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MUMIA/982: Manipuliert und gelogen (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 16.09.2019

Manipuliert und gelogen
Anwälte präsentieren erste Auswertungsergebnisse
zu gefundenen Ermittlungs- und Prozessakten im Fall Mumia Abu-Jamal

von Jürgen Heiser


Der US-Bürgerrechtler und politische Gefangene Mumia Abu-Jamal sei »seiner Freiheit noch nie so nahe gewesen wie jetzt«. Das erklärte vergangene Woche Noelle Hanrahan vom Prison Radio Project in San Francisco. Zwar sei »der Weg immer noch steinig«, und Abu-Jamal habe mit erheblichen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, aber es bestehe begründete Hoffnung. Hintergrund der optimistischen Einschätzung der Journalistin sind neue Beweise, die von der Verteidigung erst in den letzten Monaten zutage gefördert werden konnten. Die Staatsanwaltschaft hatte sie offenbar jahrzehntelang unterdrückt und alle Beschwerden der Anwälte wegen fehlender Akten als unbegründet sowie die kritisierte Tatsache »pure Phantasie« bezeichnet. Diese Beweise könnten »der Schlüssel sein zur Entlastung Abu-Jamals«, erklärte Hanrahan jetzt. Gemeint ist die Entlastung vom Vorwurf des Mordes an dem Polizisten Daniel Faulkner, unter dem der damalige Radiojournalist und Ex-Black-Panther Abu-Jamal im Dezember 1981 in Philadelphia verhaftet und ein halbes Jahr später zum Tode verurteilt worden war.

Die neuen Beweise dafür, dass es in den staatsanwaltschaftlichen Vorermittlungen und im Gerichtsverfahren gegen Abu-Jamal rassistische Vorurteile und eine Manipulation von Zeugenaussagen und Beweismitteln gab, waren in den letzten Monaten bei der Auswertung des Inhalts von sechs Archivkartons zum Vorschein gekommen. Diese waren mit Akten aus dem Prozess gegen Abu-Jamal am 28. Dezember 2018 in einem Lagerraum des Gebäudes der Anklagebehörde aufgefunden worden. »Zufällig« einen Tag nachdem Richter Leon Tucker vom Staatsgericht in Philadelphia Abu-Jamal per Beschluss die Möglichkeit eingeräumt hatte, mehrere vor den Gerichten Pennsylvanias abgelehnte Berufungsanträge neu verhandeln zu lassen.

Daraufhin hatte der neugewählte, als liberal geltende Bezirksstaatsanwalt Lawrence »Larry« Krasner den Aktenfund offiziell eingeräumt und die Unterlagen dem Gericht und der Verteidigung zur Verfügung gestellt. Wie Hanrahan nun erläuterte, befanden sich in den angeblich verschollenen Akten brisante Dokumente. So das Schreiben eines Belastungszeugen, der von der Staatsanwaltschaft »sein zugesagtes Geld verlangte«. Ferner eine Vielzahl von Aktennotizen des Anklägers Joseph McGill, der sich ausgiebig mit den offenen Strafverfahren gegen einen zweiten Zeugen der Anklage befasst hatte, um diesen unter Druck setzen zu können. Außerdem fand die Verteidigung handschriftliche Notizen der Staatsanwaltschaft mit akribischen Angaben zur Hautfarbe der Geschworenen, die für das Verfahren zur Auswahl standen.

»Jetzt wissen wir, dass die Staatsanwaltschaft 37 Jahre lang bewusst gelogen hat«, stellte Hanrahan fest. Denn die bislang der Verteidigung vorenthaltenen Prozessunterlagen belegten, wie die Staatsanwaltschaft jahrelang »die Akten von den in mehreren Berufungsinstanzen produzierten Dokumenten gesäubert« habe.

Zur neuen Aktenlage erklärten Judith L. Ritter und Samuel Spital von Abu-Jamals Verteidigungsteam, sie beweise, »dass der damalige Staatsanwalt die Aussagen der beiden entscheidenden Belastungszeugen beeinflusste, indem er ihnen finanzielle Zuwendungen oder milde Urteile in gegen sie laufenden Strafverfahren versprach«. Das Urteil sei verfassungswidrig, da »die Staatsanwaltschaft ihre Hauptzeugen manipulierte, um Abu-Jamal fälschlicherweise als den Schützen zu identifizieren«. Weiter ergebe sich daraus, dass Abu-Jamal im Prozess »durch einen ineffektiv agierenden Pflichtverteidiger vertreten wurde«, der es unter anderem sträflich unterlassen habe, »die manipulierten Kronzeugen ins Kreuzverhör zu nehmen«.

Wie von Richter Tucker garantiert, habe »der Mandant deshalb zur weiteren Anfechtung der Ablehnung seiner früheren Berufungsanträge am 3. September 2019 zwei umfangreiche Schriftsätze bei Gericht eingereicht«. Diese ließen keinen anderen Schluss zu, als dass 1982 ein Unrechtsurteil gegen ihn gefällt wurde. Mumia Abu-Jamal habe immer schon gesagt, er sei unschuldig, betonte Anwältin Ritter, »und die neuen Dokumente widerlegen die Behauptungen von Polizei und Anklage, wie Officer Faulkner angeblich zu Tode kam«.


URL des Artikels:
https://www.jungewelt.de/artikel/362869.free-mumia-abu-jamal-manipuliert-und-gelogen.html

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Quelle:
junge Welt vom 16.09.2019, Seite 6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2019

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