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BERICHT/245: Die Mutation von Pazifisten zu Statistikern und Bilanzkünstlern (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 22 - II/2009
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Die Mutation von Pazifisten zu Statistikern und Bilanzkünstlern
Über die Erosion eines Grundrechts durch den Versuch seiner Nutzer und Beschützer, es überflüssig zu machen

Von Michael Hofferbert


Stell Dir vor, es ist Krieg - und keiner geht hin!" war in den 60er bis frühen 80er Jahren, der Zeit der Blumenkinder und der dann viel ernsteren Friedensbewegung, eine provokativ gefasste Aufforderung zum Nachdenken: Sie spielte geschickt mit der kindlich-naiven und zugleich verblüffenden Verkürzung eines komplexen Problems, der Sache von Krieg und Frieden nämlich, durch die plötzlich alles ganz einfach zu sein scheint: Was ist, wenn man die Kriegsherren einfach auf ihren Kriegsschauplätzen alleine lässt?

Ein schlitzohriger anonymer Fälscher, mag sein ein Propagandist der Nachrüstung, hat die Aufforderung im Gegenzug, sozusagen kontra-provokant, mit dem Zusatz gekontert, der jener verlockenden Vereinfachung den Weg versperrt:" ... dann kommt der Krieg zu Dir".

Um der Fälschung die Autorität des Bert Brecht anzudichten, hat er ihr in einer trickreichen Collage einen Vers aus dessen "Koloman Wallisch Kantate"(1) angefügt, die sich nicht auf den Krieg bezieht (!) und der lautet:

Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt
Und lässt andere kämpfen für seine Sache
Der muss sich vorsehen; denn
Wer den Kampf nicht geteilt hat
Der wird teilen die Niederlage.
Nicht einmal den Kampf vermeidet
Wer den Kampf vermeiden will; denn
Es wird kämpfen für die Sache des Feinds
Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat

Die ursprüngliche Sentenz vom Krieg, zu dem keiner hingeht, entstammt tatsächlich literarischem Kindermund: Der amerikanischen Schriftsteller und Poet Carl Sandburg (1878-1967) lässt in seinem 1936 erschienenen Roman "The People, Yes" ein kleines Mädchen beim Anblick vorbeiziehender Truppen träumerisch-melancholisch sagen: "Sometime they'll give a war and nobody will come" ("Eines Tages werden sie einen Krieg geben und keiner wird kommen").

Aber war der Fälscher - was auch immer sein Motiv gewesen sein mag - nicht eigentlich ein kluger und weitsichtiger Provokateur?

"Stell Dir vor, es ist Krieg - und keiner geht hin" sollte oder konnte für jeden, der (vielleicht sogar kritisch) zu denken für sich beanspruchte, die keineswegs bloß rhetorische weitere Frage provozieren: Was ist dann? Reicht es, "nicht hinzugehen"?

Nur ein Kind wird in der Vermischung von Wunschtraum und Wirklichkeit und - so sollte man meinen - nur ein Tor, der nur sich selbst sieht, wird glauben, wenn er nur selbst "nicht hingeht", dann falle die Aufführung "Krieg" mangels Interesse oder Kanonenfutter eben einfach aus und die Veranstalter und Regisseure gingen frustriert nach Hause. Folglich reiche es ja aus, eben einfach "nicht hinzugehen", um Krieg zu verhindern oder gar Pazifist zu sein. Oder mindestens: Wenn er eben andere hingehen lasse oder hinschicke, dann werde der Krieg jedenfalls zu ihm nicht kommen.

So allerdings denkt allem Anschein nach die ganz überwiegende und ständig wachsende Mehrheit derer, die über den Weg der Kriegsdienstverweigerung des Art. 4 Absatz 3 Grundgesetz - oder auch über andere Wege - jedenfalls zum Wehrdienst "nicht hingehen".

Nun ist "nicht hingehen" gewiss der notwendige eine und vielleicht erste Schritt eines jungen Pazifisten, um die eigene aktive Beteiligung an militärischer Gewalt, dem massenhaften pauschalen Opfern von Menschenleben, zu verweigern und zu verhindern.

