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AUFRUF/014: Aufruf Palästinensischer Christen und Christinnen zur Beendigung der Besetzung (ÖRK)


Ökumenischer Rat der Kirchen - Nachrichten vom 10.12.2009

Aufruf Palästinensischer Christen und Christinnen zur Beendigung der Besetzung


Eine Gruppe palästinensischer Christen und Christinnen aus mehreren Kirchen und kirchlichen Organisationen veröffentlicht einen leidenschaftlichen und vom Gebet erfüllten Aufruf zur Beendigung der Besetzung Palästinas durch Israel.

Der Aufruf wird im Rahmen einer Tagung am 11. Dezember in Bethlehem veröffentlicht zu einer Zeit, in der viele Palästinenser glauben, dass sie sich in einer Sackgasse befinden. Das Dokument fragt die internationale Gemeinschaft, die politischen Verantwortlichen in der Region und die Kirchen in aller Welt nach ihrem Beitrag zur Unterstützung der Freiheitsbestrebungen des palästinensischen Volkes. Der Aufruf will selbst inmitten "unserer Katastrophe" als ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe verstanden werden.

Der Appell wird in Anlehnung an einen ähnlichen Aufruf, den südafrikanische Kirchen 1985 auf dem Höhepunkt der Unterdrückung unter dem Apartheidregime erlassen haben, "Kairos Palästina-Dokument" genannt. Der damalige Aufruf hatte Kirchen und Weltöffentlichkeit aufgerüttelt und zu konzertierten Aktionen veranlasst, die die Apartheid letztlich beendet haben.

Die Verfasser und Verfasserinnen des Kairos Palästina-Dokuments, darunter der emeritierte Patriarch Michel Sabbah vom Lateinischen Patriarchat in Jerusalem, der lutherische Bischof von Jerusalem Munib Younan sowie Erzbischof Theodosios Atallah Hanna von Sebastia, Griechisch-Orthodoxes Patriarchat von Jerusalem, haben religiöse und politische Verantwortliche in Palästina und Israel, die internationale Gemeinschaft sowie "unsere christlichen Brüder und Schwestern in den Kirchen in aller Welt" an die Dringlichkeit von Frieden und Gerechtigkeit erinnert. Sie sind der Meinung, dass die laufenden Bemühungen im Nahen Osten in Krisenmanagement bestehen, anstatt angemessene und langfristige Lösungen für die Krise anzustreben.


Anprangern leerer Versprechungen

Die Unterzeichnenden des Aufrufs bringen ihren Schmerz zum Ausdruck und beklagen die leeren Versprechungen und Ankündigen von Frieden in der Region. Sie erinnern die Weltgemeinschaft an die Trennmauer, die auf palästinensischem Gebiet errichtet worden ist, an die Blockade von Gaza, daran, dass israelische Siedlungen ihr Land verwüsten, an die Erniedrigung an den Militärposten, die Einschränkung der Religionsfreiheit und den kontrollierten Zugang zu den heiligen Stätten, an das Los der Flüchtlinge, die darauf warten, in ihre Heimat zurückkehren zu können, an die Gefangenen in israelischen Gefängnissen, an Israels eklatante Missachtung des Völkerrechts wie auch an die Lähmung der internationalen Gemeinschaft angesichts dieser Tragödie.

Sie weisen Israels Rechtfertigung, seine Aktionen dienten der Selbstverteidigung, zurück und erklären unmissverständlich: "Wenn es keine Besetzung gäbe, gäbe es auch keinen Widerstand, keine Angst und keine Unsicherheit."

Ihr Argument lautet: "Gott hat uns nicht für Streit und Kampf geschaffen, sondern dafür, dass wir gemeinsam das Land in Liebe und gegenseitigem Respekt aufbauen. (...) Wir glauben, dass unser Land einen universellen Auftrag hat, (...) und die Verheißung des Landes (war) zu keiner Zeit ein politisches Programm, sondern vielmehr der Auftakt zur vollständigen universellen Erlösung. (...) Unsere Verbundenheit mit diesem Land ist keine bloße ideologische oder theologische Frage, sondern ein natürliches Recht." Sie weisen jeden Bezug auf die Bibel zur Legitimierung oder Untermauerung politischer Optionen und Positionen, die auf Unrecht basieren, zurück.

Die Gruppe erklärt die Besetzung Palästinas als Sünde gegen Gott und die Menschen und hält unbeirrbar an den Zeichen der Hoffnung fest wie z.B. "lokale theologische Zentren" und "zahlreiche Zusammenkünfte zum interreligiösen Dialog". Diese Hoffnungszeichen unterstützen den Widerstand gegen die Besetzung. In der Logik des friedlichen Widerstands ist Widerstand ein Recht und eine Pflicht, denn er hat das Potenzial, die Versöhnung zu beschleunigen.

Die Unterzeichnenden erklären, dies sei die Zeit der Buße für Verhalten in der Vergangenheit - Hass als Instrument des Widerstandes oder Bereitschaft zur Gleichgültigkeit oder zur Übernahme falscher theologischer Positionen - und sie rufen die internationale Gemeinschaft und die Palästinenser auf, in dieser Zeit der Prüfung standhaft zu bleiben. "Kommt und seht (...), damit wir euch die Wahrheit über unsere Wirklichkeit erzählen."

Sie enden mit einem bewegenden Schlusswort: "Obwohl es keine Hoffnung gibt, schreien wir unsere Hoffnung heraus. Wir glauben an Gott, an den gütigen und gerechten Gott. Wir glauben, dass am Ende Seine Güte den Sieg über das Böse des Hasses und des Todes davontragen wird, die noch immer in unserem Land herrschen. Wir werden hier 'ein neues Land' und 'einen neuen Menschen' entdecken, der imstande ist, sich im Geiste der Liebe zu allen seinen Brüdern und Schwestern zu erheben."


Die Verfasser und Verfasserinnen des Aufrufs:

Patriarch Michel Sabbah
Bischof Dr. Munib Younan
Erzbischof Theodosios Atallah Hanna
Pfarrer Dr. Jamal Khader
Pfarrer Dr. Rafiq Khoury
Pfarrer Dr. Mitri Raheb
Pfarrer Dr. Naim Ateek
Pfarrer Dr. Yohana Katanacho
Fr. Fadi Diab
Dr. Jiries Khoury
Frau Sider Daibes
Frau Nora Kort
Frau Lucy Thaljieh
Herr Nidal Abu Zulof
Herr Yusef Daher
Herr Rifat Kassis - Koordinator der Initiative

Vollständiger Wortlaut des Kairos Palästina-Dokuments siehe folgenden Text und:
http://www.oikoumene.org/fileadmin/files/wcc-main/2009pdfs/Kairos%20Palestine_Ger.pdf

Kirchen im Nahen Osten: Solidarität und Zeugnis für den Frieden:
http://www.oikoumene.org/?id=3113&L=2

Der Ökumenische Rat der Kirchen fördert die Einheit der Christen im Glauben, Zeugnis und Dienst für eine gerechte und friedliche Welt. 1948 als ökumenische Gemeinschaft von Kirchen gegründet, gehören dem ÖRK heute mehr als 349 protestantische, orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen an, die zusammen über 560 Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Der Generalsekretär des ÖRK ist Pfr. Dr. Samuel Kobia, von der Methodistischen Kirche in Kenia. Hauptsitz: Genf, Schweiz.


