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BERICHT/262: Die Belagerung Gazas beenden (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 1 - Januar/Februar 2010
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Die Belagerung Gazas beenden
1.300 Friedens- und MenschenrechtsaktivistInnen aus aller Welt beim Gaza-Freedom-March

Von Elsa Rassbach


Es war hauptsächlich wegen meines Apothekers, dass ich mich Ende November entschieden habe, am Gaza-Freedom-March teilzunehmen. Seit langem habe ich mich immer wieder über seine warmherzige und charmante Art, mit der er mich und andere Kunden mit einem leichten ausländischen Akzent zu unseren Wehwehchen oder Schlimmerem berät, [gefreut]. Die nette junge Frau, die ihm assistiert, trägt stets ein Kopftuch; und irgendwann habe ich erfahren, dass mein Apotheker aus Gaza stammt.

Wir kamen mehr und mehr ins Gespräch. Hoffnungsvoll, aber doch etwas ängstlich wollte er von mir wissen, ob Obama besser als seine Vorgänger mit den Palästinensern umgehen wird. Und dann kamen nach und nach persönliche Details: Mein Apotheker kann seine Familie in Gaza, ein Bruder, zwei Schwestern und den Vater, nicht besuchen. Diese leben, so meint er, wie in einem großen Gefängnis, in dem den Inhaftierten nach und nach alles entzogen wird: Nahrung, Wasser, Obdach, Medizin, Arbeit, Ausbildungschancen, und oft sogar das Leben.

Er meint, dass bei der demokratischen Wahl 2006 in Gaza die Wähler in erster Linie die Korruption der Fatah bestrafen wollten, dass sie zu der Zeit Hamas als "das kleinere Übel" betrachteten, etwa so, wie wir US-AmerikanerInnen zwischen den Republikanern und den Demokraten entscheiden müssen. Dabei versteht sich mein Apotheker gar nicht als "politisch", nimmt nicht an Demos und dergleichen teil. Er ist ein Geschäftsmann, der in Deutschland, so weit ich sehen kann, gut integriert ist. Er erträgt seine Angst und sein Entsetzen über das Schicksal seiner Familie in Gaza meist stillschweigend. Es gibt vermutlich mehrere Zehntausende hier in Deutschland, denen es genauso geht, und weiter in den anderen Ländern der palästinensischen Diaspora.

Der Gaza-Freedom-March wollte dieses Schweigen durchbrechen. Das Angebot war einfach: Man musste sich nur auf einer Webseite eintragen und in den Weihnachtsferien nach Kairo fliegen, dann könnte man an einer Bustour durch Gaza mit Führung und Übersetzung teilnehmen, wobei für Essen und Hotelzimmer gesorgt war. An Silvester der Höhepunkt: die Teilnahme mit palästinensischen Zivilorganisationen an einer Demo in Gaza. Im Aufruf dazu stand einiges über Gandhi, nichts über Hamas. Am 2. Januar dann zurück nach Kairo, um rechtzeitig zur ersten Arbeitswoche des neuen Jahres wieder in Deutschland zu sein. Eine kleine politische Bildungsreise bei warmen Wetter. Mich zog besonders die Aussicht an, in Gaza die Familie meines Apothekers zu besuchen.

Freudig gab er mir die Mobiltelefonnummer seines Bruders, versicherte mir traditionelle arabische Gastfreundschaft, entschuldigte sich im Voraus dafür, dass sein Bruder nur wenig Englisch kann. In der Apotheke holte ich gleich auch die notwendige Impfungen: Diese können die Einwohner von Gaza leider nicht bekommen. Ja, ich holte gleich drei Stück von allem, weil mein Lebensgefährte und mein Sohn sich entschieden, auf diese Weihnachtsreise mitzukommen. Keiner von uns wusste sehr viel über die aktuelle Lage in Gaza.


Der Marsch endet in Kairo

Code Pink, eine durch Frauen initiierte und geführte US-Friedensorganisation mit 150 Ortsgruppen, hat seit dem Angriff auf Gaza vor einem Jahr sieben Reisen mit kleineren Gruppen von Kairo aus nach Gaza erfolgreich organisieren können, und hat daraufhin den Gaza-Freedom-March in Gang gesetzt.

Ann Wright, die die Verhandlungen mit der ägyptischen Regierung für Code Pink führte, ist eine ehemalige US-Offizierin und Diplomatin, die 2003 aus Protest gegen den US-Angriff auf Irak ihr Amt niedergelegt hat und seitdem für ihre kühne logistische, strategische und politische Führung der gewagtesten Projekte der US-Friedensbewegung bekannt geworden ist, wie etwa dem "Camp Casey" mit Cindy Sheehan in der Nähe der Bush-Ranch.

Bereits Anfang Dezember schrieb mir Ann Wright aus Kairo, dass die ägyptische Regierung ziemliche Schwierigkeiten mache. Aber wir dachten alle, diese würden wir bestimmt überwinden.