Wer indes nur noch das Ausweichen alleine auf welchem Weg auch immer - im Auge hat, den Kriegsdienst wie einen lästigen Fliegenschiss, der ihn gleichsam zufällig und im Vorbeigehen getroffen hat, sich vom weißen Hemd wischen möchte, der wird das lästige Thema nach erfolgreichem Entkommen augenzwinkernd abhaken wie einen geschickt abgewendeten Strafzettel, wo eben mal kein Parkplatz war; wird sich bestenfalls seiner Geschicklichkeit und Flexibilität rühmen und froh sein, das Thema hinter sich zu haben. Das mag für einen jungen Bürger, der die Probleme nur aus dieser Sicht kennt, verständlich und entschuldbar sein.

Irrtum oder ethische Bilanzfälschung der pazifistischen Statistiker? "Stell Dir vor, die Wehrpflicht ist abgeschafft - dann muss keiner mehr hin! Her mit der Berufsarmee!"

Wer indes als Berater von Wehrpflichtigen, der sich den Schutz der Gewissenfreiheit auf die Fahnen geschrieben hat, so berät, dass es eben nur auf das "Nichthingehen" ankomme und auf nichts mehr, anstatt sich selbst und die Ratsuchenden an das Thema "Krieg" zu erinnern, auf das sich Kriegsdienstverweigerung bezieht, der beschäftigt sich wie die Erfahrung der letzten zwei Jahrzehnte zeigt - alsbald alleine noch mit der Frage, warum denn nicht alle von den lästigen Fliegen getroffen werden, und beklagt diesen Zustand der ungleichen Befleckung als (Wehr)Ungerechtigkeit, als ob denn Gerechtigkeit herrschte, wenn alle gleichmäßig beschissen würden.

Und so wird mancher dann bald zum bloßen Auguren, der tiefgründig wissend auf die Fliegen und deren Schmeißfrequenz schaut: Dem unangenehmen und lästigen, ja schmerzlichen Blick auf die Wirklichkeit des Krieges und die Opfer entzieht man sich dadurch schnell und unbemerkt.

So wurden viele Berater, die sich doch ursprünglich dem Schutz des pazifistischen Grundrechts und der aus der Erfahrung von zwei Weltkriegen erwachsenen Parole "Nie wieder Krieg!" verpflichtet hatten, zu fleißigen Interpreten von Heranziehungsstatistiken und Einberufungswahrscheinlichkeiten und zu bloßen Dienstleistern nach dem Muster der möglichst universellen und online abrufbaren, aber dann eben doch immer falschen Wettervorhersage. Und wie die Wetterpropheten werden sie stets nur für den Augenblick der bloßen Abwehr des lästigen Beschisses von ihrer Klientel benutzt: Am Tag danach, wenn das Hemd wieder unbefleckt ist, sind ihre Prophezeiungen Schall und Rauch; vergessen und wertlos - war es doch nur der lästige Zufall, dem man irgendwie ausweichen musste.

Auf diesem Abweg, weg von den Inhalten, kommt der so zum Statistiker mutierte und benutzte Berater dann alsbald fast zwangsläufig zu der alles beherrschenden und alles überdeckenden Forderung: "Abschaffung der Wehrpflicht!" - denn dann trifft es ja nur noch die, die (vermeintlich) "freiwillig" hingehen und die Fliegen auf sich ziehen:

Weil Militarismus als ständige Gefahr für die Zivilgesellschaft das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung als ständiges Menetekel hervorgerufen hat, schienen der Kampf für das pazifistische(!) Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung und der Kampf gegen Militarismus ursprünglich untrennbar verknüpft zu sein. Die neuen pazifistischen "Statistiker" allerdings, denen diese Verknüpfung aus dem Blick zu geraten scheint, könnten nun leicht Gefahr laufen, den Kampf - gleichsam in einer Art ethischer und politischer Bilanzfälschung - irrig für gewonnen zu erklärt, indem sie propagieren, das Grundrecht schlicht überflüssig zu machen: Allerdings nicht durch die Erreichung des pazifistischen Ziels und Verwirklichung des Credos der Zivilgesellschaft "Nie wieder Krieg!", sondern durch die Forderung nach Professionalisierung des militärischen Tötens und der Vernichtung - nichts anderes bedeutet ja die Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht! - und somit nach Perfektionierung des Krieges.

