Ziel anstrebt. Wir schließen niemanden aus, wir distanzieren uns auch von niemandem. Wer sich gegen Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung wendet, spaltet die Bewegung. Selbst wenn er in bester Absicht handelt, ist er doch objektiv ein Verräter." - An den Vorwurf des Verrats an der Bewegung habe ich mich im Laufe der Zeit gewöhnt. Er trifft mich nicht mehr. Ich möchte des ungeachtet hier noch einmal die Argumente auflisten, die meines Erachtens gegen Gewalt als Mittel des politischen Kampfes sprechen. Sie scheinen mir auch in der Auseinandersetzung mit gewaltbereiten Personen und Gruppen von Bedeutung:

Da ist zunächst das Argument: "Wir verteidigen uns ja nur gegen die Provokationen und die Gewalt der Polizei, die den Herrschenden als Instrument dient, um ihre Interessen durchzusetzen." - In der Tat wirkt schon allein das martialische Auftreten der Polizei, ihre Uniformierung, die Bewaffnung mit Schlagstöcken, Tränengasspray und Schusswaffen, Helm und Schild, Polizeikameras, Eingreif-Trupps, berittene Polizisten usw. auf jeden Demonstrationsteilnehmer entweder einschüchternd oder provozierend. Andererseits empfinden auch die Polizistinnen und Polizisten das Auftreten des Schwarzen Blocks als Provokation: Uniformierung, Vermummung, aggressive Parolen, Sprechchöre wie z.B.: "Ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform" usw. Sollte im weiteren Verlauf der Demonstration, nachdem die ersten Farbbeutel und Steine geflogen sind, der Befehl "Knüppel frei" gegeben werden, brauchen sich diejenigen, die solche schönen Sprüche skandierten, nicht zu wundem, wenn sie dafür die Quittung erhalten.

Wer im politischen Geschäft Erfahrung hat, weiß, wie rasch Konflikte eskalieren können, weil jede Seite die Verteidigungsmaßnahmen der Gegenseite als Provokation, jede "Nachrüstung" als "Vorrüstung" interpretiert. Im Kalten Krieg führte diese Art von "Verteidigung" zum dutzendfachen nuklearen Overkill und die Welt an den Rand der totalen Vernichtung. Wer weiß, ob wir heute noch lebten, wäre nicht ein vernünftiger Mensch wie Michael Gorbatschow in der Sowjetunion an die Macht gekommen, der erkannte, dass nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung das Gebot der Stunde ist.


Blanke Illusionen

Soviel ist jedenfalls gewiss: Auf dem Feld der gewaltsamen Auseinandersetzung wird die "Staatsgewalt" den Demonstranten, solange keine revolutionäre Situation besteht (und die sehe ich nicht), stets überlegen sein. Wenn sie mit Flaschen, Steinen, Feuerwerkskörpern (Bengalos) und Brandsätzen zur Schlacht mit den "Bullen" antreten, wird die Polizei mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Tränengas kommen. Wenn sie zu Zwillen und Schusswaffen greifen, wird die Polizei mit Maschinenpistolen kommen. Wenn sie zu Terroranschlägen übergehen, wird die Regierung den Polizei- und Überwachungsstaat ausbauen, die Grundrechte einschränken und Sondereinheiten zur Terrorbekämpfung aufstellen. Die Vorstellung, den Staat auf diesem Feld besiegen zu können, ist in der Bundesrepublik auf absehbare Zeit reine Illusion. Gewalt und ihre provokativen Vorformen sind folglich schon aus rein pragmatischen Gründen abzulehnen, weil sie im Hinblick auf unsere Ziele: soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden, Verteidigung der Menschenrechte und der Demokratie kontraproduktiv sind.

Die Herrschenden in unserem Land haben ein Interesse daran, dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen bei Demonstrationen kommt. Die Presse berichtet mit Vorliebe über derartige Ereignisse mit dem Ergebnis, dass die gemäßigten Teile der Bevölkerung von der Teilnahme abgeschreckt werden. Die gewaltbereiten Gruppen erhalten so die Oberhand und liefern sich die bekannten Schlachten mit der Polizei. Dieser Effekt ist durchaus erwünscht. Während sich der schwarze Block der Autonomen und der "grüne Block" der Polizei kloppen, genießen die herrschenden Kreise in der Republik, die uns Krisen und Kriege bescheren, seelenruhig ihre Privilegien. Die Älteren unter uns kennen diese Entwicklung aus der Zeit der 68er-Studentenrevolte. Von einer ursprünglich mächtigen und einflussreichen sozialen Bewegung blieb am Ende nur der Bodensatz der militanten K-Gruppen, Revolutionären Zellen und der Rote Armee Fraktion (RAF) übrig.