*


Die Stunde der Wahrheit:
Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen


Einführung

Nach Gebet, Nachdenken und Meinungsaustausch erheben wir, eine Gruppe christlicher Palästinenser und Palästinenserinnen, mitten aus dem Leiden unseres von Israel besetzten Landes heraus unsere Stimme zu einem Schrei der Hoffnung, wo keine Hoffnung ist, zu einem Schrei, der erfüllt ist vom Gebet und von dem Glauben an Gott, der in Seiner göttlichen Güte über alle Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes wacht. Uns beseelt das Geheimnis der Liebe Gottes zu allen Menschen, das Geheimnis Seiner göttlichen Gegenwart in der Geschichte aller Völker und in besonderer Weise in der Geschichte unseres Landes. Als Christen und Palästinenser verkünden wir unser Wort - ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.

Warum jetzt? Weil das tragische Schicksal des palästinensischen Volkes heute ausweglos geworden ist. Die Entscheidungsträger begnügen sich mit Krisenmanagement, anstatt sich der schwierigen Aufgabe zu unterziehen, nach einer Lösung für die Krise zu suchen. Die Herzen der Gläubigen sind erfüllt von Schmerz und von Fragen: Was tut die internationale Gemeinschaft? Was tun die politischen Verantwortlichen in Palästina, in Israel und in der arabischen Welt? Was tut die Kirche? Hier geht es nicht allein um ein politisches Problem. Es geht um eine Politik, die Menschen vernichtet, und das geht die Kirche an.

Wir wenden uns an unsere Brüder und Schwestern, an die Glieder unserer Kirchen in diesem Land. Als Christen und Palästinenser wenden wir uns an unsere politische und religiöse Führung, an unsere palästinensische und an die israelische Gesellschaft, an die Weltgemeinschaft und an unsere christlichen Brüder und Schwestern in den Kirchen in aller Welt.


1. Die Realität

1-1 "Sie sagen: 'Friede! Friede!' und ist doch nicht Friede" (Jer 6, 14). In diesen Tagen reden alle vom Frieden im Nahen Osten und vom Friedensprozess. Bisher sind das jedoch nur Worte; Realität ist die israelische Besetzung palästinensischer Gebiete, der Verlust unserer Freiheit. Ursächlich dafür ist die folgende Situation:

1-1-1 Die Trennmauer, die auf palästinensischem Gebiet errichtet worden ist, das zu einem großen Teil zu diesem Zweck beschlagnahmt wurde, hat unsere Städte und Dörfer in Gefängnisse verwandelt und voneinander getrennt und sie zu verstreuten und geteilten Bezirken gemacht. Der Gazastreifen lebt, vor allem nach dem grausamen Krieg, den Israel im Dezember 2008 bis Januar 2009 gegen dieses Gebiet geführt hat, auch weiterhin unter unmenschlichen Bedingungen, unter einer ständigen Blockade und abgeschnitten von den übrigen palästinensischen Gebieten.

1-1-2 Im Namen Gottes und im Namen von Macht stehlen israelische Siedlungen unser Land; sie kontrollieren unsere natürlichen Ressourcen, auch das Wasser und das Ackerland, und damit berauben sie Hunderttausende von Palästinensern und Palästinenserinnen ihrer Rechte und stehen einer politischen Lösung im Wege.

1-1-3 Realität ist die tägliche Demütigung, der wir auf dem Weg zu unseren Arbeitsplätzen, zu Schulen und Krankenhäusern an den Militärkontrollposten ausgesetzt sind.

1-1-4 Realität ist die Trennung von Familien; sie macht das Familienleben für Tausende von Palästinensern unmöglich, vor allem dann, wenn einer der Ehegatten keinen israelischen Personalausweis besitzt.

1-1-5 Die Religionsfreiheit wird erheblich eingeschränkt; der freie Zugang zu den heiligen Stätten wird unter dem Vorwand von Sicherheit verwehrt. Jerusalem und seine heiligen Stätten sind für viele Christen und Muslime aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen unerreichbar. Selbst Bewohner Jerusalems sind während der religiösen Feste Einschränkungen ausgesetzt. Und einige der arabischen Geistlichen werden häufig daran gehindert, Jerusalem zu betreten.

1-1-6 Auch die Flüchtlinge gehören zu unserer Realität. Die meisten von ihnen leben immer noch unter unmenschlichen Bedingungen in Lagern. Und obwohl sie das Recht auf Heimkehr haben, warten sie seit Generationen auf ihre Rückkehr. Was soll aus ihnen werden?

1-1-7 Und die Gefangenen? Tausende von Gefangenen, die in israelischen Gefängnissen dahinsiechen, sind Teil unserer Realität. Die Israelis bewegen Himmel und Erde, um einen Gefangenen zu befreien. Doch wann werden die Tausende von palästinensischen Gefangenen ihre Freiheit wiedererlangen?

1-1-8 Jerusalem ist das Herzstück unserer Realität. Es ist Symbol des Friedens und Zeichen des Konflikts zugleich. Während die Trennmauer palästinensische Wohngebiete teilt, werden palästinensische Bürger, Christen und Muslime, weiterhin aus Jerusalem hinausgedrängt. Ihre Personalausweise werden beschlagnahmt und dadurch verlieren sie ihr Bleiberecht in Jerusalem. Ihre Häuser werden zerstört oder enteignet. Jerusalem, die Stadt der Versöhnung, ist zu einer Stadt der Diskriminierung und Ausgrenzung, zu einer Quelle des Streites anstatt des Friedens geworden.

1-2 Teil unserer Realität ist die Missachtung des Völkerrechts und der internationalen Resolutionen durch die Israelis sowie die Untätigkeit der arabischen Welt und der Weltgemeinschaft angesichts dieser Missachtung. Es werden Menschenrechte verletzt, aber trotz der vielfältigen Berichte örtlicher und internationaler Menschenrechtsorganisationen besteht das Unrecht fort.

1-2-1 Auch den Palästinensern im Staat Israel, die zwar Bürgerinnen und Bürger sind und als solche Rechte und Pflichten haben, ist historisches Unrecht angetan worden und sie leiden heute immer noch unter einer diskriminierenden Politik. Auch sie warten darauf, in den Genuss ihrer uneingeschränkten Rechte zu kommen und den anderen Bürgern des Staates gleichgestellt zu werden.

1-3 Ein weiteres Element unserer Realität ist die Emigration. Das Fehlen einer Vision oder eines Funkens der Hoffnung auf Frieden und Freiheit drängt junge Menschen, Muslime wie Christen, zur Auswanderung. So wird das Land seiner wichtigsten und kostbarsten Ressource beraubt - seiner ausgebildeten jungen Menschen. Die schrumpfende Zahl der Christen, vor allem in Palästina, gehört zu den gefährlichen Folgen dieses Konflikts. Sie ist auch Folge der lokalen wie internationalen Lähmung und Unfähigkeit, zu einer umfassenden Lösung des Problems zu gelangen.

1-4 Dieser Realität gegenüber rechtfertigt Israel seine Aktionen, einschließlich der Besetzung, der kollektiven Bestrafung und aller anderen Formen von Repressalien gegen die Palästinenser, als Selbstverteidigung. Unserer Auffassung nach stellt diese Vorstellung die Realität auf den Kopf. Ja, es gibt palästinensischen Widerstand gegen die Besetzung. Wenn es jedoch keine Besetzung gäbe, gäbe es auch keinen Widerstand, keine Angst und keine Unsicherheit. Das ist unsere Sicht der Dinge. Wir appellieren an die Israelis, die Besetzung zu beenden. Sie werden dann eine neue Welt ohne Angst und Bedrohung entdecken, in der Sicherheit, Gerechtigkeit und Frieden herrschen.

