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SÜDAMERIKA/046: Brasilien - Tödliche Polizeigewalt in Rio de Janeiro


Amnesty International - 3. August 2015

Ein Jahr vor Beginn der Olympischen Sommerspiele

Brasilien: Tödliche Polizeigewalt in Rio de Janeiro


3. August 2015 - In Rio de Janeiro starb in den vergangenen fünf Jahren fast jeden Tag ein Mensch durch die Hand von Polizisten. Ein Jahr vor Beginn der Olympischen Sommerspiele veröffentlicht Amnesty International in einem neuen Bericht erschütternde Statistiken und Analysen zur tödlichen Polizeigewalt in Brasilien.

"Erst schießen, dann fragen": Nach diesem Grundsatz handelt offenbar die Militärpolizei in Rio de Janeiro. Insgesamt 1.519 Menschen starben in den vergangenen fünf Jahren durch die Hand von Polizeikräften in der künftigen Olympiastadt. Doch die meisten Fälle werden nie untersucht und die Verantwortlichen nur selten vor Gericht gebracht.

Dies geht aus dem aktuellen Amnesty-Bericht "You killed my son: Killings by military police in Rio de Janeiro" hervor.

Allein in der Favela Acari im Norden der Stadt hat Amnesty klare Anzeichen dafür gefunden, dass es sich bei mindestens neun von zehn Fällen von Tötungen durch die Polizei im Jahr 2014 um außergerichtliche Hinrichtungen handelte.

"Rio de Janeiro hat zwei Gesichter: Auf der einen Seite führt die Stadt der Welt Glanz und Glamour vor, auf der anderen Seite ist sie geprägt von repressiven Polizeieinsätzen, bei denen gezielt eine ganz bestimmte Gesellschaftsgruppe ins Visier genommen wird", so Atila Roque, Direktor von Amnesty International in Brasilien.

"Brasiliens Strategie bei der Bekämpfung von Drogen und Gewalt, mit der die tatsächlich höchst prekäre öffentliche Sicherheitslage verbessert werden sollte, ist gewaltig nach hinten losgegangen. Sie hinterlässt Leid und Verwüstung und kostet viele Menschenleben, weil eine korrupte und unterbesetzte Polizei auf eine bitterarme, marginalisierte und nahezu unsichtbare Bevölkerungsschicht trifft. Dazu kommt eine Justiz, die permanent versagt, wenn es darum geht, Menschenrechtsverletzungen aufzuklären und die Betroffenen zu entschädigen."

Recherchen von Amnesty International weisen auf den regelmäßigen Einsatz von unnötiger und unverhältnismäßiger Gewalt durch die Polizei bei Einsätzen in den Favelas von Rio de Janeiro hin. Die meisten der Menschen, die zwischen 2010 und 2013 von der Polizei getötet wurden, waren junge Männer afrobrasilianischer Herkunft zwischen 15 und 29 Jahren. Opfer zu Schuldigen gemacht

Untersucht werden solche Tötungen so gut wie nie. Wird jemand während eines Polizeieinsatzes getötet, so erstellt ein Angehöriger der Zivilpolizei einen Verwaltungsbericht, um festzustellen, ob es sich um Notwehr handelte oder ob eine Strafverfolgung erforderlich ist. In der Praxis werden viele Fälle als sogenannter "Widerstand mit Todesfolge" registriert. Dadurch werden unabhängige Untersuchungen verhindert und die Täter vor einer zivilen Strafverfolgung geschützt.

Die getöteten Menschen werden also für ihren eigenen Tod verantwortlich gemacht - auch wenn sie nicht im geringsten Widerstand leisteten - und außergerichtliche Hinrichtungen vertuscht. Hatte das Todesopfer nach Ansicht der Polizei Verbindungen zu einer kriminellen Bande, so stützt die Untersuchung in der Regel die Aussage der Polizei, dass es sich um Notwehr handelte, und geht den Umständen der Tötung nicht weiter nach.