Das Interesse der Herrschenden an einer derartigen Entwicklung ist so groß, dass sie oftmals der Versuchung nicht widerstehen können, Provokateure in die Reihen der Demonstranten einzuschleusen, um die Eskalation zu beschleunigen. Dass dem so ist, sollte selbst die leidenschaftlichsten Gewaltbefürworter, sei es im Angriff oder in Verteidigung, nachdenklich machen in Hinblick darauf, wem Gewalt letztlich nützt.


Die Alternative: Ziviler Ungehorsam

Sodann habe ich bei Diskussionen mit gewaltbereiten Gruppen immer wieder das Argument gehört: "Wenn wir auf Gewalt verzichten, sind wir doch der Gewalt des Staates hilflos ausgeliefert. Das Demonstrationsrecht wird Schritt für Schritt durch Auflagen und polizeiliche Maßnahmen eingeschränkt. Letzten Endes stellen uns die Herrschenden mit dem, was vom Demonstrationsrecht übrig geblieben ist, eine Spielwiese zur Verfügung, auf der die politische Opposition sich austoben darf, während sie nach der zynischen Devise handeln: "Ihr dürft demonstrieren, aber wir regieren!" - Meine Antwort darauf lautet: Es gibt bei weitem wirksamere und bessere Methoden, um die Grundrechte und die Demokratie in unserem Land zu verteidigen und soziale Gerechtigkeit zu erkämpfen. Es sind das die Methoden der gewaltfreien Aktion, die sich keineswegs bloß auf die legale "Spielwiese" beschränken, sondern in Gestalt des zivilen Ungehorsams (Verkehrsblockaden, Go ins und symbolischer Sachbeschädigung) bewusst gegen Gesetze verstoßen, allerdings mit der Einschränkung, dass dabei keine Personen verletzt oder gefährdet werden dürfen und die Akteure bereit sein müssen, sich zu ihrer Tat zu bekennen und die Konsequenzen zu tragen. Ich kann auf diese Methoden im Rahmen dieses Artikels nicht näher eingehen. Soviel scheint mir jedoch gewiss: Sie sind nicht nur besser als die Gewalt, sie sind allein zielführend, sofern das Ziel darin besteht, die Grundrechte und die Demokratie zu verteidigen.

Wer beispielsweise das Grundrecht auf freie Versammlung (Art. 8 GG) mit Gewalt verteidigen will, trägt zu seiner Zerstörung bei, denn dieses Grundrecht schützt nun mal nur die friedliche und waffenlose Versammlung. Wer das Grundrecht wirklich verteidigen will, muss es folglich gleichermaßen gegen diejenigen, die es unter dem Vorwand der Sicherheit aushöhlen, wie gegen diejenigen, die es mit Gewalt schützen wollen, verteidigen.

Dem Vorwurf, wer sich gegen Gewalt und ihre provokativen Vorformen bei Demonstrationen ausspreche, spalte die Bewegung und diene damit den Interessen der Herrschenden, würde ich mit Gelassenheit begegnen, denn er ist grundfalsch. Niemand, wirklich niemand soll von Demonstrationen oder aus der Widerstandstandsbewegung ausgeschlossen werden. Was ausgeschlossen werden soll, sind Gewalt und ihre provokativen Vorformen. Gewaltfreie und "militante" Aktionsformen gehen nun mal nicht zusammen, so wenig wie Feuer und Wasser. Ich setze das Wort "militant" bewusst in Anführungszeichen, denn die gewaltfreien Aktionsformen sind nicht weniger kämpferisch = militant wie die gewaltsamen.


"Gewaltfreie Eingreifgruppen"

Kehren wir noch einmal zur Ausgangsfrage zurück: Wie soll sich die Friedensbewegung zu gewaltbereiten Gruppen verhalten? - Ich rate von der Teilnahme an Demonstrationen ab, bei denen die Organisation erkennbar in der Hand von Gruppen liegt, die Gewalt als Mittel des politischen Kampfes nicht ausschließen. Ich rate auch von der Teilnahme an Demonstrationen ab, zu denen ein "breites Aktionsbündnis" aufruft, das in der Frage der Aktionsmethoden keine klare Position bezieht. Ich befürworte jedoch entschieden gewaltfreie Demonstrationen und Aktionen, denn die Grundrechte und die Demokratie in der Bundesrepublik zu verteidigen ist nötiger denn je.

Mein Votum bedeutet keineswegs, dass wir uns mit der Rolle des Zuschauers begnügen, wenn der grüne und der schwarze Block sich Straßenschlachten liefern. Ich plädiere vielmehr dafür, eine "gewaltfreie Eingreifgruppe" zu bilden, die sich sorgfältig auf den Einsatz bei Demonstrationen vorbereitet, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern. Doch das steht auf einem anderen Blatt.


Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedensforscher und Mitglied des Versöhnungsbundes.


*


Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 22, II/2009, S. 3 - 4
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2009