Krieg wird so als staatliche Dienstleistung nach Tarifvertrag so selbstverständlich wie Müllabfuhr oder Kanalreinigung, die niemanden mehr zu kritischen Fragen oder gar Widerstand herausfordert, eben zuständig für die schmutzigen Seiten des Geschäfts. Den Nachwuchs dafür stellen die, die zur Säuberung der ethischen und politischen Bilanz der schweigenden Mehrheit und der mutierten Pazifisten mental auf die "bad bank" der Arbeits- und Perspektivlosen ausgelagert wurden. Man nennt das dann "freiwillig".

Die Horrorvision eines Pazifisten: "Stell Dir vor, es ist Krieg professioneller Krieg, und keiner schaut hin!"

Während Krieg immer häufiger und gnadenloser "sein" wird, wird die öffentliche Meinung bereits jetzt mit der Reduzierung der Diskussion auf "ungleiche" und deshalb "ungerechte" Einberufung, mit der Forderung nach der Abschaffung aller lästigen Fragen um den Krieg und nach Abschaffung der Wehrpflicht mehr und mehr gegen die Bilder und die Wirklichkeit des Krieges immunisiert: Wen es dort dann trifft, hat sein Schicksal schließlich selbst gewählt - Zinksarg und Platz in Ehrenhalle, Massengrab oder Pulverisierung inbegriffen!

Während vom ursprünglichen Thema des Art. 4 Abs. 3 GG: "Militarismus - Pazifismus", "Krieg und Frieden", dann alsbald keine Rede mehr sein wird, würde aus der naiv-provokanten Träumerei: "Stell Dir vor, es ist Krieg - und keiner geht hin" die Horrorvision: "Stell Dir vor, es ist professioneller Krieg - und keiner schaut hin!"

Die neue Sorge der Nicht-Hingehen "Stell Dir vor, es ist Krieg - und keiner geht hin! Wer führt dann den Krieg für mich? Her mit der Berufsarmee!"

Die Diskussion über Krieg, über den Rückfall einer Zivilgesellschaft in die Barbarei des unterschiedslosen und massenhaften Tötens, seien es Freund oder Feind, Frauen oder Kindern, Zivilisten oder Soldaten, wie dies gerade und zunehmend in "modernen" Hightech-Kriegen als die bekannten "Kollateralschäden" unvermeidbar ist, die Diskussion über die Vernichtung der Existenzgrundlagen ganzer Völker auf Generationen hinaus reduziert sich dann - so ist zu besorgen - auf die Frage: "Wie kann ich alleine dem Krieg entkommen, also zu den Gewinnern und nicht zu den Verlierern von weltweitem Krieg gehören?"

So sehen sich die pazifistischen Verteidiger der Ethik der Zivilgesellschaft unversehens in einer Reihe mit denen, die (via nominell pazifistischem KDV-Antrag) "nicht hingehen" und unbekümmert fragen "Stell Dir vor, es ist Krieg - und keiner geht hin! Wer führt dann den Krieg für mich?" - und daher (ganz konsequent militaristisch!) die Berufsarmee fordern.

So wird das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung, von dem zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes hier die Rede ist, nicht von den wieder erstarkten Militaristen, den Kriegsbereiten und damit Kriegsbereitern, den notorischen Antipoden der Pazifisten und Kriegsdienstverweigerern, bedroht, sondern von innen heraus ausgehöhlt, gerade von denen also, die sich auf das pazifistische Grundrecht berufen und zu dessen Schutz berufen sind: Es wird in seiner eigentlichen Stoßrichtung verfälscht und seiner Substanz beraubt und so zum Gegenteil dessen, was es mit Art. 4 Abs. 3 GG alsverfassungsrechtlich verankertem Brückenkopf des Pazifismus, als Stachel im Fleisch der sich wieder rüstenden und zum Krieg bereit gemachten Gesellschaft ursprünglich sein sollte oder sein könnte: Appell an jeden Einzelnen, sich zwischen ziviler Ethik und militärischer Logik zu entscheiden und für diese Wahl nicht nur für den Augenblick der Gefahr der Einberufung, sondern auch darüber hinaus einzutreten.

