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NAHOST/241: Türkei - Staatsanwaltschaft fordert für Osman Kavala und Mitangeklagte verschärfte lebenslange Haft


Amnesty International - Pressemitteilung vom 1. März 2019

Türkei: Staatsanwaltschaft fordert für Osman Kavala und Mitangeklagte verschärfte lebenslange Haft - türkische Menschenrechtsorganisationen verurteilen die zunehmende Bedrohung der Zivilgesellschaft


Amnesty International, das KulturForum TürkeiDeutschland und die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di sowie das PEN-Zentrum Deutschland sind schockiert über die Strafforderung für Osman Kavala und seine Mitangeklagten und solidarisieren sich mit dem offenen Brief türkischer Menschenrechtsorganisationen vom 27. Februar.

BERLIN, 01.03.2019 - Nach der Festnahme Osman Kavalas im Oktober 2017, nach nunmehr 500 Tagen, die er in Isolationshaft eingesessen hat, legte der Staatsanwalt am 20. Februar die Anklageschrift gegen Kavala und seine Mitangeklagten vor. Für den 62-jährigen Kavala wird erschwerte lebenslange Haft gefordert. Gleiches gilt für die Mitangeklagten Hakan Altınay, Ayşe Mücella Yapıcı, Pınar Alabora, Can Dündar, Çiğdem Mater, Gökçe Yılmaz, Handan Meltem Arıkan, Hikmet Germiyanoğlu, İnanç Ekmekçi Mehmet Ali Alabora, Mine Özerden, Can Atalay, Tayfun Kahraman, Yiğit Aksakoğlu und Yiğit Ali Ekmekçi. Allen Angeklagten wird vorgeworfen, Pläne zum Sturz der verfassungsgemäßen Ordnung und der Regierung der Republik Türkei verfolgt zu haben.

Kavala selbst wird darüber hinaus beschuldigt, seit 2011 die Gezi-Proteste im Jahre 2013 geplant, organisiert und finanziert zu haben. Außerdem soll er Verbindungen zu den vermeintlichen Organisatoren des Putschversuchs im Sommer 2016 gehabt haben. Alle diese Vorwürfe entbehren jeglicher Grundlage.

Osman Kavala und seine Anwälte erhielten bis zur Vorlage der Anklageschrift keine Einsicht in die Ermittlungsakten und keine konkreten Informationen über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Währenddessen wurde er zum Ziel einer Verleumdungskampagne in den regierungsnahen Medien, denen offensichtlich Einblick in die Ermittlungen gewährt wurde.

Osman Kavala setzt sich seit Jahrzehnten für die Förderung der Zivilgesellschaft und der Kultur in der Türkei ein. In den vergangenen 30 Jahren hat er unabhängige Menschenrechtsorganisationen unterstützt und eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Organisationen mitgegründet, so zum Beispiel die Helsinki Citizens' Assembly (jetzt genannt Citizens'? Assembly), eine NGO zur Förderung der Menschenrechte, und Anadolu Kültür, eine Stiftung zur Förderung der kulturellen Verständigung in der Türkei. Er und seine Mitangeklagten setzen sich für die kulturelle Vielfalt der Türkei, für Menschenrechte und die friedliche Lösung von Konflikten ein.

Amnesty International, das KulturForum TürkeiDeutschland und die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di und das PEN-Zentrum Deutschland sehen in dieser Anklage, für die es keinerlei faktische Grundlage gibt, den forcierten Versuch, die Zivilgesellschaft weiter einzuschüchtern und jegliche demokratische Opposition auszuschalten. Die Organisationen fordern die türkische Regierung auf, die haltlosen Vorwürfe fallenzulassen und Osman Kavala und den ebenfalls inhaftierten Yiğit Aksakoğlu freizulassen. Sie solidarisieren sich mit dem offenen Brief von türkischen Menschenrechtsorganisationen vom 27. Februar 2019 (siehe Anhang).

Die Organisationen fordern die Bundesregierung dazu auf, sich entschieden gegen die Verfolgung von Osman Kavala und seiner Mitangeklagten zu wenden und sich mit Nachdruck für deren sofortige Freilassung einzusetzen.

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Offener Brief von 10 zivilgesellschaftlichen Organisationen in der
Türkei

Wir stehen zusammen gegen die Versuche, die Zivilgesellschaft zu zerstören

In Reaktion auf die absurden Vorwürfe, die gegen Osman Kavala und Yiğit Aksakoğlu, die sich in Untersuchungshaft befinden, sowie gegen 14 weitere zivilgesellschaftlich engagierte Personen - alle angeklagt des "Versuches, die Regierung zu stürzen" - rufen wir, die unterzeichnenden Menschenrechtsorganisationen, dazu auf, die immer weiter zunehmenden Angriffe auf die Zivilgesellschaft und deren Kriminalisierung zu beenden.

In den letzten fünf Tagen ließen die etablierten Medien in einer organisierten Desinformationskampagne angebliche Einzelheiten aus der Anklageschrift gegen diese 16 Aktivisten der Zivilgesellschaft durchsickern. Gemäß diesen kolportierten Informationen aus der Anklageschrift, die noch nicht einmal von den Rechtsanwälten der Angeklagten eingesehen werden konnte, konzentrieren sich die Anschuldigungen auf die Gezi-Park Proteste aus dem Jahr 2013, eine ganz überwiegend friedliche Protestbewegung, die von der Regierung mit massiver Polizeigewalt niedergeschlagen wurde.

