Schattenblick → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → FAKTEN


INTERNATIONAL/262: Kritisches Engagement in Zeiten von Shrinking Space (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 145, 3/18

Kritisches Engagement in Zeiten von Shrinking Space
Die Handlungsspielräume von zivilgesellschaftlichen Organisationen werden weltweit eingeschränkt

von Tania Napravnik und Petra Pint


Zivilgesellschaftliche Akteur_innen und Akteur_innen der Friedens- und Demokratieförderung stehen weltweit unter Druck. Regierungen im Globalen Süden, aber auch im Norden werfen ihnen externe politische Einflussnahme vor und setzen gezielt Maßnahmen für die Einschränkung ihrer Handlungsspielräume: von rechtlichen Restriktionen, Erschwernissen bei der Finanzierung bis hin zu Diffamierungen und Gewaltausübung. Diesen Shrinking Space machte das österreichische Studienzentrum für Friedens- und Konfliktforschung zum Thema seiner diesjährigen Sommerakademie.

Selmin Çaliskan und Shalini Randeria berichteten - neben anderen - über ihre Erfahrungen mit Einschränkungen und Möglichkeiten des Widerstands in der Türkei und Indien, und Annika Poppe schilderte aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse der Demokratieförderforschung. Die Beiträge zeigen, dass es eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem globalen Phänomen geben muss und warum sich die Skepsis gegen die Einmischung von außen nicht immer so leicht vom Tisch wischen lässt.


Am Beispiel Türkei: Rechtsstaatliche Eingriffe

Vor 15 Jahren erklärte Recep Tayyip Erdogan während einer Rede an der Harvard University: "The form of rule should be such that citizens do not need to fear the state but give it direction." Dies scheint nicht mehr zu gelten, denn in der jüngsten Vergangenheit wurde die Meinungsfreiheit im öffentlichen und privaten Bereich eingeschränkt und die Antiterrorgesetzgebung weiter ausgebaut. Im Zuge dessen wurden viele türkische Staatsbürger_innen angeklagt: Lehrer_innen, Journalist_innen, Ärzt_innen, NGO-Mitarbeiter_innen und viele mehr.

Selmin Çaliskan, die ehemalige Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, unterstrich im Panel "Handlungsräume verteidigen: Lessons learnt", dass diese Gesetzgebung dazu genutzt werde, um die anerkannten zivilgesellschaftlichen und politischen Organisationen in ihrem Handlungsspielraum einzuschränken.


Widerständige Frauen*

Auch Frauen*rechte werden beschnitten, so Çaliskan. Beispiele dafür sind die Beschränkung des Zugangs zu Schwangerschaftsabbrüchen und immer mehr physische Übergriffe auf Frauen* in der Öffentlichkeit, wenn sie nicht "passend" angezogen seien. Obwohl sich die Situation von Frauen* verschlechtere, präsentierte Çaliskan türkische Frauen* als starke Akteur_innen, die jedoch öffentlich nicht wahrgenommen werden. Sie erzählte von "Frauen*friedensmärschen", die organisiert wurden, um das politische Klima im Land und Militäraktionen anzuprangern. Viele Frauen* - vor allem jüngere - wurden herausgepickt und verhaftet. Aber die meisten ließen sich dadurch nicht einschüchtern, denn die marschierenden Frauen* blockierten ganze Autobahnen.

Bürger_innen-Journalist_innen berichten in der Türkei mit einem eigenen alternativen Medienportal über Widerstände und entziehen sich so der staatlichen Zensur gegen akkreditierte Journalist_innen.


Koloniale (Dis-)Kontinuitäten in Indien

Die Leiterin des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, Shalini Randeria, erklärte im Panel "Shrinking Space und post-koloniale Souveränität", dass der Begriff "Zivilgesellschaft" auf den ersten Blick schillernd erscheinen möge, jedoch passe er sich an seine Umgebung an. Die Neoliberalen lieben ihn, weil er den Staat ersetze, linke Stimmen in Indien kritisieren den Begriff aber auch, so Randeria, weil zivilgesellschaftliche Akteur_innen oft nicht als watchdogs agieren und inländische Missstände aufzeigen, sondern immer öfter auch - professionalisiert und finanziert von internationalen Geldgeber_innen - als lapdogs ausländischer Interessen. Ihr sei es wichtig zu schauen, wer diesen Begriff benutzt, um bestimmte Gruppen ein- bzw. auszuschließen. Die Zivilgesellschaft versuche immer einen Raum gegenüber dem Nationalstaat auszuloten.