Was also kann - wenn man dieser selbstgebauten Falle wieder entrinnen will - Beratung von Kriegsdienstverweigerern und Schutz des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG sein? Zu allererst:

- Zur Kenntnis nehmen und ständig wieder ins eigene und öffentliche Bewußtsein bringen, dass auch für die Deutschen bereits seit Jahren "Krieg ist" und in keineswegs ferner Zukunft immer mehr und häufiger und hässlicher Krieg "sein" wird.

- Die Diskussion um Krieg und Militarismus, um militärischer Gewalt und militärischer Logik versus Zivilgesellschaft wieder entfachen, noch bevor sich einer zu entscheiden hat, ob er den Kriegsdienst verweigern will, ihn also allererst in die Lage zu versetzen, sich wirklich und in Kenntnis dessen, was Krieg bedeutet und was Bedingungen des Friedens sind, zu entscheiden.

- Und das bedeutet, die Wirklichkeit des Krieges und die Prinzipien der militärischen Logik wieder zurückzuholen in die Diskussion innerhalb der Generation, um deren Zukunft es geht, und zwischen den Generationen, von denen die eine die andere unter der Hand auf Krieg vorbereiten und in Kriege schicken möchte - sei es als Wehrpflichtige oder als "Freiwillige".

- Die Diskussion unter denen, die - warum auch immer - "hingehen" und denen, die "nicht hingehen" wollen, die unverzichtbare Diskussion zwischen Soldaten und Zivilisten wieder entfachen, also klar machen, dass die Entscheidung für oder gegen Kriegsdienst nicht eine Wahl zwischen zwei beliebigen Jobs ist, sondern eine ethische Entscheidung von fundamentaler Bedeutung.

- Die Frage nach den ethischen Grundlagen zivilen und militärischen Handelns wieder in den Mittelpunkt der eigenen Reflexion und Diskussion stellen und sie an den alltäglichen Folgen militärischen Handelns messen.

- Weg von der Fixierung auf statistische Debatten und Erbsezählerei mit Einberufungsquoten.

- Zurück zu einer offensiven Informationspolitik über die Wirklichkeit des Krieges und militärischer Logik und Gewalt in all ihren offenen und verdeckten und sich schleichend in die Zivilgesellschaft hinein ausbreitenden Erscheinungsformen.

- Weg von der Funktion der Berater und der Zentralstelle KDV als Consultingunternehmen und als bloßer Floskel- und Legitimationslieferant für uninformierte "Nichthingeher",

- Hin zu einer wirksam agierenden NGO, die im vernetzten Zusammenwirken mit anderen Institutionen Diskussionsreihen, Ausstellungen, Informationsveranstaltungen und kreative, neue Formen der Öffentlichkeitsarbeit über Militarismus und Pazifismus, also die Wiederherstellung von politischer Öffentlichkeit zum Thema Krieg und Frieden initiiert, provoziert und vorantreibt.

- Das meint: Lobby sein für einen offen gesellschaftlichen Diskussionsprozess zu einer der fundamentalen Zukunftsfragen der Menschheit im 21. Jahrhundert: Wird die immer deutlicher werdende weltweite Knappheit der Ressourcen in einen globalen und permanenten Krieg der Starken gegen die Schwachen münden oder in einer neuen, gerechteren Form des Zusammenlebens der Völker, von der alle reden - aber eben oft nur reden und nicht sehen und nicht wissen wollen, was sie tun?

- Die alltägliche Wirklichkeit bietet dazu Anlass und Stoff in Hülle und Fülle -man muss nur hinschauen zugreifen, den Blick für die schleichende und offene Militarisierung der Gesellschaft schärfen und die "alternative Wehr-Pflicht" für Pazifisten und Zivilisten ins Gedächtnis rufen: Die Bürgerpflicht zum aktiven Eintreten für die ethischen Werte der Zivilgesellschaft, wie sie das Grundgesetz in seinem Grundrechtskatalog festgeschrieben hat, und die in unüberbrückbarem Widerspruch zu der Logik militärischer Gewalt stehen.

Die Horrorvision eines Militaristen: "Stell Dir vor, es ist Krieg - und alle können ihn sehen und wissen, was das wirklich ist! Wer wird dann noch Soldat?"


Michael Hofferbert ist Rechtsanwalt; der Beitrag wurde bei der Fachtagung der Zentralstelle KDV am 9. Mai in Maintal gehalten.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 22, II/2009, S. 28 - 30
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2009