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COURAGE/002: Sieg über "Moabiter Landrecht" (Genfilz stoppen!)


Genfilz stoppen!
Pressemitteilung vom 10. November 2012

Sieg über "Moabiter Landrecht"

Erfolgreiche Berufung gegen Verurteilung in Abwesenheit



Am letzten Freitag, 09.11.2012 wurde vor dem Berliner Landgericht ein ungewöhnlicher Fall verhandelt. Das Gericht sah sich mit der Frage konfrontiert, ob eine Verurteilung in Abwesenheit gegen eine Gentechnikkritikerin durch das Amtsgericht Tiergarten rechtens war. Es gab nach sechsstündiger Verhandlung der Berufung statt.

Es fing im September 2009 mit einer Protestaktion gegen Gentechnik an. Franziska, die beobachtete wie andere mit einem Transparent demonstrierten, wurde des Hausfriedensbruchs beschuldigt. Verfahren gegen weitere Aktivist_innen wurden eingestellt. Am 02. Februar diesen Jahres sollte in dieser Sache vor dem Amtsgericht in Moabit der 3. Verhandlungstag stattfinden. Die Angeklagte erreichte den Verhandlungssaal 17 Minuten zu spät. Grund waren die lange Warteschlange und rigide Einlasskontrollen im Gericht. Daraufhin hatte Amtsrichterin Greiff 15 Minuten nach dem angesetzten Prozessbeginn Franziskas Einspruch gegen den Strafbefehl verworfen und diese somit in Abwesenheit verurteilt, obwohl sie wusste, dass sich die Angeklagte bereits im Haus befand. Tatsächlich erschien diese zwei Minuten später im Gerichtssaal. Eine sofortige Wiederaufnahme des Verfahrens lehnte die Amtsrichterin ab.

Franziska legte Berufung gegen das Verwerfungsurteil ein. Das Landgericht Berlin entschied gestern darüber. Während der knapp sechsstündigen Verhandlung wurden elf Zeug_innen gehört. Unter anderem saß Amtsrichterin Greiff persönlich im Zeug_innenstand und überraschte die Verteidigung, indem sie offen einräumte, mehrere Zuschauer_innen hätten laut darauf hingewiesen, dass die Angeklagte bereits im Haus sei und jeden Augenblick auftauchen müsse. Allerdings, so Frau Greiff, hätte sie keinen Anlass gesehen zu warten, da sie aufgrund einer früheren Unpünktlichkeit der Angeklagten sicher gewesen sei, dass die Angeklagte garnicht pünktlich kommen wollte und es ihr vor allem an Provokation gelegen gewesen sei.

Der Beamte, der Franziska am 02. Februar kontrolliert hatte, sagte aus, dass sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie es eilig hätte. Er würde sich an den Fall erinnern, da an der Kontrollstelle ein Zettel hing, dass den Saalwachtmeister_innen mitgeteilt werde, wie viele Personen die Verhandlung in Saal 862 besuchen wollen. Ein derartiger Augenmerk auf Prozesse sei selten. Ein Zuschauer dazu: "Das war schon ganz schön aufschlussreich. Es gibt also politische Verhandlungen, die als irgendwie gefährlicher eingestuft werden und bei denen die Wachtmeister für die Eingangskontrollen dann besondere Anweisungen haben."

Die Vernehmung von Personen, die die Ereignisse im Februar als Prozessbeobacher_innen miterlebt hatten, machte deutlich, dass eine 25-minütige Kontrolldauer im Vorfeld nicht zu erwarten gewesen war. Mehrere Zeug_innen bestätigten, dass der Amtsrichterin gesagt worden war, dass sich die Angeklagte bereits im Gebäude befinde und jeden Moment auftauchen müsse. Ebenso erschloss sich, dass der Angeklagten an der Führung des Prozesses gelegen war. Zudem konnte eine Zeugin klar angeben, dass Franziska am 02. Februar im wesentlichen nur Verteidigungsmaterialien dabei hatte und nicht wie am vorhergehenden Prozesstermin ihren Reiserucksack.

Die Verteidigerin plädierte mit Verweis die gängige Rechtsprechung für eine Aufhebung des Verwerfungsurteils. Sie trug vor, die Möglichkeit zur Verwerfung des Strafbefehls sei eine auf sehr wenige Fälle anzuwendende Ausnahmegesetzgebung. Bei den 15 Minuten handle es sich nicht um eine starre Grenze, sondern um einen Richtwert. Zudem sei das Gericht über Verspätung und baldige Ankunft der Beschwerdeführerin informiert worden. Die Angeklagte hätte sich vor 9 Uhr angestellt, führte im wesentlichen nur übliche Verteidigungsunterlagen mit und konnte somit nicht erwarten derart lange kontrolliert zu werden.

Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft argumentierte hingegen, der Berufungsführerin sei es ausschließlich an Provokation und Verschleppung gelegen. Allein die hohe Anzahl an Pausen an diesem Verhandlungstag zeige deutlich deren Verzögerungsabsicht. Die Angeklagte hätte sich bewusst zu knapp angestellt, obwohl sie längst am Gericht war. Aber diesmal sei sie wirklich zu weit gegangen. Außerdem hätte sie wissen müssen, dass maximal 15 Minuten gewartet würde. Wörtlich sagte sie: "Das ist Moabiter Landrecht. Das weiß doch jeder!" In ihrem "letzten Wort" fasste die Berufungsführerin zusammen, weshalb sie die Verzögerung nicht vorhersehen konnte. In diesem Zusammenhang berief sie sich auf die Rechtsprechung des OLG Thüringen, derzufolge überzogene Anforderungen an die Sorgfaltspflichten von Angeklagten zur Vermeidung von Verspätungen dem Grundrecht auf ein faires Verfahren und dem Gebot des effektiven Rechtschutz widersprechen. Dem Gericht sei - wie Zuschauer_innen, Amtsanwalt und Amtsrichterin Greiff übereinstimmend ausgesagt hatten - bekannt gewesen, dass sie im Gebäude und auf dem Weg zum Saal war. In solchen Fällen seien nach gängiger Rechtsprechung Wartezeiten über eine Stunde angemessen. Auch das Berliner Verfassungsgericht sähe vor, das Gericht der Beschuldigten eine erheblich über 15 Minuten hinausgehende Wartezeit einräumen müsse, wenn die zu erwartende Verspätung angezeigt werde. Eine solche verlängerte Wartezeit sei ohnehin geboten, wenn es sich um den "ersten Zugang zum Gericht" handele. Im vorliegenden Fall hätte es trotz mehrerer Verhandlungstage noch keine Beweisaufnahme gegeben und damit auch keine Möglichkeit zur Verteidigung. Somit würde eine Verwerfung der Berufung gegen ihr Grundrecht auf rechtliches Gehör verstoßen, argumentierte Franziska.

Das Landgericht Berlin gab Franziskas Berufung statt und hob das Verwerfungsurteil auf. Konkret bedeutet das, dass das Verfahren um den Vorwurf des Hausfriedensbruchs vor dem Amtsgericht neu beginnt.

"Natürlich bin ich froh, nun doch nicht ohne Beweisaufnahme verurteilt worden zu sein. An eine gerechte Justiz glaube ich deshalb noch lange nicht.", so Franziska, "Was wäre denn gewesen, wenn Frau Greiff vorgeben hätte, nicht gehört zu haben, dass ich schon im Haus sei? Und was wäre gewesen, wenn es im Februar keine Zeug_innen gegeben hätte, die z.B. bestätigen konnten, dass ich außer prozessualen Unterlagen kaum etwas dabei hatte? Was wäre gewesen, wenn das Gericht gestern der Auffassung der Staatsanwaltschaft gefolgt wäre?"

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Pressemitteilung vom 10. November 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2012