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NORDAMERIKA/085: Guantánamo - Das Recht stirbt zuerst (ai journal)


amnesty journal 4/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Das Recht stirbt zuerst

Von Florian Klenk


Der Bremer Anwalt Bernhard Docke hat Murat Kurnaz aus Guantánamo geholt. Doch zuvor musste er vergessen, was er über Recht und Ordnung gelernt hatte.


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Ende August 2006, als Murat Kurnaz zurückkehrte, hielt sein Anwalt Bernhard Docke bei der Heimfahrt kurz an. Kurnaz blickte in den nächtlichen Sternenhimmel und Docke dachte: "Jetzt wird er davonrennen." Doch Kurnaz schaute nur in die dunkle Nacht. Fünf Jahre lang hatte man das Neonlicht in seinem Käfig auf Guantánamo nicht abgeschaltet. Docke sagt: "Ich dachte mir nur: Welch ein armer Mensch!"

Alles begann im Frühjahr 2002, als Kurnaz' Mutter in die Kanzlei des Bremer Anwaltes trat, weil sie "überall auf verschlossene Türen" stieß. Die blondierte Frau stellte sich als Rabiye Kurnaz vor. Sie hielt Docke eine zensierte Postkarte hin. "Es geht mir gut, nur Gott weiß, wann ich zurückkomme", hatte ihr Sohn Murat darauf geschrieben. Es war das erste Lebenszeichen des damals 19jährigen Schiffbaulehrlings, der fünf Jahre in Guantánamo festgehalten werden sollte.

Dass der Kurnaz-Fall mittlerweile zur Staatsaffäre wurde, das ist auch der Hartnäckigkeit Bernhard Dockes zu verdanken. Sein fünf Jahre währender Kampf gegen das "rechtswidrige Recht" im Anti-Terror-Krieg zeigt exemplarisch, wie schnell sich Demokratien in eine "archaische Welt" (Docke) verwandeln können, wenn die richterliche Kontrolle der Regierenden versagt.

Rabiye Kurnaz wurde von der Wucht der Weltpolitik getroffen, und "ihr Sohn war ins Mittelalter befördert worden", meint Docke. Was das bedeutet? "Kein Haftbefehl. Keine Anklage. Keine Besuchsmöglichkeit. Kein Staatsanwalt. Kein Gericht. Keine Öffentlichkeit. Keine Adresse, an die sich der Gefangene wenden konnte." Docke sagt: "Ich musste mein juristisches Handwerkszeug weglegen. Alles, was ich über das Recht gelernt hatte, war wertlos". Dabei war das Gesetz nach den Anschlägen vom 11. September doch gar nicht geändert worden. Nur die Interessen waren andere. Plötzlich gab es "keinen juristischen Zipfel mehr, an dem ich ziehen konnte", erklärt Docke.

Er stellte sich an die "öffentliche Klagemauer", wie er sagt, er begann mit Mutter Kurnaz um die Welt zu reisen. Er, der einst bei der UNO als Praktikant Völkerrecht studierte, entdeckte wieder das andere Amerika: bissige Anwälte, kämpferische Menschenrechtsorganisationen. Es rührte sich was: Die ersten Gefangenen kamen frei. Ein Geheimbericht des Roten Kreuzes über US-Folter im Lager wurde den Medien zugesteckt. Docke setzte wieder auf das Recht. Gemeinsam mit anderen Anwälten zerrte er in Kurnaz' Namen die Bush-Regierung vor Gericht. Doch die Richter stützten den Präsidenten. Anwalt Docke zog gemeinsam mit anderen vor den Supreme Court.

Docke und Mutter Kurnaz nahmen Platz im hohen marmornen Verhandlungssaal des Höchsten Gerichtes. Rabiye Kurnaz, erzählt Docke, "verstand kein Wort von dem, was die Götter in Schwarz da vorne redeten". Er glaubte den Prozess schon verloren, doch es kam anders: am 28. Juli 2004, zweieinhalb Jahre, nachdem Kurnaz festgesetzt wurde, las das Oberste Gericht dem US-Präsidenten die Leviten. Auch Kurnaz habe das Recht, ein Gericht anzurufen.

Die Geschichte hätte hier ein Happy End nehmen können. Doch bis heute ist das Urteil nicht umgesetzt, weil die USA den Spruch boykottieren. Mal verweigern sie die Akteneinsicht, dann schwärzen sie Urteile in entscheidenden Passagen. Erst im September wurde ein Gesetz verfasst, das den Häftlingen erneut alle Rechte entzieht.

Kurnaz aber kam heim. Doch es war ein "Gnadenakt" der USA, kein Richterspruch, der ihm die Freiheit zurückgab. Und das ist die beängstigende Lehre, die man aus Dockes Geschichte ziehen kann: Es waren nicht Richter, die Kurnaz' Schicksal bestimmten, sondern wieder nur die Mächtigen.

Der Autor ist Jurist und Redakteur der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit".


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PORTRÄT

BERNHARD DOCKE
Der Rechtswalt arbeitet seit 15 Jahren in Bremen in der Kanzlei von Heinrich Hannover. Im vergangenen Dezember erhielt er die Carl-von-Ossietzky-Medaille für demokratisches Engagement und seinen Einsatz für die Menschenrechte.


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Quelle:
amnesty journal, April 2007, S. 18
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2007