Im Rahmen desselben Ermittlungsverfahrens werden die Ermittlungen gegen eine noch weit größere Gruppe zivilgesellschaftlich engagierter Personen weiter fortgesetzt. Die angeklagten Personen und die, gegen die noch ermittelt wird sind weder verantwortlich für die Gezi-Park Proteste, die als legitime Form der freien Meinungsäußerung zu betrachten sind, noch haben sie irgendeine Straftat begangen. Das Gericht sollte eine Anklageschrift zurückweisen, die auf absurden Verschwörungstheorien beruht und keine relevanten Fakten enthält. Osman Kavala und Yiğit Aksakoğlu, die seit 16 bzw. 3 Monaten inhaftiert sind, müssen unverzüglich freigelassen werden.

Gleichzeitig mit diesem erneuten Angriff auf die Zivilgesellschaft sind Menschenrechtsverteidiger und andere zivilgesellschaftliche Aktivisten in immer stärkerem Maße mit Festnahmen, Anklagen und Inhaftierung konfrontiert - allein dafür, dass sie Menschenrechtsverletzungen angeprangert und Wahrheit, Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung gefordert haben.

Nächsten Monat wird die 17. Verhandlung in dem "Büyükada"-Prozess gegen 11 Menschenrechtsverteidiger stattfinden. Für die erfundenen Terrorismus-Vorwürfe, die ausschließlich auf der Menschenrechtsarbeit der Angeklagten beruhen, wurden keinerlei Belege vorgelegt.

Die Menschenrechtsverteidiger Şebnem Korur Fincanci, Erol Önderoğlu und Ahmet Nesin stehen vor Gericht unter dem Vorwurf, sie hätten "Terrorismus-Propaganda" betrieben, indem sie sich an einer Solidaritätsaktion für die inzwischen verbotene Zeitung Özgür Gündem beteiligt haben. Journalisten, die für die Özgür Gündem gearbeitet haben, werden ebenfalls mit Prozessen überzogen. Vor zwei Monaten wurde Şebnem Korur Fincanci wegen "Terror-Propaganda" zu einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt, weil sie die "Friedenspetition" unterzeichnet hatte. Die Bestätigung dieses Urteils ist noch vor dem regionalen Berufungsgericht anhängig. In vorausgegangenen Urteilen hat sich jedoch gezeigt, dass diese Berufungsgerichte nicht unabhängig von der Regierung sind.

Die Menschenrechtsverteidigerin Eren Keskin, die aus Solidarität die Funktion einer Co-Chefredakteurin der Özgür Gündem übernommen hatte, ist in über 100 Verfahren angeklagt. Inzwischen wurden 129 Personen aus der Bewegung "Akademiker für den Frieden" zu Haftstrafen verurteilt. 25 von ihnen steht unmittelbar die Inhaftierung bevor, wenn die Berufungsgerichte, an denen die Verfahren noch anhängig sind, die Urteile bestätigen. Prozesse, wie die wegen der Solidaritätsaktionen mit Özgür Gündem und gegen die "Akademiker für den Frieden" sind ein Instrument der Regierung, um hunderte zivilgesellschaftlich engagierter Personen in der Türkei zu unterdrücken und zum Schweigen zu bringen. Diese Situation wurde dadurch hervorgerufen, dass die Gerichte immer härtere Urteile für ähnliche Formen legitimer und friedlicher oppositioneller Betätigung verhängt haben.

Internationale Konventionen und Verträge, die von der Türkei unterzeichnet wurden, heben die wichtige Rolle hervor, die Menschenrechtsverteidiger, die Zivilgesellschaft und eine freie Presse dabei spielen, die Wahrung der Menschenrechte und grundlegender Freiheiten sicherzustellen. Der wirksame Schutz der Freiheit, Sicherheit, Würde und physischer und psychischer Integrität von Menschenrechtsverteidigern ist eine Voraussetzung für die Verwirklichung des Rechts, die Menschenrechte zu verteidigen.

Das internationale Recht betont ebenfalls, dass es in der Verantwortlichkeit der Staaten liegt, Menschenrechtsverteidiger zu schützen. Der Staat ist dafür verantwortlich, sämtliche Rechte von Menschenrechtsverteidigern zu wahren: von dem Recht auf freie Meinungsäußerung bis zum Recht auf die friedliche Ausübung der Organisations- und Versammlungsfreiheit.

Wir, die unterzeichnenden Organisationen stehen zusammen gegen diese Versuche, die unabhängige Zivilgesellschaft in der Türkei zu zerstören, rufen dazu auf, die manipulierte Kampagne der Einschüchterungen und juristischen Schikanen gegen zivilgesellschaftliche Aktivisten in der Türkei zu beenden und erinnern die Verantwortlichen an ihre völkerrechtliche Verpflichtung, Menschenrechtsverteidiger zu schützen.

Civil Rights Defenders
Association for Monitoring Equal Rights (Eşit Haklar İçin İzleme Derneği)
Memory Centre (Hakikat Adalet Hafiza Merkezi)
The Rights Initiative (Hak İnisiyatifi Derneği)
Human Right Association (İnsan Haklari Derneği)
Human Rights Agenda Association (İnsan Hakları Gündemi Derneği)
Reporters Without Borders (Sinir Tanimayan Gazeteciler)
Human Rights Foundation of Turkey (Türkiye İnsan Haklari Vakfi)
Citizens' Assembly Turkey (Yurttaşlik Derneği)
Amnesty International (Uluslararası Af Örgütü)

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Quelle:
Pressemitteilung vom 1. März 2019
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Kampagnen und Kommunikation
Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2019

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