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MUMIA/969: Kampf um Augenlicht - Die nötige Operation wird hinausgezögert (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 09.07.2019

Kampf um Augenlicht

Der politische Gefangene Mumia Abu-Jamal ist akut von Erblindung bedroht.
Die nötige Operation wird hinausgezögert

Von Jürgen Heiser


Am Tag vor dem nationalen Feiertag am 4. Juli standen die Telefone in zwei US-Behörden nicht still. Lawrence Krasner, Bezirksstaatsanwalt von Philadelphia, und Superintendentin Theresa A. Delbalso, Leiterin des Staatsgefängnisses Mahanoy in Frackville (Pennsylvania), wurden von zahlreichen Anruferinnen und Anrufern aufgefordert, sich für die sofortige Augenoperation des von Erblindung bedrohten, politischen Gefangenen Mumia Abu-Jamal einzusetzen. Die Telefonaktion geschah bewusst am 3. Juli, dem 37. Jahrestag der Verurteilung des heute 65jährigen Journalisten, Ex-Black-Panthers und Bürgerrechtlers, der seit 1981 unschuldig im Gefängnis sitzt. Im Sommer 1982 war er wegen Mordes an einem Polizisten, den er nie begangen hat, zum Tode verurteilt worden.

Bekanntermaßen ist Abu-Jamal seit Jahren schwer erkrankt. Das ist die Folge der jahrzehntelangen Haft, von der er bis zur Umwandlung des Todesurteils in lebenslange Haft fast 30 Jahre in der Isolation des Todestrakts verbringen musste. Unter den Bedingungen des »Slow Death«, des »langsamen Todes«, wie der politische Gefangene seine Haft ohne Chance zur Entlassung auf Bewährung nennt, schreitet die Zermürbung seines Körpers weiter fort.

In der gestrigen Ausgabe dieser Zeitung erschien die 965. seiner wöchentlichen Kolumnen in Folge. Darin beschrieb er, der sich selbst sonst zurücknimmt und seine Leserschaft am Leben und den Kämpfen anderer inner- und außerhalb der Gefängnisse teilhaben lässt, wie er den zunehmenden Verlust seiner Sehkraft erlebt. Mittlerweile sehe er so schlecht, dass er »unbedingt die Stimmen von Leuten hören muss, um sie wirklich zu erkennen - wie ein Blinder«.

Über diesen besorgniserregenden Gesundheitszustand ihres Korrespondenten hatte jW erstmals am 5. Juni 2019 berichtet. Drei Tage später nutzte der Hamburger Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker seinen Auftritt auf der Berliner Künstlerkonferenz der Zeitschrift Melodiethmus dazu, auf die äußerst ernste Situation Abu-Jamals aufmerksam zu machen. Er verwies auf dessen Vertrauensarzt Dr. Joseph Harris, der in einem Gutachten die Notwendigkeit einer sofortigen Haftverschonung für den kranken Gefangenen hervorgehoben hatte, da insbesondere unter den Bedingungen der Haft seine »fast vollständige Erblindung in zwei bis vier Jahren« zu befürchten sei.

Eine »Stimme der Unterdrückten« sei »Mumia nicht nur in den Zellen der US-Gefängnisindustrie«, so Becker in seinem Plädoyer für den Kollegen und Mitstreiter, »sondern überall, wo Menschen ausgeschlossen sind von politischer und gesellschaftlicher Teilhabe, nicht nur in den USA«. Wenn er unter dem Verlust seines Augenlichts »in seiner Betonzelle weder lesen noch schreiben« könne, wie solle er dann noch »seine Kolumnen, die nicht nur in der jW, sondern weltweit verbreitet werden«, verfassen? Nicht nur den Unterdrückten, die öffentlich kein Gehör finden, würde seine Stimme fehlen. Das sahen auch die 300 Teilnehmer der Künstlerkonferenz so und schlossen sich der Forderung nach sofortiger Freilassung Abu-Jamals zur medizinischen Behandlung einhellig per Akklamation an.

Kurz darauf informierte Noelle Hanrahan vom Prison Radio Project aus San Francisco nach einem Besuch bei Abu-Jamal die Öffentlichkeit darüber, wie schwer dem Gefangenen inzwischen das Lesen falle. Seine Brille lindere die Beschwerden nicht, eine Lupe oder andere Lesehilfen habe er nicht. Dr. Courtney P. Rodgers, medizinischer Leiter der Krankenabteilung im Mahanoy-Gefängnis, habe zwar laut Hanrahan den Katarakteingriff an beiden Augen inzwischen genehmigt, jedoch erklärt, die Terminierung werde »ein paar Monate« dauern. Rodgers arbeitet für die Privatfirma Correct Care Solutions, der das US-Justizministerium die medizinische Versorgung in vielen US-Haftanstalten und Internierungslagern für Einwanderer übertragen hat. Die Vergabe der Termine unterliege »nicht seiner Kontrolle«, so der Arzt gegenüber Abu-Jamal.

Liberation News, Zeitung der »Party for Socialism and Liberation« (PSL), berichtete, nicht allein Abu-Jamal müsse »diese grausamen Angriffe auf die Gesundheit von alternden und kranken Menschen hinter Gefängnismauern ertragen«. Nach einer aktuellen Statistik des US-Justizministeriums seien mehr als 130.000 Häftlinge Senioren. Zwischen 1993 und 2013 sei die Zahl um 400 Prozent angestiegen. Überall im Land erlebten diese älteren Gefangenen »gegen Ende ihres Lebens eine qualvolle Zeit«, ohne eine Chance auf Entlassung aus »humanitären Gründen« zu bekommen, so die PSL.

Von Hanrahan nach seiner Meinung zu einer »Freilassung aus humanitären Gründen« befragt, habe Abu-Jamal geantwortet, er würde »jede Art von Freilassung begrüßen« und sei einverstanden, wenn die Öffentlichkeit sich an Dr. Rodgers wende, »um die Terminierung der Katarakt-OP zu beschleunigen«. Der baldige Eingriff sei notwendig, erklärte die Radiojournalistin, da Abu-Jamals drohende Erblindung jetzt noch »durch eine Operation effektiv« aufgehalten werden könne. »Nehmt euch wenigstens einen Moment Zeit, die Petition der 'Mobilization for Mumia' zu unterzeichnen«, forderte Hanrahan.

In den USA und immer mehr Ländern, von Mexiko bis Frankreich und der BRD, fordern deshalb Menschenrechtsorganisationen und Bündnisse der »Free Mumia«-Solidaritätsbewegung jetzt verstärkt eine sofortige Augenoperation. Rolf Becker kommentierte, wenn jetzt nicht gehandelt werde, dann ginge »das Mundtotmachen von Mumia seinem physischen Tod voraus«. Und der Gewerkschafter betonte gegenüber jW: »Es liegt an uns, dass er weiter schreiben und als Mensch für andere Menschen weiterleben kann. Free Mumia!«


Link zur Petition:
https://actionnetwork.org/petitions/emergency-appeal-for-mumias-health

URL des Artikels:
https://www.jungewelt.de/artikel/358306.free-mumia-abu-jamal-kampf-um-augenlicht.html

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Quelle:
junge Welt vom 09.07.2019, Seite 3
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2019

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