Amnesty International hat auch festgestellt, dass Polizeikräfte am Tatort häufig Spuren verwischen oder manipulieren, beispielsweise indem sie die Leichen fortschaffen oder dem Getöteten eine Waffe oder andere "Beweisstücke" unterschieben. Wird dem Getöteten Drogenhandel vorgeworfen, so konzentriert sich die Untersuchung stark auf das Täterprofil des Betroffenen, um die Tötung zu rechtfertigen. Eduardo de Jesus, 10 Jahre alt: Getötet von Polizisten

Eduardo de Jesus war zehn Jahre alt, als er am 2. April 2015 vor der Haustür seiner Eltern in der Favela Complexo do Alemão von Angehörigen der Militärpolizei erschossen wurde.

Es geschah innerhalb von Sekunden, berichtet seine Mutter Terezinha Maria de Jesus: "Ich hörte einen Knall und einen Schrei.... Als ich nach draußen lief, lag mein Sohn tot vor dem Haus."

Als sie die Militärpolizisten, die vor der Leiche ihres Sohnes standen, zur Rede stellte, richtete einer das Gewehr auf sie und meinte: "So wie ich deinen Sohn erschossen habe, kann ich auch dich erschießen, denn ich habe den Sohn einer Kriminellen getötet."

Die Spuren am Tatort wurden nach Aussage von Terezinha Maria de Jesus fast unmittelbar danach von der Polizei verwischt. Sie wollten auch Eduardos Leiche wegtragen, doch Anwohnerinnen und Anwohner hinderten sie daran. Ein Polizist versuchte ein Gewehr neben den Getöteten zu legen, um ihn so zu belasten.

Die verantwortlichen Polizisten wurden noch am Tag nach der Tötung von Eduardo de Jesus aus dem Dienst entlassen und ihre Waffen für forensische Analysen konfisziert. Der Vorfall wird derzeit von der polizeilichen Mordkommission untersucht. Die Familie von Eduardo de Jesus erhält seither Drohungen und ist aus Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen umgezogen.

"Die Strategie der Einschüchterung und Bedrohung, die die Militärpolizei in den Favelas einsetzt, wird die Sicherheitslage in der Stadt nicht verbessern. Dies kann nur durch eine umfassende Strategie zur Verminderung der Mordrate geschehen. Außerdem müssen sich die Behörden verpflichten, alle Menschenrechtsverletzungen sorgfältig zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen", so Atila Roque.


Hintergrundinformationen: Zahlen und Fakten
  • Brasilien ist eines der Länder mit der höchsten Anzahl an jährlichen Tötungsdelikten weltweit: 56.000 Menschen wurden allein im Jahr 2012 getötet.
  • Über die Hälfte der 2012 Getöteten war zwischen 15 und 29 Jahre alt, 77 % von ihnen waren afrobrasilianischer Herkunft.
  • Von 2005 bis 2014 wurden im Bundesstaat Rio de Janeiro 8.471 Tötungen durch Polizistinnen und Polizisten im Dienst registriert, 5.132 davon in Rio de Janeiro.
  • In den vergangenen fünf Jahren wurden fast 16 % aller Fälle von Tötungen in Rio de Janeiro, nämlich insgesamt 1.519, von Polizeikräften verübt. Die meisten Tötungen durch die Polizei werden unter der Bezeichnung "Widerstand mit Todesfolge" registriert.
  • Eine von Amnesty International durchgeführte Überprüfung aller im Jahr 2011 in Rio de Janeiro eröffneten 220 Untersuchungen zu Tötungen durch die Polizei hat ergeben, dass vier Jahre später lediglich ein einziger Fall zu einer Anklage gegen einen Polizisten geführt hat. Im April 2015 waren 183 Untersuchungen noch nicht abgeschlossen.


Hier finden Sie den vollständigen englischsprachigen Amnesty-Bericht "You killed my son: Killings by military police in Rio de Janeiro":
https://www.amnesty.de/files/Amnesty-Bericht_Brasilien_Polizeigewalt_August_2015.PDF

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Quelle:
ai-Meldung vom 3. August 2015
https://www.amnesty.de/2015/8/3/brasilien-toedliche-polizeigewalt-rio-de-janeiro?destination=startseite
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2015

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