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MUMIA/372: Keine Frage der Zeit (Mumia Abu-Jamal)


Kolumne # 501
Keine Frage der Zeit

Warum ein Gericht in der US-Stadt Philadelphia
einen Bombenabwurf von 1985 nicht verfolgt

Von Mumia Abu-Jamal, Juli 2010


Vor kurzem haben Mitglieder der antirassistischen Organisation Move in Philadelphia bei Gericht eine Mordanklage gegen Beamte der Stadt eingereicht. Der zuständige Staatsanwalt beantragte deren Niederschlagung und verwies dabei auf den langen Zeitraum, der seit den Ereignissen verstrichen sei, nämlich 25 Jahre. Am 13. Mai 1985 hatte die Polizei von Philadelphia auf Anordnung von Bürgermeister W. Wilson Goode eine Bombe aus einem Hubschrauber auf das damalige Move-Hauptquartier in West-Philadelphia abwerfen lassen. Elf Angehörige der darin lebenden Kommune, darunter fünf Kinder, kamen in der Feuersbrunst um. Diese zerstörte nicht nur das Move-Gebäude völlig, sondern griff auch auf 61 Nachbarhäuser über und machte 250 Menschen obdachlos.

Der Vorsitzende Richter Frank Palumbo schloß sich nun der Argumentation der Staatsanwaltschaft an und wies die Klage ab. Dramatisch an dieser Entscheidung ist auch, daß dieselbe Behörde, die hier mit dem »langen Zeitraum« argumentierte, in einem anderen Fall alle Hebel in Bewegung setzte, um einen Mann nach 44 Jahren noch wegen Mordes auf die Anklagebank zu bringen. Dabei hatte der jetzt 74jährige William J. Barnes aus Philadelphia bereits sechzehn Jahre wegen versuchten Mordes an dem Polizeibeamten Walter T. Barclay im Gefängnis gesessen. Er war verurteilt worden, 1966 bei einem gescheiterten Einbruchsversuch auf den Beamten geschossen zu haben. Barclay war seitdem querschnittsgelähmt.

Als er 2007 an einer Blaseninfektion verstarb, sah die Staatsanwaltschaft darin eine Spätfolge der 1966 durch William J. Barnes erlittenen Verletzung. Sie ließ deshalb den alten Mann, der in einem Supermarkt arbeitete und an der Temple University und in Haftanstalten Vorträge über seine Abkehr von einem Leben als Straftäter hielt, erneut verhaften und stellte ihn unter Anklage - diesmal wegen Mordes. Die Vehemenz, mit der hier ein fragwürdiges Gerichtsverfahren auch noch nach 44 Jahren betrieben wurde, wird verständlicher, wenn man weiß, daß Druck auf die Staatsanwaltschaft ausgeübt wurde, den »Polizistenmörder« Barnes nicht davonkommen zu lassen. Das geschah durch die ultrakonservative Standesorganisation der Polizei, die Fraternal Order of Police (FOP).

Nach dem Freispruch von Barnes verließ Barclays Schwester Rosalyn Harrison in Begleitung des FOP-Präsidenten John McNesby den Gerichtssaal und beschimpfte den Freigesprochenen mit »Du Bastard!« McNesby nannte den Freispruch »unglücklich« und kündigte an, seine Organisation werde bei der zuständigen Bewährungskommission dafür sorgen, daß Barnes nicht freikäme. Zynischerweise wurde Barnes erst nach seiner Verhaftung im Jahr 2007 dem Vorwurf ausgesetzt, gegen frühere Bewährungsauflagen verstoßen zu haben, weshalb zurückliegende Strafaussetzungen widerrufen worden waren.

An dem Verfahren gegen Barnes wird deutlich, daß es für die Staatsanwaltschaft bei ihren Entscheidungen pro oder kontra Mordanklagen nicht wirklich um Zeitfragen geht. Der Grund, warum die von Move betriebene Mordanklage für Staatsanwaltschaft und Gericht nicht justitiabel war, liegt woanders: Die Täter 1985 waren in ihrer Mehrzahl Polizisten und die Opfer waren Schwarze, mittellos und Mitglieder einer bei den Staatsschützern verhaßten Organisation. Soviel zu dem Leitsatz, vor dem Gesetz seien alle gleich.

Ramona Africa, eine von zwei Überlebenden der mörderischen Polizeiattacke auf das Move-Haus, verbrachte sieben Jahre im Gefängnis. Als sie damals vor Gericht forderte, die Verantwortlichen für den Bombenabwurf auf die Anklagebank zu bringen, erklärte der Staatsanwalt gegenüber den Geschworenen: »Um deren Schicksal werden sich andere Richter und Jurys kümmern«. Das ist 25 Jahre her und einer dieser Richter hat nun entschieden, daß das einfach viel zu lange her ist. Aber auch davon wird Move sich nicht unterkriegen lassen.

Copyright: Mumia Abu-Jamal 2010
mit freundlicher Genehmigung des Autors

Übersetzung: Jürgen Heiser
Erstveröffentlicht in "junge Welt" Nr. 175/176 vom 31. Juli/1. August 2010


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Quelle:
Die Beiträge entstammen der Website www.freedom-now.de
mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Heiser
Internationales Verteidigungskomitee (IVK)
Postfach 150530, 28095 Bremen
Weitere Informationen siehe auch http://www.mumia.de/


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2010