In Kairo spät in der Nacht zu Weihnachten angekommen, erfuhren wir, dass die ägyptische Regierung nicht nur die Reise nach Gaza untersagt hat, sondern den anreisenden 1.400 Delegierten aus 42 Ländern sogar verboten hat, sich irgendwo in Kairo zu treffen. In Kraft ist noch immer ein Gesetz aus dem Jahr 1914, wonach es illegal ist, sich mit mehr als fünf Menschen zu versammeln.

Ein Wunder, dass diese mehrsprachige Menschenmenge, die in verschiedenen Hotels in Kairo und oft ohne Kommunikationsmittel wie funktionierende Handys oder Computer irgendwie doch zusammen kommt, um gemeinsam vor verschiedenen Botschaften und im Zentrum Kairos "illegale" Demos durchzuführen. Es gab sogar ein raffiniertes Spaltungsmanöver der ägyptischen Regierung, zweifelsohne im Hintergrund durch Israel, die USA, und die EU-Ländern gesteuert, das fast das ganze Vorhaben zum Erliegen brachte: Im letzten Augenblick wurde 100 TeilnehmerInnen die Chance angeboten, doch nach Gaza zu fahren ("die Guten"); einige haben sich entschieden, das Angebot anzunehmen, aber nicht offiziell als RepräsentantInnen des Gaza-Freedom-March, weil die Mehrheit - auch die OrganisatorInnen in Gaza - keine Fahrt mit "Quotendelegierten" durchführen wollten. Also blieben wir Störenfriede in Kairo ("die Bösen").

Aber es war gut so, denn durch die Unmöglichkeit, bloß auf einer kleinen Weihnachtsreise mit einigen Hilfsgütern nach Gaza zu fahren, ist die drakonische Wirklichkeit dieser Blockade glasklar geworden und tief in uns eingewurzelt. Hätten wir unbehelligt an der friedlichen Demo in Gaza teilnehmen können, dann wäre sicherlich nur einmal ein kleiner Absatz dazu in den Medien gekommen. Ja, die ägyptische Regierung hat uns sehr geholfen, sowohl die Lage der bedrängten Bevölkerung Gazas zu begreifen, als auch weltweit öffentlich darauf aufmerksam zu machen. Und trotz teilweise sehr unterschiedlicher Auffassungen unter den Delegierten aus 42 Ländern konnten wir uns nach intensiver Diskussion in Kairo letztendlich auf den nächsten wichtigen Schritt einigen: die Kairoer Erklärung (siehe unten). Und die 40 deutschen Delegierten, die sich teilweise erst in Kairo kennengelernt haben, haben sich dort enger vernetzt, um die weitere Arbeit in Deutschland durchzuführen.

Zurück in Berlin - der Stadt, die weltweit dafür bekannt ist, dass sie nicht mehr durch eine Mauer geteilt ist, während die Mauer durch Palästina immer undurchlässiger wird - besuchte ich meinen Apotheker, um ihm die traurige Nachricht mitzuteilen, dass ich seine Familie nicht besuchen konnte. Er sagte mir, dass die Menschen in Gaza unser ganzes Tun in Kairo genau verfolgt haben, weil der arabische Fernsehsender Al-Jazeera darüber ständig berichtet hat. Und ich wusste, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben, als er so warmherzig sagte: "Wir sind ja für jedes Zeichen von Solidarität sehr dankbar."


Elsa Rassbach lebt in Berlin, ist US-Amerikanerin, DFG-VK-Mitglied und seit Jahren auch aktiv bei Code Pink.


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Die Kairoer Erklärung

Außer der neuen internationalen Aufmerksamkeit für die Lage in Gaza war das Hauptergebnis der Zusammenarbeit der internationalen Delegierten die Kairoer Erklärung vom 1. Januar, die von südafrikanischen Gewerkschaftern initiiert wurde. Inspiriert durch den erfolgreichen Kampf gegen das Apartheidsystem in Südafrika setzt die Erklärung auf "Boykott, Investitionsentzug und Sanktionen gegen Israel, bis es internationalem Recht und den universellen Prinzipien der Menschenrechte nachkommt." Zur Unterstützung und Verbreitung der Erklärung siehe http://cairodeclaration.org/lang.de (Siehe auch die Webseite www.bdsmovement.net)

Weitere Infos zum Freedom-March:
Ausführliche Infos mit vielen Links zu Berichten, Meinungsbeiträgen, fotos und Videos auf der (engl.) Hompage www.gazafreedommarch.org; auch www.gazafreedommarch.ch (die deutschsprachige schweizerische Webseite). Die etwa 300 französischen Delegierten, die in Kairo vieles zur Entwicklung des zivilen Widerstands beigetragen haben, sind vorwiegend in der Organisation Euro Palestine vernetzt; Informationen dazu auf der Homepage www.europalestine.com

Weitere Aktionen:
Unterstützung der Schiffe der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost (www.juedische-stimme.de) und der European Jews for a Just Peace (www.ejjp.org), die im Frühjahr für die Kinder in Gaza u.a. Medizin, Schulbücher, Kleidung und vor allem Musikinstrumente bringen werden. Die Leiterin dieser Kampagne ist Edith Lutz, die Koordinatorin der deutschen Delegation des Gaza Freedom-March.


