Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → FAKTEN

STANDPUNKT/110: Israel - Einsatz von weißem Phosphor eindeutig Kriegsverbrechen (HRW)


Human Rights Watch - Pressemitteilung vom 25. März 2009

Israel: Einsatz von weißem Phosphor eindeutig Kriegsverbrechen

Willkürliche Angriffe verursachten unnötiges Leid in der Zivilbevölkerung


"Die leitenden Kommandeure sollen für den unnötigen Tod von Zivilisten durch den Einsatz von weißem Phosphor zur Rechenschaft gezogen werden."

Fred Abrahams, Senior Researcher in der Abteilung für Krisengebiete bei Human Rights Watch and Co-Autor des Berichts


(Jerusalem) - Der wiederholte Einsatz von Granaten mit weißem Phosphor in Gazas dicht besiedelten Gebieten während der jüngsten israelischen Offensive war willkürlich und stellt eindeutig ein Kriegsverbrechen dar, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 71-seitige Bericht "Rain of Fire: Israel's Unlawful Use of White Phosphorus in Gaza"(1) dokumentiert Zeugenaussagen zu den verheerenden Auswirkungen weißer Phosphormunition auf Zivilisten und ihr Eigentum in Gaza. Researcher von Human Rights Watch in Gaza fanden unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen explodierte Granaten, Munitionsbehälter und Dutzende abgebrannte, mit weißem Phosphor getränkte Filz-Keile in den Straßen, auf Hausdächern, in privaten Innenhöfen und einer Schule der Vereinten Nationen. Der Bericht liefert außerdem ballistische Beweise, Fotografien und Satellitenbilder sowie Dokumente des israelischen Militärs und der Regierung.

Das Militär verwendet weißen Phosphor in erster Linie zur Verschleierung von Bodenoperationen. Er erzeugt eine dichte Rauchwand, kann aber auch als Brandwaffe eingesetzt werden.

"Das israelische Militär hat weißen Phosphor nicht nur in offenem Gelände als Schutzschirm für seine Truppen verwendet, sondern wiederholt über dicht besiedelten Gebieten abgeschossen, auch wenn die Truppen dort nicht im Einsatz waren und obwohl weniger gefährliche Rauchgranaten verfügbar gewesen wären. Zivilisten hatten unnötig darunter zu leiden oder kamen ums Leben", so Fred Abrahams, Senior Researcher in der Abteilung für Krisengebiete bei Human Rights Watch and Co-Autor des Berichts.

Der Bericht dokumentiert eine gewisse Strategie beim Einsatz von weißem Phosphor, für die Human Rights Watch zufolge die Zustimmung von leitenden Offizieren notwendig gewesen sein muss.

"Die leitenden Kommandeure sollen für den unnötigen Tod von Zivilisten durch den Einsatz von weißem Phosphor zur Rechenschaft gezogen werden", sagt Abrahams.

Am 1. Februar legte Human Rights Watch den israelischen Streitkräften einen detaillierten Fragenkatalog bezüglich des Einsatzes von weißem Phosphor in Gaza vor. Die Streitkräfte antworteten nicht darauf, sondern verwiesen auf interne Ermittlungen durch das Südkommando.

Bei den jüngsten Operationen im Gazastreifen haben die israelischen Streitkräfte häufig weißen Phosphor in 155 mm-Artilleriegranaten über besiedelten Gebieten oder in deren Nähe in der Luft explodieren lassen. Jede dieser Granaten streut 116 brennende Keile aus weißem Phosphor in einem Umkreis von bis zu 125 Metern vom Ort der Detonation entfernt. Weißer Phosphor entzündet sich durch den Kontakt mit Sauerstoff und brennt bei Temperaturen von bis zu 816 Grad Celsius solange weiter, bis entweder nichts mehr übrig ist oder die Sauerstoffzufuhr unterbunden wird. Weißer Phosphor führt bei Hautkontakt zu schwersten Verbrennungen.

Der ordnungsgemäße Einsatz von Phosphorwaffen in offenem Gelände ist erlaubt. Der Human Rights Watch-Bericht kommt jedoch zu dem Schluss, dass die israelischen Streitkräfte wiederholt Phosphor-Granaten rechtswidrig über Wohngegenden detonieren ließen. Dabei sind Zivilisten getötet und verwundet sowie zivile Einrichtungen, darunter eine Schule, ein Markt, eine Lagerhalle der humanitären Hilfe und ein Krankenhaus, zerstört worden.

Israel bestritt anfänglich den Einsatz von weißem Phosphor in Gaza, ließ aber angesichts sich verdichtender Beweise verlauten, der Einsatz sämtlicher Waffen stehe in Einklang mit dem Völkerrecht. Später kündigte Israel interne Ermittlungen zu einem möglicherweise missbräuchlichen Einsatz von weißem Phosphor an.

"Früheren Ermittlungen der israelischen Streitkräfte zu Vorwürfen über Fehlverhalten nach zu urteilen wird diese Untersuchung weder gründlich noch unparteiisch vonstatten gehen", meint Abrahams. "Deshalb ist eine internationale Untersuchung von schwerwiegenden Verstößen seitens aller Parteien gegen das Kriegsrecht erforderlich."

Die israelischen Streitkräfte wussten, dass weißer Phosphor eine lebensbedrohliche Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellt. In einem medizinischen Bericht, den das israelische Gesundheitsministerium während der jüngsten Kampfhandlungen vorbereitet hat, heißt es, dass weißer Phosphor "zu ernsthaften Verletzungen und zum Tod führen kann, wenn er mit Haut in Kontakt kommt, inhaliert oder geschluckt wird." Verbrennungen von bereits weniger als zehn Prozent des Körpers können tödlich sein, da sie zur Schädigung von Leber, Nieren und Herz führen, so der Bericht des Ministeriums. Häufig kommt es zu Infektionen, die chemische Substanz kann zu einer ernsthaften Schädigung der inneren Organe und zum Tod führen.

Wenn die israelischen Streitkräfte weißen Phosphor lediglich als Rauchwand für ihre Truppen einsetzen hätten wollen, so die Schlussfolgerung von Human Rights Watch in dem Bericht, dann hätten sie auf eine jederzeit verfügbare, nicht tödliche Alternative zurückgreifen können, nämlich auf Rauchgranaten, die von einer israelischen Firma hergestellt werden.

Sämtliche von Human Rights Watch entdeckten Phosphorgranaten sind 1989 vom US-Hersteller Thiokol Aerospace produziert worden, damals Betreiber der Louisiana Army Ammunition Plant. Am 4. Januar fotografierte Reuters Artillerie-Einheiten der israelischen Streitkräfte mit Projektilen, deren Aufschrift darauf hindeutet, dass sie im September 1991 in der US-Waffenfabrik Pine Bluff Arsenal hergestellt worden sind.

Um die hohe Zahl ziviler Opfer in Gaza zu rechtfertigen, machten israelische Regierungsvertreter immer wieder die Hamas verantwortlich, die Zivilisten als "menschliche Schutzschilde" benutze und von zivilen Orten aus Angriffe unternehme. Die im vorliegenden Bericht dokumentierten Fälle lieferten jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Hamas zum Zeitpunkt der Angriffe Menschen als Schutzschilde benutzt hätte. In einigen Gebieten waren offensichtlich palästinensische Kämpfer anwesend, dies rechtfertigt jedoch nicht den willkürlichen Einsatz von weißem Phosphor in besiedelten Gebieten.

Human Rights Watch zufolge gibt es zahlreiche Gründe für die Schlussfolgerung, dass die israelischen Streitkräfte vorsätzlich oder grob fahrlässig Phosphorwaffen eingesetzt und gegen das Kriegsrecht verstoßen haben. Erstens lässt der wiederholte Einsatz von weißem Phosphor in besiedelten Gebieten bis zum Ende der Operation eher ein strategisches Verhalten erkennen als einen zufälligen Einsatz dieser Waffen. Zweitens waren sich die israelischen Streitkräfte sehr wohl über die Folgen von weißem Phosphor und den damit verbundenen Gefahren für die Zivilbevölkerung bewusst. Drittens versäumten die israelischen Streitkräfte, verfügbare und weniger gefährliche Alternativen zur Erzeugung von Rauchwänden einzusetzen.

Das Kriegsrecht verpflichtet Staaten zu einer unabhängigen Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen. Aufgrund der vorhandenen Indizien soll Israel Ermittlungen einleiten und, soweit erforderlich, diejenigen strafrechtlich verfolgen, die die rechtswidrigen Angriffe unter Einsatz von weißem Phosphor angeordnet oder ausgeführt haben, so Human Rights Watch.

Auch die Regierung der Vereinigten Staaten, die Israel mit Phosphorwaffen beliefert hat, soll Ermittlungen einleiten, um zu entscheiden, ob der Einsatz dieser Waffen gegen das Kriegsrecht verstoße.


(1) http://www.hrw.org/node/81760
vollständiger Bericht:
http://www.hrw.org/sites/default/files/reports/iopt0309web.pdf
vollständiger Bericht mit Cover:
http://www.hrw.org/sites/default/files/reports/iopt0309webwcover.pdf

http://www.hrw.org/de/news/2009/03/25/israel-einsatz-von-wei-em-phosphor-eindeutig-kriegsverbrechen


*


Quelle:
Pressemitteilung vom 25.03.2009
Human Rights Watch e.V.
E-Mail: berlin@hrw.org
Internet: www.hrw.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2009