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STANDPUNKT/106: Neues Denken als Voraussetzung einer Kultur des Friedens (IPPNWforum)


IPPNWforum | 113 | 08
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Neues Denken als Voraussetzung einer Kultur des Friedens

Einleitung von Prof. Dr. Dr. Horst-Eberhard Richter


Wenn wir uns als ärztliche Friedensbewegung in diesem Moment wieder zu Worte melden, so im Bewusstsein, dass der Geist der Versöhnung an der Reihe ist, den Kriegsgeist abzulösen, der seit dem 11. September die Welt in Atem gehalten hat und zum Teil immer noch hält. 1952, sieben Jahre nach Hiroshima, hatte das Nobelpreis-Komitee in Oslo den Arzt Albert Schweitzer ausgezeichnet, der in seiner Dankesrede zum Umdenken aufrief und klagte: "Wir sind vom Übermenschen zu Unmenschen geworden." "Wir haben uns der Unmenschlichkeit schuldig gemacht."


Aber er beließ es nicht beim Protest, sondern hinterließ uns eine große positive Botschaft, nämlich als Leitprinzip seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Als die Unmenschlichkeit der atomaren Weltbedrohung in den 80er Jahren einen weiteren Höhepunkt erreichte, ehrte das Nobelkomitee erneut den ärztlichen Versöhnungsgeist als Prinzip zur Umkehr aus der eskalierten hochakuten Atomkriegsdrohung. (...)

Für mich bestätigte sich damals wie auch später immer wieder der Eindruck, dass die Menschen in der Versöhnungsbereitschaft der Politik meist voraus sind. Sie fühlen sich von den politischen Machtspielen unter Inkaufnahme internationaler nuklearer Risiken überwiegend abgestoßen. Seinerzeit hatten sie einen Gorbatschow und einen Sacharow auf ihrer Seite. Besondere Krisenlagen scheinen jedoch nötig, um Politiker mit einem großen Herzen und einem starken Versöhnungswillen an die Macht gelangen zu lassen. Das war, als deutsche Niedergeschlagenheit einen Willy Brandt zur Macht brachte, der sich, wie er selbst sagte, einer Politik der "Compassion", also des Mitgefühls verschrieb. Das war, als die Russen aus der Tyrannei des Stalinismus zu dem Humanisten Gorbatschow flüchteten, der den Selbstbefreiungen im Ostblock und in der DDR Raum gab und die deutsche Wiedervereinigung möglich machte. Das war, als Südafrika am Rande eines verheerenden Bürgerkrieges einen Nelson Mandela brauchte, der - so seine Worte - an die einigende Kraft der "Herzensgüte" glaubte, um Schwarze und Weiße zusammenzuführen.

Das sind die Atempausen, in denen der in unserer Kultur lauernde Selbsthass von unten her dem Versöhnungsgeist freie Bahn gibt und die Krankheit unterbricht, die der unlängst verstorbene Physiker und Philosoph Carl-Friedrich von Weizsäcker als "seelische Krankheit Friedlosigkeit" bezeichnet und beschrieben hat. Es ist die Krankheit, in der das Uneins-Sein mit sich selbst immer wieder zur Suche nach Feinden führt, um an diesen projizierten Selbsthass abzureagieren. Dieser Mechanismus durchzieht unsere Geistesgeschichte seit der Inquisition und seit den mittelalterlichen Kreuzzügen, bis er nun im nuklearen Zeitalter das gesamte Leben auf unserem Planeten mit Vernichtung bedroht.

Die psychische Krankheit Friedlosigkeit hat eine Vorgeschichte, die ich in meinem Hauptwerk "Der Gotteskomplex" analytisch zu interpretieren versucht habe. Es ist das seit dem Ausgang des Mittelalters begonnene kreisförmige Ineinanderwirken von Glaubensschwächung und kompensatorischem Herrschaftswillen, von egoistischem Allmachtsstreben und panischer Verlorenheits- und Ohnmachtsangst. Die Unterdrückung von Ehrfurcht und Sensibilität hat uns dazu gebracht, dass unsere Führungsmacht USA bis zum heutigen Tag Hiroshima und Nagasaki mit 200.000 Toten noch immer als patriotische Ruhmestat verbucht. Den Schwund von Mitgefühl und von Abscheu vor wahnwitzigen Gräueltaten hat der Einstein-Freund und Nobelpreisträger Max Born als Warnzeichen vor der unmittelbaren Gefahr unserer gemeinsamen Selbstzerstörung erkannt. (...)

Die Heilung braucht Impulse von unten, so wie es in der sozialen Reformbewegung der 70er Jahre der Fall war, dann in der Sehnsucht nach Entstalinisierung, die Gorbatschow hervorbrachte, wie im Umdenken der ANC-Häuptlinge in Südafrika, das einem Mandela die Vollmacht zur Befreiung Südafrikas gab. Aber wo zeigt sich heute ein Willy Brandt, ein Gorbatschow mit Sacharow oder ein Mandela, der sich mit den basalen Heilungsinitiativen verbündet?