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Demonstration vor der israelischen Botschaft in Kairo

Laut ägyptischen Aktivistinnen war die Demonstration am 1. Januar die erste, die jemals vor der israelischen Botschaft in Kairo stattgefunden hat. Juliane Bieberstein berichtet in diesem Auszug aus ihrem Blog (www.kopi-endederbesatzung.de/53.0.html) über die Abenteuer der deutschen Delegation beim Gaza-Freedom-March.

Heute um 13:00 Uhr findet die (vorerst) letzte, von Code Pink organisierte Aktion statt und zwar diesmal vor der israelischen Botschaft. Einer der Gründe war, dass wir von der Deutschen Botschaft erfahren haben, dass die ägyptische Regierung verärgert ist, dass sich unser Protest nur gegen sie richte. Max. eine Viertelstunde vorher sollen wir uns in der Nähe des Zoos einfinden, dessen Haupteingang sich schräg gegenüber der Botschaft befindet. Diese befindet sich aus Angst vor Anschlägen in den obersten Stockwerken eines heruntergekommenen Wohnhauses. Nur die israelische Flagge gibt einen Hinweis auf dessen Existenz. Wie bei der großen Aktion am vorherigen Tag sollen wir uns in Kleingrüppchen verteilt wie Touristen verhalten. Als Gabi Bieberstein und ich gerade auf die Mitte des Kreisverkehrs zusteuern, wo wir ein paar bekannte Gesichter ausmachen, beginnt der Flashmob auf der einen Seite des Kreisverkehrs, wo es zur Brücke über den Nil geht. Ein junger Mann schwenkt eine weiße Fahne/Tuch - und viele Aktivisten rennen auf ihn zu und positionieren sich an beiden Seiten der Straße. Zunächst ist kaum Polizei auszumachen, abgesehen von ein paar Verkehrspolizisten und den Wachen der Botschaft.

Wir überqueren die Straße und ich schieße einige Fotos. Ebenso wie Gottfried, der noch näher dran ist am Geschehen. Plötzlich kommt ein Polizist in Zivil auf ihn zu und scheint ihn zu bedrängen. Er erzählt mir später, dass er des Öfteren für einen Ägypter gehalten wird; bei diesen werden in vielen Fällen Personalien aufgenommen, die dann zu einer späteren Verhaftung führen.

1,5 Stunden später, gegen 14:30 Uhr, fahren dann plötzlich viele dieser Militärwagen vor - in der Nähe von unserem Standpunkt - während andere verteilt rund um den Kreisverkehr stehen; auch werden Gitter gebracht, die z.B. bei der gestrigen Demo verwendet wurden. Wir gehen zügig zum Zoo-Eingang zurück und beobachten zunehmend angespannt die weitere Entwicklung - die Spezialeinsatzkräfte haben sich zwischen Straße und Demonstranten positioniert und auch wir werden von der Polizei beobachtet.

Glücklicherweise erfahren wir später, dass es zu keinen Gewaltanwendungen oder Verhaftungen unserer Leute geführt hat. Allerdings haben viele vorbeifahrende Autofahrer das Peace-Zeichen aus dem Auto heraus gemacht, worauf die Polizei teilweise mit Schlagstöcken gegen die jeweiligen Fahrzeuge geschlagen hat.

Der ausführliche Blog findet sich auf der Website www.kopi-endederbesazung.de/ von KoPI (Deutscher Koordinationskreis Palästina-Israel - Für ein Ende der Besatzung und einen gerechten Frieden). KoPi wurde im August 2009 gegründet und ist eine Netzwerkstruktur für die Zusammenarbeit deutscher Friedens- und Solidaritätsorganisationen. Beteiligt sind u.a. Pax Christi, IPPNW Internationaler Versöhnungsbund Deutscher Zweig, die Deutsch-Palästinensische Gesellschaft, die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost und die Palästinensische Gemeinde Deutschland. Zentrales Anliegen des Bündnisses ist es, in der deutschen Öffentlichkeit und gegenüber den Verantwortlichen in Regierung und Parlamenten auf die Notwendigkeit einer anderen Nahost-Politik der Bundesregierung hinzuweisen und darauf zu drängen, dass diese sich an den Menschenrechten und dem Völkerrecht ausrichtet.


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 1 - Januar/Februar 2010, S. 16-17
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
Kasseler Straße 1A, 60486 Frankfurt
Redaktion: ZivilCourage, Postfach 90 08 43, 21048 Hamburg
Tel. 040/58 96 61 61, Telefax: 03212-10 28 255
E-Mail: zc@dfg-vk.de
Internet: www.zc-online.de

Erscheinungsweise: zweimonatlich
Jahres-Abonnement: 14,00 Euro einschließlich Porto


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2010