1-5 Die Reaktionen der Palästinenser auf diese Realität waren unterschiedlich. Manche reagierten mit Verhandlungen: das war die offizielle Haltung der Palästinensischen Autoritätsbehörde; doch sie vermochte es nicht, den Friedensprozess voranzutreiben. Manche Parteien begaben sich auf den Weg des bewaffneten Widerstandes. Israel benutzte dies als Vorwand, die Palästinenser des Terrorismus zu bezichtigen, und konnte damit das wahre Wesen des Konfliktes verfälschen, ihn als einen israelischen Krieg gegen den Terrorismus darstellen und nicht als israelische Besetzung, die auf legitimen palästinensischen Widerstand zu ihrer Beendigung stößt.

1-5-1 Der interne Konflikt unter den Palästinensern und die Abtrennung des Gazastreifens von dem übrigen palästinensischen Gebiet verschlimmerten die verhängnisvolle Situation. Dabei ist zu bedenken, dass die Palästinenser zwar untereinander gespalten sind, ein großer Teil der Verantwortung aber der internationalen Gemeinschaft anzulasten ist, denn sie weigerte sich, konstruktiv auf den Willen des palästinensischen Volkes einzugehen, der in dem Ergebnis der demokratischen und gesetzmäßigen Wahlen im Jahre 2006 zum Ausdruck gekommen ist.

Wir wiederholen und bekräftigen erneut, dass unser christliches Wort in dieser Situation ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe inmitten unserer Katastrophe ist.


2. Ein Wort des Glaubens
Wir glauben an Gott, an einen gütigen und gerechten Gott

2-1 Wir glauben an den einen Gott, den Schöpfer des Universums und der Menschheit. Wir glauben an einen gütigen und gerechten Gott, der jedes seiner Geschöpfe liebt. Wir glauben, dass jeder Mensch von Gott nach Seinem Bilde und Ihm gleich geschaffen worden ist und dass jedes Wesen seine Würde der Würde des Allmächtigen verdankt. Wir glauben, dass diese Würde unteilbar und in jeder und jedem von uns gleich ist. Das heißt für uns hier und heute und vor allem in diesem Land, dass Gott uns nicht für Kampf und Streit geschaffen hat, sondern dafür, dass wir zueinander kommen, einander kennenlernen und lieben können und gemeinsam das Land in Liebe und gegenseitigem Respekt aufbauen.

2-1-1 Wir glauben an Gottes ewiges Wort, an Seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, den er der Welt als Heiland gesandt hat.

2-1-2 Wir glauben an den Heiligen Geist, der die Kirche und die ganze Menschheit auf ihrem Weg begleitet. Der Geist hilft uns, die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments zu verstehen und uns hier und jetzt vor Augen zu führen, dass beide zusammengehören. Der Geist tut uns die Offenbarung Gottes für die Menschheit in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft kund.


Wie verstehen wir das Wort Gottes?

2-2 Wir glauben, dass Gott zu den Menschen hier in unserem Land gesprochen hat:

"Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat" (Heb 1, 1-2).

2-2-1 Wir christlichen Palästinenserinnen und Palästinenser glauben wie alle Christen in der ganzen Welt, dass Jesus Christus in die Welt gekommen ist, um das Gesetz und die Weissagung der Propheten zu erfüllen. Er ist das A und das O, Anfang und Ende: in seinem Licht und unter der Führung des Heiligen Geistes lesen wir die Heiligen Schriften, denken über sie nach und legen sie aus, wie Jesus Christus sie für die beiden Jünger auf ihrem Weg nach Emmaus ausgelegt hat. Im Evangelium nach Lukas steht geschrieben: "Und er fing an bei Moses und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war" (Lk 24, 27).

2-2-2 Unser Herr Jesus Christus kam in die Welt und verkündigte, dass das Himmelreich nahe herbeigekommen sei. Er löste im Leben und im Glauben der ganzen Menschheit eine Revolution aus. Er brachte "eine neue Lehre" mit (Mk 1, 27), die ein neues Licht auf das Alte Testament, auf die Themen warf, die sich auf unseren christlichen Glauben und unser tägliches Leben beziehen, auf Themen wie die Verheißungen, die Erwählung, das Volk Gottes und das Land. Wir glauben, dass das Wort Gottes ein lebendiges Wort ist, das jede Epoche der Geschichte in einem neuen Licht erscheinen lässt, und das den christlichen Gläubigen offenbart, was Gott uns hier und heute sagt, und nicht nur, was Gott in der fernen Vergangenheit gesagt haben mag. Deshalb darf das Wort Gottes nicht in steinerne Buchstaben verwandelt werden, die die Liebe Gottes und Seine Fürsorge im Leben der Völker und jedes einzelnen Menschen entstellen. Diesem Irrtum erliegt die fundamentalistische Bibelauslegung, die uns Tod und Zerstörung bringt, wenn das Wort Gottes versteinert und von einer Generation auf die andere als toter Buchstabe tradiert wird. Dieser tote Buchstabe wird in unserer derzeitigen Geschichte als Waffe benutzt, um uns unserer Rechte und unseres Landes zu berauben.


Unser Land hat einen universellen Auftrag

2-3 Wir glauben, dass unser Land einen universellen Auftrag hat. In dieser Universalität erweitert sich die Bedeutung der Verheißungen, des Landes, der Erwählung und des Volkes Gottes und schließt die ganze Menschheit ein - angefangen bei allen Völkern, die in diesem Land wohnen. Im Lichte der Lehren der Heiligen Schrift war die Verheißung des Landes zu keiner Zeit ein politisches Programm, sondern vielmehr der Auftakt zur vollständigen universellen Erlösung. Sie war der Beginn der Vollendung des Reiches Gottes auf Erden.

2-3-1 Gott sandte die Patriarchen, die Propheten und die Apostel mit einem universellen Auftrag für die Welt in dieses Land. Heute haben wir in diesem Land drei Religionen - Judentum, Christentum und Islam. Unser Land ist wie alle Länder auf der Welt Gottes Land. Es ist heilig, weil Gott darin gegenwärtig ist, denn Gott allein ist heilig und Gott allein heiligt. Wir, die wir hier leben, haben die Pflicht, Gottes Willen für dieses Land zu befolgen. Wir haben die Pflicht, es von dem Übel des Krieges zu befreien. Es ist Gottes Land, und deshalb muss es ein Land der Versöhnung, des Friedens und der Liebe sein. Und das ist auch möglich. Gott hat uns als zwei Völker hierher gestellt, und Gott gibt uns, wenn wir es nur aufrichtig wollen, auch die Kraft, zusammenzuleben und Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen, das Land wahrhaft in Gottes Land zu verwandeln: "Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen" (Ps 24, 1).