Randeria betonte aber, dass in postkolonialen Kontexten die Zivilgesellschaft immer ein imperialer Begriff sei: "Der Staat war immer ein Kolonialstaat. Von Anfang an war der Begriff nur in einem transnationalen Rahmen denkbar. Zivilgesellschaft könnten sowohl die christlichen Missionar_innen sein, die in Indien eine bestimmte Art von Familien- oder Frauen*politik propagierten, aber auch die Anti- Sklaverei-Bewegungen."


Wer definiert die Agenden?

Durch die divergierenden Prioritätensetzungen von externen NGOs und sozialen Bewegungen verlieren die internationalen Initiativen an Anerkennung bei der lokalen Bevölkerung und bedienen zugleich koloniale Handlungsstränge. Akteur_innen in den Ländern des Globalen Südens sind oft auch überfordert angesichts der externen Ansprüche und wechselnden Konzepte, die sie umsetzen sollten, so Randeria. Viele zivilgesellschaftliche Akteur_innen möchten ihre Agenden aus inländischen Kontexten heraus definieren.

Gegenwärtig formieren sich in Zentralindien neue soziale Bewegungen. Dort wehren sich lokale Organisationen gegen transnationale Konzerne und die Folgen von landgrabbing. Randeria erklärte, dass diese Kämpfe vorwiegend von indischen bottom-up-Initiativen (z. B. Bäuer_inneninitiativen) getragen werden, da der Themenbereich landgrabbing nicht in der internationalen Geber_innen-Gemeinschaft verankert sei.


Zivilgesellschaft im globalen Spannungsfeld

Annika Poppe arbeitet in der Demokratieförderforschung. Einen Backlash gegen die Förderpolitik nimmt sie seit 15 Jahren wahr. Ihr war es bei der Sommeruniversität wichtig, einen differenzierten Blick auf die Beweggründe zu werfen - ohne den von den autoritären Eliten intendierten Machterhalt und den Druck und die Gewalt, denen zivilgesellschaftliche Akteur_innen ausgesetzt sind, kleinreden zu wollen. Regierungen des Globalen Nordens wie auch des Südens berufen sich auf liberale Grundwerte wie nationalstaatliche Souveränität und das Recht auf Nichteinmischung. Manchmal seien es auch vorgeschobene Argumente - von beiden Seiten, so Poppe.

Die Skepsis der Menschen im Globalen Süden gegenüber einer Einmischung von außen werde von autoritären Regimen oft instrumentalisiert. Aber diese Ängste sollten auch gehört werden. Denn Länder, in denen Demokratieförderprojekte durchgeführt werden, haben oft eine koloniale Vergangenheit und machen bis heute Ausbeutungserfahrungen. Regierungen des Globalen Nordens müssten sich auch an ihrer eigenen Nase nehmen und ihren eigenen Shrinking Space rechtfertigen. Denn auch dort werden im Dienste von Versicherheitlichung und Terrorismusbekämpfung Freiheitsrechte eingeschränkt und gleichzeitig außenpolitische mixed signals gesendet - Stichwort: Rüstungsexporte, Flüchtlingsabkommen.

Poppes Schlussfolgerung: Es sei wichtig, die Auseinandersetzungen über die Zivilgesellschaft möglichst offen und in einer differenzierten Art und Weise zu führen, um Hintergründe und Motive des Shrinking Space zu verstehen und den weltweiten Glaubwürdigkeitsverlusten in Parteien, Institutionen und Medien entgegensteuern zu können.

Zu den Autorinnen:
Tania Napravnik koordiniert das Radioprojekt "Globale Dialoge" (www.noso.at) und leitet das SADOCC-Sekretariat (www.sadocc.at/) in Wien. Petra Pint ist Redakteurin der Frauen*solidarität.

Hörtipp:
Am 21. August 2018 wurde im Rahmen der Sendereihe "Globale Dialoge" auf Radio Orange 94.0 um 13 Uhr der Vortrag von Selmin Çaliskan zum Thema "Abschaffung des Rechtsstaats in der Türkei?" ausgestrahlt. Nachzuhören unter: http://noso.at/

Webtipp:
www.aspr.peacecastle.eu/conferences-meetings-activities/

*

Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 145, 3/2018, S. 29-30
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Tania Napravnik und Petra Pint
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
Informations- und Bildungsarbeit,
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
Die Frauen*solidarität erscheint viermal im Jahr.
Preis pro Heft: 5,- Euro plus Porto
Jahresabo: Österreich 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang