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INTERNATIONAL/082: Zivilgesellschaft und arabische Revolution (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

Zivilgesellschaft und arabische Revolution

Von Hannah Wettig


Der entwicklungspolitische Konsens besagt, dass Zivilgesellschaft Demokratisierungsprozesse fördere. In der arabischen Welt war diese Zivilgesellschaft jedoch nur mangelhaft ausgeprägt. Jedenfalls, wenn man sie als formelle Nichtregierungsorganisationen (NRO) versteht. Die verengte Definiton ist aber offensichtlich, will man die sogenannten Facebook- und Twitter-Revolutionen erklären, verfehlt, denn ausgerechnet in den arabischen Ländern mit der ausgeprägtesten Zivilgesellschaft fand gerade keine Revolution statt. Was ist also letztlich entscheidend?


Im entwicklungspolitischen Diskurs wird Zivilgesellschaft in der Regel gleichgesetzt mit Nichtregierungsorganisationen. Damit sind formell organisierte Menschenrechts-, Frauen- und Umweltgruppen, eventuell auch karitative Organisationen, Berufsverbände, Gewerkschaften und andere Interessenvertretungen gemeint. Viele Autoren behaupten zudem eine Werteorientierung der "Zivilgesellschaft". Sie zählen nur solche Gruppen dazu, die sich Toleranz, Menschenrechten, Gewaltlosigkeit, Demokratie usw. verpflichtet fühlen.

Gerade für den arabischen Raum sei der sozialwissenschaftliche Blick aber eingeschränkt, schreibt Holger Albrecht im Neuen Jahrbuch Dritte Welt 2005 - Zivilgesellschaft, "da oftmals nur sehr spezifische Akteure (NRO), Diskurse (politische Liberalisierung, Reformen) und Hypothesen hinsichtlich des Ergebnisses von Wandlungsprozessen (Demokratisierung) untersucht werden".

Diese enge Sichtweise hat einen praktischen Grund: Sie benennt potenzielle Empfänger von Entwicklungshilfe. Geber brauchen formelle Organisationen mit Adresse - Blogger lassen sich schwer fördern. Und sie brauchen einen guten Grund, in diesem Fall Demokratieförderung. Daher schließen die meisten Sozialwissenschaftler islamistische Bewegungen aus dem Begriff der Zivilgesellschaft aus. Bei den Revolutionen in Osteuropa wurde die Kirche allerdings sehr wohl als zivilgesellschaftlicher Akteur wahrgenommen.

Dass Kirche Zivilgesellschaft sein soll, Moschee aber nicht, ist nur ein Grund, warum diese Einengung wissenschaftlich wenig taugt, obgleich gerade Wissenschaftler damit arbeiten. Zivilgesellschaft vorab auf den demokratischen und organisierten Teil gesellschaftlichen Engagements einzuengen, grenzt an einen Zirkelschluss: Organisierte Demokratie entsteht, wo es demokratische Organisationen schon gibt.


Zivilgesellschaft muss nicht organisiert sein

Der arabische Frühling indes dreht sich nicht im Kreis wie das Denken mancher westlicher Beobachter. Ihren Ausgang nahm die Revolte in Tunesien, wo eines der politisch repressivsten Regimes der Region Menschenrechtsaktivisten auf Schritt und Tritt überwachte, schikanierte und regelmäßig einsperrte. Obgleich sich in den 90er Jahren einige NROs gründen konnten, war die Zivilgesellschaft im Sinne formeller demokratieorientierter Organisationen in Tunesien bestenfalls unterentwickelt.

Der rebellische Funke sprang über nach Ägypten, einer eher gemäßigt zu nennenden Diktatur, die sich ein am Halsband geführtes Mehrparteiensystem hielt. Es gab zahlreiche Menschenrechtsgruppen, kritische wissenschaftliche Institute, aufmüpfige Schriftsteller und Regisseure sowie eine zwar von der Zensur gegängelte aber nichtsdestotrotz vielfältige Medienlandschaft. Zweifellos gab es in Ägypten Zivilgesellschaft.

