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EUROPA/502: Ejup Ganic nach Bosnien-Herzegowina ausliefern


Presseerklärung vom 2. März 2010

Solange Serbien Mladic versteckt, darf es nicht über Bosnier urteilen!


Anlässlich der Verhaftung des ehemaligen Mitglieds des multiethnischen Präsidiums Bosnien-Herzegowinas (1992-1995) Ejup Ganic auf dem Flughafen London Heathrow am 1.3.2010 fordert der Präsident der Gesellschaft für bedrohte Völker International (GfbV-International) Tilman Zülch Behörden und Justiz Großbritanniens auf, dem Antrag des zuständigen bosnischen Gerichts zu folgen und Ganic umgehend an sein Heimatland Bosnien-Herzegowina auszuliefern.

Die Verhaftung von Ganic erfolgte aufgrund von Haftbefehlen, die von serbischen Behörden Anfang 2009 wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen gegen 19 bosnische Staatsbürger ausgestellt wurden, darunter zwei Mitglieder des Kriegspräsidiums (den bosnisch-muslimischen Politiker Ejup Ganic und den kroatischen Bosnier Stjepan Kljuic).

Ganic wird vorgeworfen am 3. Mai 1992 einer bosnischen Polizeieinheit befohlen zu haben, auf einen aus der Stadt flüchtenden Konvoi der Truppen der damaligen Jugoslawischen Volksarmee (JNA) zu schießen und damit gegen die Genfer Menschenrechtskonvention verstoßen zu haben (Dobrovoljacka Fall). Dabei waren nach unterschiedlichen Angaben zwischen 7 und 42 Menschen getötet und bis zu 70 verletzt worden. Nach Informationen der britischen Polizei soll Ganic bis zu einer Anhörung am 29. März im Gefängnis des Gerichts von Westminster bleiben.

"Wir müssen darauf hinweisen, dass zu jener Zeit die Stadt Sarajevo von der jugoslawischen Volksarmee und den Milizen unter Karadzic und Mladic von umliegenden Bergen und aus den Kasernen innerhalb der Stadt beschossen wurde", erklärte dazu Tilman Zülch. Noch am 2. Mai 1992 versuchte die Jugoslawische Volksarmee das Gebäude des bosnischen Regierungspräsidiums zu stürmen, wurde aber von der Territorialverteidigung Bosnien-Herzegowinas daran gehindert. Ob zuerst aus dem genannten Konvoi oder von den bosnischen Verteidigern geschossen worden ist, kann nur vor einem unabhängigen Gericht geklärt werden. Das wäre in jedem Fall in Serbien nicht möglich, dessen Justiz, Regierung und Militär weiter den Hauptkriegsverbrecher und für den Genozid an der bosniakischen Zivilbevölkerung mitverantwortlichen General Ratko Mladic verbergen oder vor einer Festnahme schützen.

"Neben Ejup Ganic gibt es noch einige andere hochrangige Politiker und Offiziere der ehemaligen bosnischen Armee, nach denen von der serbischen Seite mit Haftbefehlen gefahndet wird", sagte Zülch. "Nach Informationen der GfbV sind es außerdem noch 400 Vertriebene aus den Regionen Bosniens, die von serbischen Truppen besetzt wurden. Nach diesen 400 wird mit geheimen Haftbefehlen serbischer Behörden gesucht".

Nachdem die Verfolgung der mutmaßlichen Kriegsverbrecher auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien seit 2005 nicht mehr durch das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien/ICTY, bzw. durch Sonderverträge (Römer Verfahrensregeln/Rome Agreement 1996, unterzeichnet von Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kroatien) gewährleistet ist und keine Nachfolgeregelungen getroffen wurden, handeln serbische Behörden auf eigene Faust und lassen Bürger Bosnien-Herzegowinas eigenständig verfolgen.

Die GfbV betrachtet es deshalb als absurd, dass diese 400 Angeklagten, in der Regel Überlebende der schlimmsten serbischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Prijedor/Krajina, Sarajevo etc) oder gar des Völkermordes (Srebrenica/Drina-Tal), jetzt als Täter strafrechtlich verfolgt werden sollen. Im Drina-Tal kam es in den meisten Dörfern und Städten zu furchtbaren Massenmorden und zur vollständigen Vertreibung oder Flucht der nichtserbischen Bevölkerung.

In diesem Sinne äußerte sich auch der serbisch-bosnische Ex-General der Armee von Bosnien-Herzegowina und Verteidiger von Sarajevo, Jovan Divjak, gegenüber der GfbV: "Ich habe schon drei Mal vor dem ICTY als Zeuge zugunsten der Wahrheit und des Staates Bosnien und Herzegowina ausgesagt. Sollte mich das Gericht Bosnien-Herzegowinas für Kriegsverbrechen wegen meiner Verantwortung für den Fall Dobrovoljacka vorladen, werde ich dort jederzeit aussagen. Ich weiß jedoch, dass die Staatsanwaltschaft von Bosnien-Herzegowina in diesem Fall ermittelt hat und dass es nicht genügend Beweise und Anzeichen für ein Verbrechen gab, so dass keine Anklage erhoben werden konnte. Was Serbien jetzt unternimmt, ist eine direkte Einmischung in Angelegenheiten des Staates Bosnien und Herzegowina. Damit beweisen und bestätigen sie jedoch auch selbst, dass Serbien am Angriffskrieg gegen Bosnien und Herzegowina beteiligt war. Denn warum hat die Jugoslawische Armee im Mai 1992 in Bosnien und Herzegowina Krieg geführt, wenn die internationale Anerkennung des Staates Bosnien und Herzegowina schon im April 1992 erfolgt ist? Wir Verteidiger der Stadt Sarajevo und des Landes Bosnien und Herzegowina sind Augenzeugen der Aggression der Jugoslawischen Volksarmee und des Staates Serbien gegen Bosnien-Herzegowina. Der serbische Staat wird die Verantwortung von Aggression und Genozid, begangen an den Bürgern Bosnien-Herzegowinas, eines Tages anerkennen müssen."

Mirko Pejanovic, Präsident des Serbischen Bürgerrates Bosniens, Mitglied des multiethnischen Präsidiums von BiH während des Krieges, erklärte im Zusammenhang mit der Verhaftung von Ganic: "(...) Die Ankündigung eines Gerichtsverfahrens und die Ausstellung der Haftbefehle gegen Verteidiger von Sarajevo und Bosnien und Herzegowina sind ein Versuch Serbiens, die Geschichte zu revidieren und den Krieg in Bosnien und Herzegowina als Bürgerkrieg, in dem alle Seiten gleich verantwortlich sind, darzustellen. Sollte dieser Versuch nicht durch eine internationale Institution verurteilt werden, werden wir alle, meine Person und alle Mitglieder des Präsidiums eingeschlossen, das Land Bosnien-Herzegowina nicht verlassen dürfen, da wir in jedem Land der Welt nach einem INTERPOL-Fahndungsbefehl verhaftet werden können. Dies wäre die neue Ketzerjagd".


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen, den 2. März 2010
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
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E-Mail: presse@gfbv.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2010