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BERICHT/325: Sitzblockaden bleiben juristisch umstritten (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 3 - August/September 2015
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Sitzblockaden bleiben juristisch umstritten
Eine verfassungskonforme Nötigungsrechtsprechung fehlt noch immer

Von Hermann Theisen


Wann erfüllen Sitzblockaden den Straftatbestand der Nötigung und wann nicht? Darüber streiten seit Jahrzehnten Strafgerichte in ganz Deutschland und mit ihnen das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof. Und ein Ende scheint noch immer nicht in Sicht zu sein. Stattdessen werfen sich die Robenträger von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof den juristischen Zankapfel noch immer unermüdlich hin und her, so als müsste der Mangel an einem wegweisenden juristischen Diktum zur Nötigungsrechtsprechung noch so manche Juristengenerationen überdauern.

Öffentliche Aufrufe zur Sitzblockade von 1987 und 2013 vor Gericht

Im Frühjahr 1987, in der Hochphase der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung um den Nato-Doppelbeschluss, entstand ein "Aufruf zu den gewaltfreien Aktionstagen im Hunsrück vom 2.-11.10.87", mit dem zur Teilnahme an Sitzblockaden vor dem Atomwaffenlager Hasselbach aufgerufen wurde.

In der Folge wurden die Unterzeichner wegen Aufforderung zur Nötigung (§§ 111, 240 StGB) verurteilt und, nachdem das Bundesverfassungsgericht 1995 die damalige Auslegung des Gewaltbegriffs für verfassungswidrig erklärte, wurden alle Strafurteile wieder aufgehoben und die Verurteilten nachträglich freigesprochen.

Im Frühjahr 2013 wurde ein nahezu identischer "Aufruf zu den gewaltfreien Aktionstagen in der Eifel vom 5.-12. August 13" verteilt, um damit für eine Sitzblockade vor dem Atomwaffenlager Büchel zu mobilisieren. In beiden Aufrufen hieß es wortgleich: "Haltet ein! Macht den ersten Schritt! Schließt die Todesbasis Hasselbach [bzw. Büchel] jetzt!"

Daraufhin ließ die Staatsanwaltschaft Koblenz die Flugblätter beschlagnahmen und leitete ein Strafverfahren wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten ein.

Vier Gerichte und drei Meinungen

Im August 2013 erließ das Amtsgericht Koblenz einen Strafbefehl und erklärte: "Durch die Verteilung des Flugblattes wollten Sie eine möglichst große Anzahl von Personen zur Teilnahme an der von Ihnen und möglicherweise weiteren Beteiligten vorgesehenen vollständigen Blockade des Flugplatzgeländes in Büchel mobilisieren", dies sei ein "Vergehen gemäß §§ 111 Abs. 1, 240 Abs. 1 StGB." Nachdem die Stadtverwaltung Koblenz verbot, das Flugblatt während einer Kundgebung zu verteilen, erklärte das Verwaltungsgericht Koblenz im Februar 2014 jenes Verbot für rechtswidrig, da es "einen gewichtigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit" darstelle (Aktenzeichen 1 K 628/13. KO).

Ungeachtet dessen verurteilte das Amtsgericht Koblenz im April 2014 wegen "öffentlicher Aufforderung zu Straftaten in drei Fällen": "In dem von dem Angeklagten in der Öffentlichkeit verteilten Flugblatt ruft er zu einer strafrechtlich relevanten Nötigung im Sinne des § 240 StGB auf", was nach der sog. Zweiten-Reihe-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs "auch im Hinblick auf die nach Art. 5 und 8 GG garantierten Grundrechte des Angeklagten auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit rechtswidrig" sei.

Im September 2014 hob das Landgericht Koblenz das Urteil auf und sprach frei: "Die rechtliche Beurteilung der Frage, ob eine aus politischen und weltanschaulichen Gründen vorgenommene Blockade nach § 240 StGB strafbar ist, wird uneinheitlich beantwortet und ist rechtlich kompliziert gelagert. (...) Entsprechend der Auslegung des Flugblattes durch das Verwaltungsgericht Koblenz (...) ist auch die Kammer der Auffassung, dass aus der konkreten Formulierung des Flugblattes nicht mit der erforderlichen Gewissheit auf eine Aufforderung zu einer Straftat geschlossen werden kann." Die dagegen eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft Koblenz wurde schließlich vom Oberlandesgericht Koblenz am 20. Mai 2015 als unbegründet verworfen" (Aktenzeichen 1 OLG 3 Ss 201/14).

Ende des Streits um die Nötigungsrechtsprechung ist nicht in Sicht

Das Oberlandesgericht Koblenz hat somit eine Strafbarkeit des Blockade-Flugblattes verneint. Dies war die richtige Entscheidung, denn ansonsten wäre gegen das Urteil Verfassungsbeschwerde wegen eines Verstoßes gegen Art. 5 (Meinungsfreiheit) und Art. 103 (Bestimmtheitsgebot) des Grundgesetzes eingelegt worden, da die Auslegung der Nötigungsrechtsprechung für einen Aktivisten noch immer in keiner Weise juristisch einschätzbar ist.

Der Bochumer Wissenschaftler Prof. Dr. Arndt Sinn erklärt hierzu: "Von einer Auslegung des Gewaltbegriffs, die dessen Merkmale offenlegt und somit gemessen an Art. 103 Abs. 2 GG zur Bestimmtheit des Begriffs und der Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidungen führt, ist die Rechtsprechung (nach wie vor) weit entfernt. Einzelfälle bringen es immer wieder zu verfassungsrechtlicher Prominenz." Deshalb bedarf es auch weiterhin solcher Nötigungsstrafverfahren bzw. daraus folgender Verfassungsbeschwerden, damit es endlich zu einer tragfähigen verfassungskonformen Auslegung des Nötigungsparagraphen kommt.

In diesem Sinne: Blockieren, blockieren und mit Flugblättern dafür werben!

Der Friedensaktivist Hermann Theisen ist DFG-VK-Mitglied und lebt in Heidelberg.

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Quelle:
ZivilCourage Nr. 3 - August/September 2015, S. 14
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
Werastraße 10, 70182 Stuttgart
Redaktion: ZivilCourage, Werastraße 10, 70182 Stuttgart
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Erscheinungsweise: zweimonatlich, sechs Mal jährlich
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Einzelheft: 2,30 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2015

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