Ganz anders sah es im dritten Aufstandsland aus. In Gaddafis Libyen konnte jegliche politische Meinungsäußerung, und sei es im engsten Freundeskreis, zur sofortigen Verhaftung führen. Alle Berufsverbände, Studentenorganisationen und Lokalkomitees waren überwacht - in der Wirkung kann man sie als "gleichgeschaltet" bezeichnen. Gaddafis Sohn Saif Al Islam hat in den vergangenen zehn Jahren zwar Zivilgesellschaft propagiert, darunter verstand das Regime aber allein wohltätiges Engagement, das sich jeder kritischen Äußerung enthalten musste - selbst zu Wasserversorgung oder Wohnstandards. Im Sinne von "demokratiefördernden Nichtregierungsorganisationen" war in Libyen Zivilgesellschaft nicht einmal in Ansätzen vorhanden.

Auch den Syrern sind formelle Nichtregierungsorganisationen, die sich Menschenrechten und Demokratie verschrieben haben, verboten. Ihr ungebrochener Wille zu Freiheit und Demokratie war bei westlichen Demokratietheoretikern nicht vorgesehen.

Die vielfältigsten Zivilgesellschaften haben im arabischen Raum indes zwei Länder, von denen man im arabischen Frühling fast nichts gehört hat: Libanon und Palästina.

Dieser Befund ist insofern interessant, als er zwar der heutigen sozialwissenschaftlichen Theorie widerspricht, nicht aber dem Erfinder der Zivilgesellschaft. Der italienische Kommunist Antonio Gramsci entwickelte den Begriff, als er versuchte zu erklären, warum die kommunistische Revolution in Russland geglückt, im westlichen Europa aber gescheitert war. Er befand: "Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallerthaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein ausgewogenes Verhältnis, und beim Wanken des Staates entdeckte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand..."

Zivilgesellschaft war nach Gramsci also Bewahrerin des Status Quo. Allerdings sah er sie nicht auf diese Rolle festgelegt, sondern entwickelte aus der Beobachtung seine Theorie der kulturellen Hegemonie, wonach es zunächst galt, die Zivilgesellschaft für eine revolutionäre Idee zu gewinnen.

Hätte man Gramsci gefragt, wo er eine erfolgreiche Revolution erwartet hätte, in Ägypten oder in Libyen, hätte er wohl auf Libyen getippt.

Allerdings ist die von Gramsci vorgenommene Klassifizierung des Regimewechsels im zaristischen Russland als Revolution fragwürdig. Eine von einer breiten gesellschaftlichen Basis oder in der Lesart des historischen Materialismus von einer Klasse getragene Revolution war sie nicht. Dass die Machtübernahme einer Clique keiner Zivilgesellschaft bedarf und ohne sie sogar besser auskommt, erstaunt wenig.

In den arabischen Ländern waren es aber große Teile der Gesellschaft, die gegen die Regime aufgestanden sind. Wie sie sich organisiert haben, lässt sich erklären, wenn man eine breite und neutrale Definition von Zivilgesellschaft zugrunde legt.


Demokratie braucht einen Ort

Definiert man nämlich Zivilgesellschaft wie gemeinhin für westliche Gesellschaften als die Sphäre jenseits von Staat, Markt und Familie, dann gab es in den von Revolten erfassten Ländern vielfältige Formen der Zivilgesellschaft. Es lässt sich auch eine deutliche Zunahme in den vergangenen Jahren feststellen. Noch hilfreicher scheint ein Rückgriff auf den Begriff der Polis, der nicht nur den griechischen Stadtstaat meint, sondern nach Aristoteles auch als "bürgerliche Gesellschaft" übersetzt wird. Die freie Polis bedarf der Agora, des Versammlungsplatzes. Ohne Orte der Versammlung istbürgerliche oder zivile Gesellschaft, ist auch Demokratie nicht denkbar. Das muss kein Gemeindezentrum sein. Ein Kaffeehaus genügt. Kaffeehäuser und Salons waren die Kristallisationspunkte der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Ohne sie hätte es keine Französische Revolution gegeben.

Obwohl einst in Kairo und Damaskus entstanden, waren Kaffeehäuser vor 15 Jahren in diesen Ländern weit seltener als in Europa. Es gab Straßencafés, in denen alte Männer still an ihrer Wasserpfeife sogen und Backgammon spielten. In der Millionenstadt Kairo gab es mit dem Café Hurriya (Freiheit) nur einen einzigen stadtbekannten öffentlichen Ort, in dem sich Intellektuelle trafen, Kommunisten und Liberale, um zu diskutieren. Andere Treffpunkte kannten nur Eingeweihte, etwa die Restaurant-Terrasse auf dem Dach des Orion-Hotels. Im heutigen Kairo eröffnet Café an Café, überall stehen Stühle an der Straße. Wenn die Nacht hereinbricht, entsteht hier ein riesiger Debattierclub junger Menschen.

Der Wandel begann vor zehn Jahren. Nicht nur in Kairo, auch in Damaskus begannen junge Leute aus der Mittelschicht, auch Frauen, sich bei Kaffee und Croissant auszutauschen. In Tripolis und Bengasi boten schicke Cafés zumindest der männlichen jungen Elite eine Oase von der tristen "Volksmassenrepublik". Inspiriert war dieser Wandel von heimkehrenden Migranten, in Libyen zudem von Jungunternehmern, die zwischen Malta und Tripolis ihre Geschäfte machten.

Damit war die Vorrausetzung geschaffen, dass Öffentlichkeit jenseits der Moscheen entstehen konnte. Zuvor konnte man sich allein in den Moscheen treffen und dabei einigermaßen unbeobachtet wähnen - nicht der unwichtigste Grund für das Erstarken der islamistischen Bewegungen in den 80er Jahren.

Erkennt man, statt der Nichtregierungsorganisationen, den Versammlungsort als Vorraussetzung für Demokratisierung, erklärt sich, warum der Aufstand gerade in Tunesien begann. Im arabischen Vergleich gewährte Ben Alis Regime zwar besonders wenige politische, zugleich aber besonders viele bürgerliche Freiheiten. Junge Menschen wurden in ihrem Drang nach Spaß und Unterhaltung kaum gegängelt, Männer und Frauen konnten einander auf den Straßen, in Cafés und Clubs begegnen. Gerade die relative sexuelle Freizügigkeit mag die Entstehung dieser Keimzellen bürgerlicher Gesellschaft erleichtert haben. Wo sich eine Gruppe junger Frauen und Männer angeregt unterhält, vermutet man eher eine flirtende Gesellschaft denn eine politisch debattierende.

In allen drei Ländern der (vorerst) geglückten Revolutionen besetzten die Protestierenden zuallererst einen öffentlichen Versammlungsplatz: in Tunis den Platz der Kasbah, in Kairo den Tahrir-Platz, in Bengasi den Platz vor dem Gerichtsgebäude, der in Tahrir-Platz umbenannt wurde.

In Ländern mit Millionen von Einwohnern brauchte es gleichwohl mehr als die Agora der griechischen Polis, um die Massen zu mobilisieren, die Meinungsbildung nicht nur voran treiben, sondern auch in die Öffentlichkeit vermitteln. Die vorhandene Caféhaus-Zivilgesellschaft war nicht organisiert, die Nichtregierungsorganisationen waren zu schwach. Den Dienst leistete hier eine virtuelle Zivilgesellschaft.

Schon der Fernsehsender Al Jazeera hatte Ende der 90er Jahre mit seinen Talkshows und politischen Programmen einen Raum eröffnet, der Meinung für große Teile der Gesellschaft erfahrbar machte. Blogger, Facebook und Twitter schufen später einen virtuellen Ort, an dem politische Kommunikation zielgerichtet möglich war und eine breite Vernetzung entstehen konnte.


Hannah Wettig (* 1971) Sozialwissenschaftlerin, berichtete für diverse deutsche Zeitungen aus der arabischen Region und arbeitete u.a. als Redakteurin für den libanesischen Daily Star. Mit Heidemarie Wieczorek-Zeul hat sie soeben das Buch Wege zur Einen Welt - Etappen sozialdemokratischer Entwicklungspolitik bei vorwärts buch veröffentlicht.
hannahwettig@yahoo.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 35-38
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2012