2-3-2 Unsere Präsenz in diesem Land als christliche und muslimische Palästinenser und Palästinenserinnen ist kein Zufall, sondern ist tief in der Geschichte und Geographie dieses Landes verwurzelt und verbindet uns mit diesem Land so, wie jedes Volk mit dem Land verbunden ist, in dem es lebt. Es war Unrecht, dass wir aus dem Land vertrieben worden sind. Der Westen versuchte, das Unrecht, das Juden in den Ländern Europas erlitten hatten, wiedergutzumachen, aber diese Wiedergutmachung ging auf unsere Kosten in unserem Land. Unrecht sollte korrigiert werden; das Ergebnis war neues Unrecht.

2-3-3 Wir wissen überdies, dass bestimmte Theologen im Westen versuchen, das uns zugefügte Unrecht biblisch und theologisch zu legitimieren. Auf diese Weise werden die Verheißungen Gottes an uns nach ihrer Auslegung zu einer Bedrohung für unsere nackte Existenz. Die "frohe Botschaft" des Evangeliums ist für uns zu "einem Vorboten des Todes" geworden. Wir appellieren an diese Theologen, noch gründlicher über das Wort Gottes nachzudenken und ihre Auslegung zu korrigieren, damit sie im Wort Gottes eine Quelle des Lebens für alle Völker erkennen können.

2-3-4 Unsere Verbundenheit mit diesem Land ist keine bloße ideologische oder theologische Frage, sondern ein natürliches Recht. Sie ist eine Sache von Leben und Tod. Möglicherweise sind manche Menschen mit uns nicht einverstanden und bezeichnen uns als Feinde, nur weil wir sagen, dass wir als freies Volk in unserem Land leben wollen. Da wir Palästinenser und Palästinenserinnen sind, leiden wir unter Besetzung, und da wir Christinnen und Christen sind, leiden wir an den falschen Auslegungen einiger Theologen. Angesichts dessen ist es unsere Aufgabe, das Wort Gottes als Quelle des Lebens und nicht des Todes zu verteidigen, damit "die frohe Botschaft" das bleibt, was sie ist, "frohe Botschaft" für uns und für alle. Im Angesicht derer, die die Bibel benutzen, um unsere Existenz als christliche und muslimische Palästinenser zu bedrohen, bekräftigen wir unseren Glauben an die Bibel, weil wir wissen, dass das Wort Gottes nicht die Quelle unserer Zerstörung sein kann.

2-4 Deshalb erklären wir, dass jede Benutzung der Bibel zur Legitimierung oder Unterstützung von politischen Optionen und Standpunkten, die auf Unrecht beruhen und die Menschen von Menschen und Völkern von anderen Völkern aufgezwungen werden, die Religion in eine menschliche Ideologie verwandeln und das Wort Gottes seiner Heiligkeit, seiner Universalität und seiner Wahrheit berauben.

2-5 Wir erklären ferner, dass die israelische Besetzung palästinensischen Landes Sünde gegen Gott und die Menschen ist, weil sie die Palästinenser ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt, die ihnen von Gott verliehen worden sind. Sie entstellt das Ebenbild Gottes in dem Israeli, der zum Besatzer geworden ist, und sie entstellt das Ebenbild Gottes in dem Palästinenser, der unter der Besetzung leben muss. Wir erklären, dass jede Theologie, die die Besetzung rechtfertigt und dabei vorgibt, sich auf die Bibel oder auf den Glauben oder die Geschichte zu stützen, von der christlichen Lehre entfernt ist, weil sie im Namen des Allmächtigen Gottes zu Gewalt und zum heiligen Krieg aufruft und Gott temporären menschlichen Interessen unterordnet; damit entstellt sie das Antlitz Gottes in den Menschen, die unter politischem und theologischem Unrecht leben müssen.

2-5-1 Wenn wir also unsere Stimme erheben und das Ende der Besetzung fordern, dann geht es uns nicht nur darum, die verletzte Menschlichkeit und die gedemütigte Menschenwürde der Palästinenser zu heilen, sondern auch darum, die Israelis von der Gewalt der Besetzung zu befreien, die sie den Palästinensern aufzwingen.


3. Hoffnung

3-1 Obwohl es keinen Schimmer einer positiven Entwicklung gibt, bleibt unsere Hoffnung stark. Die gegenwärtige Situation verspricht keine schnelle Lösung und kein Ende der uns aufgezwungenen Besetzung. Gewiss, die Initiativen, die Konferenzen, die Besuche und die Verhandlungen haben sich vervielfältigt, aber sie haben nicht zu einer Änderung unserer Situation und unseres Leidens geführt. Nicht einmal die von Präsident Obama angekündigte neue Haltung der USA mit dem deutlichen Wunsch nach Beendigung der verhängnisvollen Situation konnte an unserer Lage etwas ändern. Die klare israelische Antwort, die sich jeder Lösung verweigert, lässt keinen Raum für positive Erwartungen. Dennoch bleibt unsere Hoffnung stark, denn sie kommt von Gott. Gott allein ist gütig, allmächtig und voller Liebe, und Seine Güte wird eines Tages den Sieg über das Übel davontragen, dem wir jetzt ausgeliefert sind. Paulus sagt: "Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? (...) Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht, 'Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag;' (...) Denn ich bin gewiss, dass (nichts in der ganzen Schöpfung) uns scheiden kann von der Liebe Gottes" (Röm 8, 31; 35; 36; 39).


Was bedeutet Hoffnung?

3-2 Die Hoffnung, die in uns ist, bedeutet zuallererst und vor allem anderen unseren Glauben an Gott und zum zweiten unsere Erwartung einer besseren Zukunft, allem zum Trotz. Drittens bedeutet Hoffnung nicht, Illusionen nachzujagen - uns ist klar, dass die Befreiung nicht unmittelbar bevorsteht. Hoffnung ist die Fähigkeit, Gott inmitten von Trübsal zu erkennen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Heiligen Geistes zu sein, der in uns wohnt. Aus dieser Sichtweise gewinnen wir die Kraft, standhaft und fest zu bleiben und auf eine Veränderung unserer heutigen Wirklichkeit hinzuwirken. Hoffnung bedeutet nicht, dem Bösen nachzugeben, sondern vielmehr, uns dagegen aufzulehnen und am Widerstand dagegen festzuhalten. Wir sehen gegenwärtig und für die Zukunft nichts außer Niedergang und Vernichtung. Wir sehen, dass die starke und zunehmende Orientierung auf rassistische Trennung und auf die Auferlegung von Gesetzen, die uns unsere Existenz und unsere Würde streitig machen, die Oberhand gewonnen hat. Wir sehen in der palästinensischen Haltung Verwirrung und Spaltung. Wenn wir uns trotz alledem dieser Realität heute widersetzen und uns intensiv einsetzen, dann kommt die Vernichtung, die am Horizont droht, vielleicht doch nicht über uns.


Zeichen der Hoffnung

3-3 Die Kirche in unserem Land - ihre Führung und ihre Gläubigen - lässt trotz ihrer Schwächen und ihren Spaltungen gewisse Zeichen der Hoffnung erkennen. Unsere Ortsgemeinden sind lebendig, und ihre jungen Menschen sind aktive Apostel der Gerechtigkeit und des Friedens. Neben dem Engagement Einzelner tragen auch die verschiedenen kirchlichen Einrichtungen dazu bei, dass unser Glaube aktiv und präsent im Dienst, im Gebet und in der Liebe zum Ausdruck kommt.

