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INTERNATIONAL/155: Tunesien - "Protesttänzer" und Graffiti-Künstler verteidigen Demokratie (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. April 2013

Tunesien: Kreativer Widerstand - 'Protesttänzer' und Graffiti-Künstler verteidigen Demokratie

von Giuliana Sgrena


Bild: © Lassad Ben Achour/IPS

Ein Ruf nach Freiheit in Tunis
Bild: © Lassad Ben Achour/IPS

Tunis, 16. April (IPS) - Ela, eine junge Tunesierin, trägt den islamischen 'Niqab', einen Gesichtsschleier, der nur ihre Augenpartie freilässt. Fünf Monate lang hat sie erfolglos gegen ein Verbot ihrer Universität angekämpft, die Studentinnen mit Niqab keinen Zutritt gewährt.

Ein anderes Bild bietet sich an einem anderen Ort in der Hauptstadt Tunis, an dem eine Gruppe von Studenten in traditionellen tunesischen Gewändern und mit einer um die Schultern geschlungen Landesflagge den 'Harlem Shake' aufführt. Der Tanz stammt aus den USA, ist aber über das Internet auch in dem nordafrikanischen Land populär geworden.

Diese beiden Szenen veranschaulichen den Konflikt zwischen ultra-religiösen Salafisten und weltlich orientierten Tunesiern. Letztere sehen den Aufstieg der Islamisten nach dem Sturz von Diktator Zine El Abidine Ben Ali im Januar 2011 als Beweis dafür, dass die während der Revolution erreichten Fortschritte wieder zunichte gemacht werden.

Ela, die von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet ist, zeigt damit das Bedürfnis der Konservativen nach Ehrfurcht und Konformität. Die 'Protesttänzer' dagegen repräsentieren eine neue Generation, die während der Revolte entstanden ist: eine lebendige, farbenfrohe und vielfältige Mischung aus Menschen, die die Kultur als neue Frontlinie im Kampf für Demokratie nach der Revolution in Tunesien sehen.

Der Rapsänger 'Weld el 15' wurde kürzlich zu zwei Jahren Haft verurteilt, nachdem er seinen Protestsong 'Boulicia Kleb' (Polizisten sind Hunde) veröffentlicht hatte. Auf der Internet-Videoplattform 'YouTube' wurde der Titel mehr als 650.000 Mal aufgerufen. Weitere Beteiligte wurden zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.


Graffiti-Künstler werden zum Schweigen gebracht

"Die Polizei nutzte oft das Gesetz gegen Drogen, um Sänger festzunehmen, vor allem Rapper, die Marihuana rauchen", sagt Adnen Meddeb, ein junger Regisseur, der den Volksaufstand in Tunesien filmte.

Oussama Bouajila und Chahine Berriche, zwei Graffiti-Künstler der Gruppe 'Zwelwa' (Die Armen), wurden am 3. November 2012 verhaftet. Der Grund war ihr Wandgemälde mit dem Titel 'Das Volk will Rechte für die Armen' in der Industriestadt Gabes. Am 10. April wurden beide zu einer Geldstrafe von jeweils 50 US-Dollar wegen der "Verunstaltung von Regierungseigentum" und der Reinigung der bemalten Fläche verurteilt. Zwelwa beschrieb das Verfahren gegen die Künstler als "politischen Prozess, der an die Methoden unter Ben Ali erinnert".

Jeden Mittwoch versammeln sich inzwischen Künstler vor dem Innenministerium in Tunis zu einer Sitzblockade, um gegen die Ermordung des bekannten Oppositionsführers Chokri Belaid am 6. Februar zu protestieren. "Wir sitzen hier, um das Ministerium zu zwingen, folgende Frage zu beantworten: 'Wer hat Belaid getötet?' ", sagt der Maler Amor Ghadamsi, der Generalsekretär der Tunesischen Künstlergewerkschaft ist.

Die Ermordung des Vorsitzenden der linken Volksfront sei "der schlimmste Zwischenfall in einem Klima zunehmender Gewalt" gewesen und habe das Land in den Schockzustand versetzt, meint er. Zuvor seien sich die Tunesier nicht bewusst gewesen, wie groß die Gefahren für sie seien. "Jetzt verlangen wir, dass die Behörden die Täter finden."

Die Künstler treffen sich zu ihren wöchentlichen Protesten, seitdem radikale Salafisten eine vor dem Wohnhaus des Toten aufgestellte Statue zum Gedenken an Belaid zerstört haben. "Kultur ist jetzt unser Widerstand", sagt Ghadamsi. Damit spielt er auf die weite Verbreitung von Graffiti und politischen Rap-Songs an, deren Texte die Revolution feiern.

Die Proteste vor einem Regierungsgebäude machen deutlich, dass die regierende Ennahda-Partei, die als gemäßigte, säkulare Kraft die ersten freien Wahlen im Oktober 2011 gewann, in der Bevölkerung zunehmend Misstrauen weckt. Die Partei ist immer mehr in die Kritik geraten, seit sie islamischen Extremisten freie Hand lässt. Eine dieser radikalen Gruppen ist die Liga für den Schutz der Revolution (LPR), der enge Verbindungen zur Regierung nachgesagt werden. Sie war schon in Konfrontationen mit Oppositionsparteien und Gewerkschaftsaktivisten verwickelt.


Islamisten offenbar von der Regierung gedeckt

Mitglieder der LPR bekannten sich zu einem tödlichen Angriff auf Lotfi Nakbou, einen Führer der Partei 'Nida Tounes' in der südtunesischen Stadt Tataouine im Oktober 2012, sowie zu der Zerstörung der Statue von Belaid. "Diese Leute arbeiten im Namen von Ennahda", sagte Jilani Hammami, Sprecher der Arbeiterpartei, in einem Interview mit der Internet-Nachrichtenplattform 'Tunisia Live' im Januar dieses Jahres. Es handele sich um frühere Strafgefangene, die von der Regierungspartei angeworben worden seien.

Die Regierung wies die Anschuldigungen zurück. Doch viele Tunesier kritisieren, dass Mitglieder der LPR bisher noch nie wegen krimineller Handlungen zur Rechenschaft gezogen worden sind. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://www.youtube.com/watch?v=6owW_Jv5ng4
http://www.tunisia-live.net/
http://www.ipsnews.net/2013/04/culture-is-the-new-resistance/

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IPS-Tagesdienst vom 16. April 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2013