Erinnern wir uns an das kürzlich sensationelle Schauspiel in Berlin an der Siegessäule. 200.000 Menschen strömen zu einem Barack Obama, als wäre der amerikanische Präsidentschaftsbewerber bereits ein inthronisierter Messias, willens, nicht nur ein anderes Amerika, sondern eine neue Weltpolitik der Versöhnung zu schaffen. Die Begeisterung der Menschen, nur für sich genommen, verriet eine echte Sehnsucht nach einem Läuterer, der im Sinne Gorbatschows die vorhandenen internationalen Gegensätze dem konstruktiven Zusammenhalt der Weltfamilie unterzuordnen bereit ist und der es mit dem Ziel einer atomwaffenfreien Zukunft ernst meint. Diese letztgenannte Absicht hat er inzwischen so oft wiederholt, dass sie in den Köpfen der Menschen unauslöschlich haften bleiben wird. Gewiss ist offen, ob Obama gewählt werden wird. Offen ist, inwieweit er gegebenenfalls den Beharrungskräften der Stärkekult-Allianz standhalten könnte. Und erst recht offen ist, wie verlässlich die Zustimmung der Massen nach Abklingen der Obama-Mania bleiben würde, deren hysterische Beimengungen momentan unverkennbar sind.

Aber da gibt es neuerdings ja noch ein Hoffnungssignal aus den USA. Das ist die Initiative der vier alten prominenten Außen- und Sicherheitspolitiker, ausgewiesene Hardliner und Realisten. Henry Kissinger, Sam Nunn, William Perry und George Shultz plädieren geschlossen für eine vollständige atomare Abrüstung. 17 der letzten 24 US-Außen- und Verteidigungsminister unterstützen die Forderung der Vier. Deren Initiative kommt also - vom Rang der Persönlichkeiten her gesehen - von oben, aber von ihrem Pensionärs-Status her von unten. Wie auch immer - in der Nato rufen sie Bauchschmerzen hervor. Michael Rühle, Leiter des Planungsrates der politischen Nato-Abteilung, beeilt sich, die Forderung der Vier als unrealistisch zurückzuweisen. Mal nennt er sie "Viererbande", mal "vier scheinbar nuklear geläuterte ältere Herren". Ihr "Alterspessimismus" sei "kein guter Leitfaden für den Umgang mit dem zweiten nuklearen Zeitalter." Schon die Sprache macht deutlich: So gereizt reagieren ertappte Sünder. Die Verdrehung ist bezeichnend. Pessimismus steckt doch eindeutig in der Idee, wir könnten unsere Destruktivität nur noch in einer Art atomarer Sicherheitsverwahrung bändigen und dies unter Oberaufsicht der Supermacht, die gerade im Irak die eigene Vertrauenswürdigkeit so drastisch wie nur möglich widerlegt hat.

Nun, die Vier sind offenbar wie unsere Bewegung so optimistisch, dass sie mit uns an die Verantwortungsfähigkeit der Menschen glauben, eine Kultur des Friedens aus eigener humaner Verantwortung schaffen zu können und zu müssen. Der Gedanke, uns gegen eine unterstellte Friedensunfähigkeit gleichsam bei den Atomwaffen versichern zu wollen, verrät die Einwilligung in eine resignative Selbstentmündigung. Eben dieses ist ein wie immer verleugneter Pessimismus, dem wir als Friedensbewegung entschieden unser Vertrauen in die von Gorbatschow angemahnte Humanisierung unseres Zusammenlebens entgegenhalten. Diese scheinbar marginale Kontroverse erlaubt mir, zur Verdeutlichung der tiefen Kluft zurückzukehren, die das starre politisch militärische Denken der Machtelite von dem Versöhnungsglauben unserer Bewegung und großen Teilen der Bürgergesellschaft trennt.

Regierung und Parlamentsmehrheit haben erst kürzlich bestätigt, an der Stationierung von 20 Nato-Atombomben in Büchel festhalten zu wollen. Verteidigungsminister Jung will sogar dem Vernehmen nach über 2020 hinaus Tornado-Kampfflugzeuge, zum möglichen Tragen und Abwerfen der Bomben bestimmt, reservieren, von denen jede die mehr als 5fache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe in sich birgt. Keiner kann sagen, wen die Büchel-Bomben denn überhaupt noch abschrecken sollten.

84 % der Deutschen verlangen laut jüngster Forsa-Umfrage vom Juli 2008 den umgehenden Abzug aller Atombomben von deutschem Boden. 89 % erwarten sogar, dass die Atommächte zur Schaffung einer atomwaffenfreien Welt mit der Verschrottung der eigenen Nuklear-Arsenale schnellstmöglich vorangehen sollten. Die Wähler der beiden Koalitionsparteien liegen bei beiden Umfragen ganz nahe beieinander. Auch die stufenweise Erhöhung der Bundeswehr-Verwicklung in den Afghanistankrieg missfällt der Mehrheit unserer Bevölkerung. Mit ähnlichem Widerwillen begleiten die meisten hierzulande die schrittweise Verschärfung der innenpolitischen Überwachungsgesetze. Die R+V Versicherung, die regelmäßig die 15 häufigsten Ängste der Deutschen abfragt, fand 2006 gleich an 2. Stelle die Angst der Menschen vor der Bürgerferne der Politiker. Erst weit hinten, an 10. Stelle, folgte die Angst vor dem Terrorismus. Klartext: Die Leute fürchten sich offenbar mehr vor Verteidigungs- und Innenminister als vor denen, gegen die uns die Genannten schützen sollen.

Die Szenerie in Büchel macht es am augenfälligsten: Das an den Feind gebundene Sicherheitsdenken entlarvt sich selbst als krankes Paranoid. Millionenfache Tötung wird bereitgehalten. Aber kein Feind ist mehr in Sicht. Das Denken ist derart auf ein Anti und auf das lauernde Böse in der Welt fixiert, dass der vermeintlich permanent Verfolgte außerstande ist, sich selbst als den krankhaften Verfolger zu erkennen. Diese makabre Situation deutlich zu machen, war vor zwei Wochen Sinn unserer Protestveranstaltung in Büchel.

Aber unsere Bewegung darf sich eben nicht im Anti des Entlarvens und Protestierens erschöpfen. (...) Das Gedeihen unserer Bewegung hängt davon ab, ob wir um uns herum mehr Frieden, Freundschaft, Hilfsbereitschaft wachsen lassen können. Denn daraus erfahren wir die Bestätigung, dass wir etwas zum Besseren bewegen können. Wir stärken unseren Glauben, dass wir z.B. fähig sind, mehr Nähe zu stiften, wo Entfremdung oder schließlich Verfeindung droht oder schon eingetreten ist. Es ist ähnlich wie in unserem Beruf, in dem wir auch oft nur Heilungskräfte, die schon da sind, verstärken und gegen Schädlichkeiten schützen.

Die Schädlichkeit, mit der wir es in der Friedensbewegung vorrangig zu tun haben, ist die Selbstdefinition des vom Bösen-Verfolgtwerdens, das ein Leben lang abgewehrt, bekämpft und besiegt werden müsse. Wenn man die Gnade erlebt, alt zu werden, erfährt man fortlaufend, dass das Böse dort verschwindet, wo es angeblich auf ewig verortet war, wie also z.B. für die Deutschen die Franzosen, für die Apartheids-Weißen in Südafrika die Schwarzafrikaner, für die protestantischen die katholischen Iren usw. Das Schädliche kommt von innen und wird dort festgemacht wo es dem Bedürfnis zu bekämpfen entgegenkommt. Aber wo ist die heilende Gegenkraft, die gegen das Schädliche schützen kann? Nelson Mandela getraute sich von "Herzensgüte" zu sprechen, die allen innewohne. Carl Friedrich von Weizsäcker nannte die Kraft der Versöhnung, fügte aber hinzu: "Eines inneren Friedens fähig werden wir nicht durch unser Verdienst, sondern weil wir geliebt sind und weil wir darum Gott und in Gott die Menschen lieben dürfen." Das sagte Weizsäcker in seiner Rede über die seelische Krankheit Friedlosigkeit. Das ist eine Sprache, die heute sonst kaum mehr öffentlich gewagt wird, weil in der technischen Welt die Innerlichkeit mehr und mehr sprachlos wird. Und Versöhnung ist ja gewiss etwas, was man nicht einfach in sich abrufen kann, wie es heute heißt. Man kann sie nur in sich finden. Das kann man allerdings dadurch erleichtern, dass man sich an die anderen annähert. Nähe weckt Einfühlung. Und Nähe macht die Verantwortung für einander spürbar.

Manche Alte unter Ihnen hatten vielleicht wie ich lernen müssen, Töten von vermeintlichen Feinden als Soldat und Tod-Erleiden in der eigenen Familie durch Soldaten der Feindseite zu verarbeiten. Jedenfalls kommen wir alle in diesem Lande aus einer historischen Phase der Unmenschlichkeit und haben direkt oder indirekt als Botschaft den Auftrag mitbekommen, daran mitzuwirken, das Erinnerte unwiederholbar zu machen. Wer mit diesem gespürten Auftrag lebt, hat es schwer nachzuvollziehen, wenn Kanzlerin oder Verteidigungsminister uns nahe legen oder uns geradezu auffordern, die Atombomben in Büchel und das Mitschießen in Afghanistan als erfreuliche deutsche militärische Normalisierung zu begrüßen, anstatt uns um die uns aufgegebene Mithilfe zur Überwindung der Krankheit Friedlosigkeit zu sorgen. Deutsche Normalität heißt für uns nicht mitschießen, sondern die Schwachen mehr schützen und die von Albert Schweitzer erläuterte Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben beherzigen.


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Quelle:
IPPNWforum | 113 | 08, S. 14-16
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2009