3-3-1 Zu den Zeichen der Hoffnung gehören lokale theologische Zentren, die sich religiösen und sozialen Fragen widmen, und in unseren verschiedenen Kirchen gibt es zahlreiche davon. Wenn auch noch etwas zurückhaltend, zeigt sich bei den Tagungen unserer verschiedenen Kirchenfamilien immer stärker der ökumenische Geist.

3-3-2 Darüber hinaus sind noch die zahlreichen Zusammenkünfte zum interreligiösen Dialog zu nennen, des Dialogs zwischen Christen und Muslimen, an dem sich kirchenleitende Verantwortliche wie auch ein Teil des Volkes beteiligen. Ohne Zweifel ist der Dialog ein langwieriger Prozess; er wird aber vervollständigt durch die täglichen Anstrengungen, denn wir durchleben alle dasselbe Leid und hegen dieselben Erwartungen. Auch zwischen den drei Religionen - Judentum, Christentum und Islam - gibt es einen Dialog, und es finden verschiedene Dialogtagungen auf akademischer oder gesellschaftlicher Ebene statt. Sie alle bemühen sich darum, die Mauern niederzureißen, die uns durch die Besetzung auferlegt werden, und uns einer verzerrten Wahrnehmung von Menschen im Herzen ihrer Brüder und Schwestern zu widersetzen.

3-3-3 Zu den wichtigsten Zeichen der Hoffnung gehört die Beharrlichkeit der Generationen, ihr Glaube an die Gerechtigkeit ihrer Sache und die Aufrechterhaltung der Erinnerung, die die "Nakba" (Katastrophe) und ihre Bedeutung nicht in Vergessenheit geraten lässt. Ebenso wichtig sind das wachsende Bewusstsein in vielen Kirchen überall in der Welt und ihr Wunsch, die Wahrheit darüber zu erfahren, was hier geschieht.

3-3-4 Alledem, was wir genannt haben, ist hinzuzufügen, dass wir eine Entschlossenheit bei vielen Menschen wahrnehmen, den Hass der Vergangenheit zu überwinden und bereit zu sein für Versöhnung, sobald die Gerechtigkeit wiederhergestellt ist. Die Öffentlichkeit wird sich zunehmend bewusst, dass die politischen Rechte der Palästinenser wiederhergestellt werden müssen, und es gibt jüdische und israelische Stimmen, die diese Forderungen mit Zustimmung der internationalen Gemeinschaft unterstützen. Diesen Kräften, die sich für Gerechtigkeit und Versöhnung einsetzen, ist es allerdings noch nicht gelungen, die ungerechte Situation zu verändern, aber sie haben einen gewissen Einfluss und können möglicherweise die Leidenszeit abkürzen und die Zeit der Versöhnung eher anbrechen lassen.


Der Auftrag der Kirche

3-4 Unsere Kirche ist eine Kirche von Menschen, die beten und dienen. Ihr Gebet und ihr Dienst sind prophetisch; sie tragen die Stimme Gottes in die Gegenwart und in die Zukunft. Alles, was in unserem Land geschieht, alle die hier leben, alle Leiden und Hoffnungen, alles Unrecht und alle Bemühungen um ein Ende des Unrechts sind wichtige Anliegen der Gebete unserer Kirche und des Dienstes aller ihrer Einrichtungen. Gott sei Dank, dass unsere Kirche ihre Stimme gegen das Unrecht erhebt, obwohl manche Menschen es lieber sähen, wenn sie schwiege und sich allein ihren religiösen Übungen hingäbe.

3-4-1 Die Kirche hat einen prophetischen Auftrag, nämlich mutig, ehrlich und liebevoll das Wort Gottes in ihrem jeweiligen Umfeld und inmitten des Tagesgeschehens auszusprechen. Wenn sie Partei ergreift, dann ist ihr Platz an der Seite der Unterdrückten, wie Christus, unser Herr, an der Seite jedes armen Menschen und jedes Sünders stand und sie zur Buße, zum Leben und zur Wiederherstellung ihrer Würde aufrief, die ihnen von Gott verliehen worden war und die ihnen niemand nehmen darf.

3-4-2 Die Kirche hat den Auftrag, das Reich Gottes zu verkündigen, ein Reich der Gerechtigkeit, des Friedens und der Menschenwürde. Als lebendige Kirche sind wir berufen, Zeugnis von der Güte Gottes und von der Würde des Menschen abzulegen. Wir sind berufen, zu beten und unsere Stimme laut zu erheben, wenn wir eine neue Gesellschaft ankündigen, in der Menschen auf ihre eigene Würde und auf die Würde ihrer Widersacher vertrauen. Wir leben zwar unter einer Besatzungsmacht und fordern, dass unsere Widersacher dem Unrecht, das sie verursachen, ein Ende machen, gleichzeitig erkennen wir aber in ihnen Menschen, denen Gott ebenso wie uns Würde verliehen hat, die von Gottes Würde herrührt.

3-4-3 Unsere Kirche weist auf das Reich hin, das an kein irdisches Reich gebunden werden kann. Jesus sagte vor Pilatus, dass er tatsächlich König sei, aber "Mein Reich ist nicht von dieser Welt" (Joh 18, 36). Und Paulus sagt: "Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede in dem Heiligen Geist" (Röm 14, 17). Deshalb darf keine Religion ein ungerechtes politisches System begünstigen oder unterstützen, sondern sie muss vielmehr Gerechtigkeit, Wahrheit und Menschenwürde fördern. Sie muss alles tun, um politische Systeme, unter denen Menschen Unrecht leiden und die Menschenwürde verletzt wird, auf den rechten Weg zurückzubringen. Das Reich Gottes auf Erden ist an keine politische Orientierung gebunden, denn es ist größer und umfassender als einzelne politische Systeme.

3-4-4 Jesus Christus spricht: "Das Reich Gottes ist mitten unter euch" (Luk 17, 21). Dieses Reich, das mitten unter uns und in uns ist, ist die Weiterentwicklung des Geheimnisses der Erlösung. Es ist die Gegenwart Gottes unter uns und unsere Wahrnehmung dieser Gegenwart in allem, was wir tun und sagen. In dieser göttlichen Gegenwart müssen wir alles, was in unseren Kräften steht, tun, um diesem Land Gerechtigkeit zu verschaffen.

3-4-5 Die harten Bedingungen, unter denen die palästinensische Kirche gelebt hat und noch immer lebt, haben die Kirche gezwungen, sich ihres Glaubens zu vergewissern und ihre Berufung deutlicher zu erkennen. Wir haben uns gründlich mit unserer Berufung auseinandergesetzt und sind uns ihrer inmitten des Leidens und der Schmerzen deutlicher bewusst geworden: heute bezeugen wir die Kraft der Liebe, anstatt der Rache, eine Kultur des Lebens, anstatt einer Kultur des Todes. Das ist für uns, für die Kirche und für die Welt eine Quelle der Hoffnung.

3-5 Quelle unserer Hoffnung ist die Auferstehung. Wie Christus auferstanden ist und den Sieg über den Tod und das Böse davongetragen hat, so können auch wir, kann jeder einzelne Mensch, der in diesem Land lebt, das Übel des Krieges überwinden. Wir werden eine bekennende, standhafte und aktive Kirche im Land der Auferstehung bleiben.


4. Liebe
Das Liebesgebot

4-1 Christus, unser Herr, sagt: "Liebt euch untereinander, wie ich euch geliebt habe" (Joh 13, 34). Er hat uns gezeigt, wie wir unsere Feinde lieben und mit ihnen umgehen sollen: "Ihr habt gehört, dass gesagt ist: 'Du sollst deinen Nächsten lieben' und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch, liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (...) Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" (Mt 5, 43-48). Bei Paulus heißt es: "Vergeltet niemand Böses mit Bösem" (Röm 12, 17). Und Petrus sagt: "Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt" (1. Petr 3, 9).


Widerstand

4-2 Diese Worte sind eindeutig. Liebe ist das Gebot Christi, unseres Herrn, an uns, und es gilt für Freunde wie für Feinde. Das muss klar sein, da wir uns in einer Lage befinden, in der wir dem Bösen jedweder Art entgegentreten müssen.

4-2-1 Liebe erkennt in jedem Menschen das Antlitz Gottes. Jeder Mensch ist mein Bruder oder meine Schwester. Das Antlitz Gottes in jedem Menschen erkennen, bedeutet jedoch nicht, das Böse oder die Aggression des anderen hinzunehmen. Die Liebe bemüht sich vielmehr, das Böse zurechtzurücken und der Aggression Einhalt zu gebieten. Das Unrecht, unter dem das palästinensische Volk lebt, d.h. die israelische Besetzung, ist ein Übel und eine Sünde, denen entgegengetreten werden muss und die beseitigt werden müssen. Die Verantwortung dafür liegt zuallererst bei den Palästinensern selbst, die unter der Besetzung leben. Denn die christliche Liebe mahnt uns zum Widerstand gegen die Besetzung. Die Liebe bezwingt jedoch das Böse, indem sie den Weg der Gerechtigkeit einschlägt. Aber auch die Weltgemeinschaft ist verantwortlich, weil heute das Völkerrecht die Beziehungen unter den Völkern regelt. Schließlich tragen diejenigen, die das Unrecht tun, die Verantwortung dafür, sich selbst vom Bösen, das in ihnen ist, und vom Unrecht, das sie anderen zufügen, zu lösen.

4-2-2 Wenn wir auf die Geschichte der Nationen schauen, sehen wir viele Kriege und viel kriegerischen Widerstand gegen den Krieg, viel gewaltsamen Widerstand gegen Gewalt. Das palästinensische Volk hat denselben Weg wie andere Völker beschritten, vor allem in den ersten Phasen seines Kampfes gegen die israelische Besetzung. Es hat aber auch, vor allem während der ersten Intifada, einen friedlichen Kampf geführt. Es ist uns bewusst, dass alle Völker einen neuen Weg für ihre gegenseitigen Beziehungen und zur Lösung ihrer Konflikte finden müssen. Die Wege der Gewalt müssen Wegen des Friedens weichen. Das gilt ganz besonders für die Völker, die militärisch stark und mächtig genug sind, um dem Schwächeren ihr Unrecht aufzuzwingen.

4-2-3 Wir meinen, dass wir als Christen gegen die israelische Besetzung Widerstand leisten müssen. Widerstand ist für Christen ein Recht und eine Pflicht, doch das Grundprinzip ihres Widerstandes ist die Liebe. Es muss sich daher um einen kreativen Widerstand handeln, das heißt, es müssen menschliche Wege gefunden werden, die die Menschlichkeit des Feindes ansprechen. Im Antlitz des Feindes die Würde Gottes zu sehen und im aktiven Widerstand nur solche Positionen zuzulassen, in denen sich diese Vision widerspiegelt, ist der wirksamste Weg, die Unterdrückung zu beenden und den Unterdrücker zu zwingen, von seiner Aggression abzulassen; auf diese Weise kann das erwünschte Ziel erreicht werden: das Land, die Freiheit, die Würde und die Unabhängigkeit wiederzuerlangen.

4-2-4 Christus, unser Herr, hat uns ein Beispiel gegeben, dem wir nacheifern müssen. Wir müssen dem Bösen widerstehen; aber er hat uns auch gelehrt, dass wir dem Bösem nicht mit Bösem widerstehen sollen. Das ist ein schwieriges Gebot, vor allem, wenn der Gegner entschlossen ist, sich durchzusetzen und unser Bleiberecht in diesem Land zu leugnen. Es ist ein schwieriges Gebot, aber es muss unbedingt befolgt werden, auch angesichts der deutlichen Erklärungen der Besatzungsbehörden, die uns das Existenzrecht verweigern, und der vielfältigen Rechtfertigungsversuche dieser Behörden, die ihr Besatzungsregime über uns aufrechterhalten wollen.

4-2-5 Der Widerstand gegen das Übel der Besetzung ist demnach eingebettet in die christliche Liebe, die das Böse ablehnt und wiedergutmacht. Sie widersteht dem Bösen in allen seinen Formen mit Methoden, die dem Grundsatz der Liebe entsprechen, und setzt alle Kräfte in Bewegung, um Frieden zu stiften. Wir können auch durch zivilen Ungehorsam Widerstand leisten. Wir sollen nicht Widerstand leisten, indem wir Tod bringen, sondern vielmehr, indem wir das Leben schützen. Wir haben Hochachtung vor allen, die ihr Leben für unsere Nation hingegeben haben, und sagen, dass jeder Bürger bereit sein muss, sein Leben, seine Freiheit und sein Land zu verteidigen.

4-2-6 Die zivilen Organisationen der Palästinenser, aber auch die internationalen Organisationen, die Nichtregierungsorganisationen wie auch eine Reihe von religiösen Institutionen appellieren an Einzelne, Gesellschaften und Staaten, sich für den Rückzug von Investitionen und für Boykottmaßnahmen der Wirtschaft und des Handels gegen alle von der Besatzung hergestellten Güter einzusetzen. Wir sehen darin die Befolgung des Grundsatzes des friedlichen Widerstandes. Diese anwaltschaftlichen Kampagnen müssen mutig vorangetrieben werden und dabei offen und aufrichtig erklären, dass ihr Ziel nicht Rache, sondern die Beseitigung des bestehenden Übels, die Befreiung der Täter und der Opfer des Unrechts ist. Ziel ist die Befreiung beider Völker von den extremistischen Positionen der verschiedenen israelischen Regierungen und die Erlangung von Gerechtigkeit und Versöhnung für beide Seiten. In diesem Geiste und mit dieser Zielrichtung werden wir vielleicht die lang ersehnte Lösung unserer Probleme erreichen; das ist schließlich auch in Südafrika und von vielen anderen Befreiungsbewegungen in der ganzen Welt erreicht worden.

4-3 Mit unserer Liebe werden wir das Unrecht überwinden und das Fundament für eine neue Gesellschaft für uns und für unsere Gegner legen. Unsere und ihre Zukunft gehören zusammen. Entweder wird der Zyklus der Gewalt beide Seiten vernichten oder der Friede wird beiden Seiten zugute kommen. Wir appellieren an Israel, von seinem Unrecht gegen uns abzulassen und die Realität der Besetzung nicht länger unter dem Vorwand zu verfälschen, es sei ein Kampf gegen den Terrorismus. Die Wurzeln des "Terrorismus" liegen in dem menschlichen Unrecht, das uns angetan wird, und in dem Übel der Besetzung. Beides muss aufhören, wenn die ehrliche Absicht besteht, den "Terrorismus" zu beseitigen. Wir appellieren an das Volk von Israel, unsere Partner in unseren Bemühungen um Frieden und nicht in dem unendlichen Zyklus der Gewalt zu sein. Lasst uns gemeinsam dem Bösen widerstehen, dem Bösen der Besetzung und dem teuflischen Zyklus der Gewalt!


5. Unser Wort an unsere Brüder und Schwestern

5-1 Wir alle sind auf einem Weg, der blockiert ist, und stehen vor einer Zukunft, die nur Leid verheißt. Unser Wort an alle unsere christlichen Brüder und Schwestern ist ein Wort der Hoffnung, der Geduld, der Standhaftigkeit und des Bemühens um eine bessere Zukunft. Unser Wort lautet: Wir alle haben in diesem Land eine Botschaft auszurichten und werden sie auch weiter ausrichten, den Dornen, dem Blut und den täglichen Schwierigkeiten zum Trotz. Wir setzen unsere Hoffnung auf Gott, der uns zu Seiner Zeit Befreiung gewähren wird. Gleichzeitig werden wir auch weiterhin im Einklang mit Gott und mit Gottes Willen daran arbeiten, aufzubauen, dem Bösen zu widerstehen und den Tag der Gerechtigkeit und des Friedens näher rücken zu lassen.

5-2 Wir sagen unseren christlichen Brüdern und Schwestern: Dies ist eine Zeit der Umkehr. Umkehr führt uns zurück in die Gemeinschaft der Liebe mit allen, die leiden, mit den Gefangenen, mit den Verwundeten, mit denen, die unter vorübergehenden oder ständigen Behinderungen leiden, mit den Kindern, die ihrer Kindheit beraubt sind, mit denen, die einen geliebten Menschen beweinen. Die Gemeinschaft der Liebe sagt jedem Gläubigen im Geist und in der Wahrheit: Wenn mein Bruder gefangen ist, dann bin auch ich gefangen; wenn sein Haus zerstört wird, wird auch mein Haus zerstört; wenn mein Bruder umgebracht wird, dann werde auch ich umgebracht. Wir stehen vor denselben Herausforderungen und teilen miteinander alles, was geschieht und was geschehen wird. Vielleicht haben wir als Einzelne oder als Oberhäupter unserer Kirche geschwiegen, wo wir unsere Stimme hätten erheben, das Unrecht hätten verurteilen und das Leiden hätten teilen sollen. Dies ist eine Zeit der Buße für unser Schweigen, für unsere Gleichgültigkeit, für unsere mangelnde Gemeinschaft, weil wir unserem Auftrag in diesem Land nicht treu geblieben sind und ihn verraten haben oder weil wir nicht genug nachgedacht oder getan haben, um eine neue, ganzheitliche Vision zu finden. So sind wir voneinander getrennt geblieben, haben unser Zeugnis verleugnet und unser Wort geschwächt. Es ist eine Zeit der Buße für unsere übermäßige Sorge um den Bestand der eigenen Institution, manchmal sogar auf Kosten unseres Auftrags, was zur Folge hatte, dass die prophetische Stimme, die den Kirchen vom Geist gegeben worden ist, stumm geblieben ist.

5-3 Wir appellieren an die Christen, in dieser Zeit der Prüfung standzuhalten, wie wir es durch die Jahrhunderte hindurch getan haben, während Staaten und Regierungen kamen und gingen. Seid geduldig, standhaft und voller Hoffnung, damit ihr die Herzen aller unserer Brüder und Schwestern mit Hoffnung erfüllen könnt, die in derselben Prüfung stehen. "Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist" (1. Petr 3, 15). Handelt, und wenn es mit der Liebe vereinbar ist, habt teil an den Opfern, die der Widerstand von euch fordert, um eure gegenwärtige Mühsal zu überwinden.

5-4 Wir sind nur Wenige, aber wir haben eine starke und wichtige Botschaft. Unser Land braucht dringend Liebe. Unsere Liebe ist eine Botschaft an Muslime und Juden, aber auch an die ganze Welt.

5-4-1 Unsere Botschaft an die Muslime ist eine Botschaft der Liebe und für das Zusammenleben, ein Appell, dem Fanatismus und Extremismus abzuschwören. Sie ist auch eine Botschaft an die Welt, dass Muslime nicht als Feinde abgestempelt oder als Terroristen karikiert werden dürfen, sondern dass man mit ihnen in Frieden leben und den Dialog mit ihnen suchen soll.

5-4-2 Unsere Botschaft an die Juden lautet: Wir haben uns bekämpft und kämpfen auch heute noch gegeneinander, aber wir können auch lieben und miteinander zusammenleben. Wir können unser politisches Leben, in all seiner Komplexität, nach dem Grundprinzip der Liebe und ihrer Kraft organisieren, wenn erst einmal die Besetzung beendet und die Gerechtigkeit wiederhergestellt ist.

5-4-3 Das Wort des Glaubens sagt allen, die politisch tätig sind: Die Menschen sind nicht zum Hass geschaffen worden. Hassen ist nicht erlaubt, und auch Töten oder Getötetwerden ist nicht erlaubt. Die Kultur der Liebe ist die Kultur, einander anzunehmen. Dadurch vervollkommnen wir uns selbst, und dadurch legen wir die Fundamente der Gesellschaft.


6. Unser Wort an die Kirchen der Welt

6-1 Unser Wort an die Kirchen der Welt ist zunächst ein Wort des Dankes für die Solidarität, die sie uns in Worten, Taten und in ihrer Präsenz unter uns zuteil werden lassen. Es ist ein Wort der Anerkennung für die vielen Kirchen und Christen, die unsere Forderung nach dem Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung unterstützen. Es ist eine Botschaft der Solidarität mit Christen und Kirchen, die leiden, weil sie für Recht und Gerechtigkeit eintreten.
Es ist aber auch ein Ruf zur Umkehr, zur Korrektur fundamentalistischer theologischer Positionen, die gewisse ungerechte politische Optionen in Bezug auf das palästinensische Volk unterstützen. Es ist ein Aufruf, sich an die Seite der Unterdrückten zu stellen und das Wort Gottes als frohe Botschaft an alle zu bewahren, anstatt es in eine Waffe zu verwandeln, mit der die Unterdrückten getötet werden. Das Wort Gottes ist ein Wort der Liebe zu Seiner ganzen Schöpfung. Gott ist nicht der Verbündete einer Seite gegen eine andere, und auch nicht der Gegner des einen gegenüber dem anderen. Gott ist der Herr aller, er liebt alle, er fordert Gerechtigkeit von allen und gab uns allen dieselben Gebote. Wir bitten unsere Schwesterkirchen, keinen theologischen Deckmantel für das Unrecht anzubieten, unter dem wir leiden, oder über die Sünde der Besetzung, die uns aufgezwungen worden ist. Unsere Frage an unsere Brüder und Schwestern in den Kirchen heute lautet: Könnt ihr uns helfen, unsere Freiheit zurückzuerlangen? Denn das ist die einzige Möglichkeit, beiden Völkern zu Gerechtigkeit, Frieden, Sicherheit und Liebe zu verhelfen.

6-2 Um Verständnis für unsere Wirklichkeit zu wecken, sagen wir den Kirchen: Kommt und seht! Wir werden unsere Aufgabe erfüllen und euch die Wahrheit über unsere Wirklichkeit erzählen und wir werden euch als Pilger empfangen, die zu uns kommen, um zu beten, und die eine Botschaft des Friedens, der Liebe und der Versöhnung bringen. Ihr werdet die Wirklichkeit und die Menschen dieses Landes, Palästinenser und Israelis gleichermaßen, kennenlernen.

6-3 Wir verurteilen alle Formen von Rassismus, gleichviel, ob religiös oder ethnisch begründet, einschließlich Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, und wir appellieren an euch, ihn ebenfalls zu verurteilen und ihm entgegenzutreten, wo und in welcher Form auch immer er auftritt. Gleichzeitig appellieren wir an euch, ein Wort der Wahrheit zur israelischen Besetzung palästinensischen Landes zu sagen und eure Haltung an der Wahrheit auszurichten. Wie wir bereits gesagt haben, halten wir Boykottmaßnahmen und den Abzug von Investitionen für friedliche Werkzeuge, um Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit für alle zu erreichen.


7. Unser Wort an die internationale Gemeinschaft

7-1 Unser Wort an die Weltgemeinschaft lautet: Beendet die "Doppelmoral" und besteht darauf, dass die internationalen Resolutionen zur Palästinafrage auf alle Parteien angewendet werden. Die selektive Anwendung des Völkerrechts birgt die Gefahr in sich, uns dem Gesetz des Dschungels preiszugeben. Sie legitimiert die Forderungen bestimmter bewaffneter Gruppen und suggeriert, dass die internationale Gemeinschaft allein die Logik der Gewalt versteht. Deshalb fordern wir, wie bereits erwähnt, eine Reaktion auf das, was die zivilen und religiösen Institutionen vorgeschlagen haben: nämlich endlich ein System wirtschaftlicher Sanktionen und Boykottmaßnahmen gegen Israel einzuleiten. Wir wiederholen noch einmal: das ist nicht Rache, sondern vielmehr ein ernsthafter Schritt zur Verwirklichung eines gerechten und dauerhaften Friedens, durch den die Besetzung palästinensischer und anderer arabischer Gebiete durch Israel beendet und Sicherheit und Frieden für alle gewährleistet werden sollen.


8. An die jüdische und an die muslimische religiöse Führung

8. Schließlich appellieren wir an die jüdische und muslimische religiöse und geistliche Führung, mit der wir die Vision teilen, dass jeder Mensch von Gott geschaffen ist und die gleiche menschliche Würde erhalten hat. Das erlegt allen von uns die Verpflichtung auf, die Unterdrückten und die ihnen von Gott verliehene Würde zu verteidigen. Lasst uns gemeinsam versuchen, die politischen Positionen hinter uns zu lassen, die bislang gescheitert sind und immer wieder auf den Weg des Scheiterns und des Leidens führen werden.


9. Ein Appell an unser palästinensisches Volk und an die Israelis

9-1 Es ist der Appell, in jedem seiner Geschöpfe das Antlitz Gottes zu erkennen und die Schranken der Furcht oder der Rasse zu überwinden, um einen konstruktiven Dialog anzubahnen und aus dem Teufelskreis nie endender Manöver herauszukommen, die das Ziel haben, den Status quo zu erhalten. Wir rufen dazu auf, eine gemeinsame Vision zu suchen, die sich auf Gleichberechtigung und Teilen gründet und nicht auf Überlegenheitsansprüche, auf die Negierung des anderen oder auf Aggressionen unter dem Vorwand der Angst und der Sicherheit. Wir sagen: Liebe und gegenseitiges Vertrauen sind möglich. Deshalb ist auch Friede, ist endgültige Versöhnung möglich. Auf diese Weise können Gerechtigkeit und Sicherheit für alle Seiten erreicht werden.

9-2 Von großer Bedeutung ist die Bildung. Bildungsprogramme müssen helfen, einander richtig kennenzulernen, anstatt einander nur durch das Prisma des Konflikts, der Feindschaft oder des religiösen Fanatismus zu sehen. Die heutigen Bildungsprogramme sind von Feindschaft vergiftet. "Ihr kennt uns nicht und wir kennen euch nicht", könnten Israelis und Palästinenser gleichermaßen zueinander sagen. Es ist die Zeit für eine neue Bildungsarbeit gekommen, die es uns ermöglicht, in dem anderen das Antlitz Gottes zu sehen, und die uns klar macht, dass wir fähig sind, einander zu lieben und gemeinsam an einer Zukunft in Frieden und Sicherheit zu bauen.

9-3 Der Versuch, den Staat zu einem religiösen - jüdischen oder islamischen - Staat zu machen, nimmt ihm seine Bewegungsfreiheit, zwängt ihn in enge Grenzen und verwandelt ihn in einen Staat, der Diskriminierung und Ausgrenzung praktiziert und die einen Bürgerinnen und Bürger gegenüber den anderen privilegiert. Wir appellieren an beide, die religiösen Juden und die religiösen Muslime: Macht den Staat zu einem Staat für alle seine Bürger und Bürgerinnen, der auf der Achtung der Religion, aber auch der Gleichberechtigung, der Gerechtigkeit, der Freiheit sowie der Respektierung des Pluralismus gegründet ist, und nicht auf der Herrschaft einer Religion oder einer zahlenmäßigen Mehrheit.

9-4 Den palästinensischen Verantwortlichen sagen wir: Die derzeitigen Spaltungen schwächen uns alle und verursachen zusätzliches Leid. Nichts kann diese Spaltungen rechtfertigen. Zum Wohle des Volkes, das wichtiger ist als das der politischen Parteien, muss die Spaltung ein Ende haben. Wir appellieren an die Weltgemeinschaft, diesen Einigungsprozess zu unterstützen und den in Freiheit ausgedrückten Willen des palästinensischen Volkes zu respektieren.

9-5 Das Fundament unserer Vision und unseres ganzen Lebens ist Jerusalem. Dieser Stadt hat Gott in der Geschichte der Menschheit eine ganz besondere Bedeutung beigemessen. Alle Menschen sind auf dem Weg in diese Stadt - wo sie sich in Freundschaft und Liebe und in der Gegenwart des einen Gottes nach der Vision des Propheten Jesaja zusammenfinden werden: "Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen. (...) Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen" (Jes 2, 2-5). Jede politische Lösung muss sich auf diese prophetische Vision stützen sowie auf die internationalen Resolutionen im Blick auf Jerusalem, in dem heute zwei Völker und drei Religionen leben. Diese Frage muss der erste Verhandlungspunkt sein, denn die Anerkennung Jerusalems als heiliger Stadt und ihrer Botschaft wird eine Quelle der Inspiration für die Lösung des Gesamtproblems sein, das weitgehend ein Problem gegenseitigen Vertrauens und der Fähigkeit ist, in diesem Land Gottes ein neues Land zu schaffen.


10. Hoffnung und Glaube an Gott

10-1 Obwohl es keine Hoffnung gibt, schreien wir unsere Hoffnung heraus. Wir glauben an Gott, an den gütigen und gerechten Gott. Wir glauben, dass am Ende Seine Güte den Sieg über das Böse des Hasses und des Todes davontragen wird, die noch immer in unserem Land herrschen. Wir werden hier "ein neues Land" und "einen neuen Menschen" entdecken, der imstande ist, sich im Geiste der Liebe zu allen seinen Brüdern und Schwestern zu erheben.


Übersetzt aus dem Englischen
Sprachendienst des ÖRK


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Quelle:
Nachrichten vom 10. Dezember 2009
Herausgeber: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Dezember 2009