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NAHOST/226: Türkei - Das Ende des Ausnahmezustands darf keine kosmetische Geste sein


Amnesty International - 19. Juli 2018

Türkei
Das Ende des Ausnahmezustands darf keine kosmetische Geste sein


Der Ausnahmezustand in der Türkei wurde am 18. Juli 2018 aufgehoben. Nach siebenmaliger Verlängerung und zwei Jahren Ausnahmezustand war dieser Schritt lange überfällig.

Wenn diese Entwicklung allerdings mehr als nur eine kosmetische Geste sein soll, müssen weitere dringende Maßnahmen ergriffen werden. Der Ausnahmezustand wurde dazu genutzt, weitreichende Regierungsbefugnisse zu stärken, Kritikerinnen und Kritiker zum Schweigen zu bringen und Menschen ihrer Grundrechte zu berauben.

In den vergangenen zwei Jahren häuften sich die Beweise für immer schlimmer werdende Menschenrechtsverletzungen: Angefangen bei willkürlichen Inhaftierungen über missbräuchliche Strafverfolgungen bis zur dauerhaften Schließung von Medienhäusern und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Viele der Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, werden auch nach dessen Ende in Kraft bleiben.

Immer wieder wurden in den vergangenen zwei Jahren Teile der Zivilgesellschaft wegen ihrer Aktivitäten ins Visier genommen. Sie ließen sich jedoch nicht unterkriegen, sondern leisteten Widerstand gegen die Angriffe auf die Menschenrechte. Menschenrechtsverteidigerinnen und - verteidiger, die sich für die Meinungsfreiheit einsetzen, Gewerkschaftlerinnen und Gewerkschaftler und Menschen, die Flüchtlinge unterstützen oder sich für Frauen-, Kinder- und LGBTI-Rechte stark machen, standen besonders unter Druck. Trotzdem setzten sie sich weiter für diejenigen ein, die unter dem harten Vorgehen der Regierung am meisten leiden. Viele von ihnen nahmen deswegen ein großes persönliches Risiko auf sich.

Ein Blick in die Zukunft

Die Aufhebung des Ausnahmezustands ist nur die erste auf einer langen Liste von Maßnahmen, die die neue Regierung ergreifen muss, wenn die Türkei wieder zur Normalität zurückkehren soll. Amnesty International fordert die folgenden fünf Maßnahmen, um die schlimmsten Auswirkungen der Menschenrechtseinschränkungen des zweijährigen Ausnahmezustands rückgängig zu machen.

• Alle Notmaßnahmen, die nicht nachweislich notwendig und verhältnismäßig sind, um die nationale und öffentliche Sicherheit zu gewährleisten oder die die Ausübung der Menschenrechte unverhältnismäßig einschränken, müssen aufgehoben werden.

• Taner K305;l305;ç und alle anderen inhaftierten Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger sowie Medienschaffende müssen umgehend freigelassen werden, genauso wie alle anderen Menschen, die aufgrund haltloser Vorwürfe inhaftiert wurden.

• Es muss gewährleistet sein, dass Menschen sich versammeln und ohne Angst friedlich protestieren können. Dazu gehört auch ein Ende der wiederholten Verbote von LGBTI-Veranstaltungen im ganzen Land.

• Die willkürlichen Entlassungen von Beschäftigten im öffentlichen Dienst müssen beendet werden - entgegen der Bestimmungen in dem neuen Gesetz, welches dem Parlament am 16. Juli 2018 vorgelegt wurde. Alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die während des Ausnahmezustands willkürlich entlassen wurden, sollen ihre vorherigen Positionen wiedererhalten und für jeglichen Schaden, der ihnen aus der Entlassung erwachsen ist, entschädigt werden - auch für den Verlust von Einkommen. In Fällen, in denen Beschäftigte oder ehemalige Beschäftigte begründet eines Verbrechens verdächtigt werden, oder wenn sie unter Verdacht des Fehlverhaltens während der Arbeit stehen, sollte deren Entlassung in einem regulären Disziplinarverfahren unter Einhaltung aller verfahrensrechtlichen Schutzmechanismen stattfinden.

• Menschenrechtsorganisationen und Medienhäuser, die willkürlich geschlossen wurden, müssen wiedereröffnen dürfen. Ihr konfisziertes Eigentum muss zurückgegeben werden.

Überblick

Der Ausnahmezustand wurde nach dem gewaltsamen Putschversuch am 15. Juli 2016, bei dem 240 Personen starben, ausgerufen. Er wurde dazu genutzt, die Menschenrechte massiv einzuschränken. Hunderttausende Menschen waren davon betroffen. Zwar ist es rechtmäßig, dass ein Staat die Bevölkerung in Zeiten schwerer öffentlicher Unruhe schützt und Straftäterinnen und Straftäter zur Verantwortung zieht. Es ist aber auch die Pflicht eines Staates, dies im Einklang mit seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen zu tun.

Seit dem Putschversuch von 2016 wurden Gesetze durch 32 rechtskräftige Notstandsdekrete der Regierung geändert. Es gab mehr als 300 Änderungen an über 150 verschiedenen Gesetzen. Viele der Änderungen wirken sich auf die Menschenrechte aus. Einige Maßnahmen schränken das Recht zur friedlichen Versammlung ein sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung, ein faires Gerichtsverfahren, einen wirksamen Rechtsbehelf und Arbeit. Zudem wurde Eigentum konfisziert. Die Maßnahmen wurden nicht wirksam durch das Parlament kontrolliert und bis heute nicht durch Gerichte geprüft. Die Regierung wurde also nicht von anderen Instanzen kontrolliert.


Überblick über einige der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen während des Ausnahmezustands
Willkürliche Inhaftierungen und missbräuchliche Strafverfolgung

Statistiken des Innenministeriums und des Justizministeriums zufolge wurden schätzungsweise über 150.000 Menschen während des Ausnahmezustands in Untersuchungshaft genommen.

Im Juli 2016 wurde die erlaubte Höchstdauer der Inhaftierung vor Anklageerhebung von vier Tagen auf 30 Tage angehoben, im Januar 2017 wurde sie wieder auf 14 Tage verkürzt. Sie betrifft Menschen, denen Verbrechen im Zusammenhang mit "Terrorismus", nationaler Sicherheit oder der verfassungsmäßigen Ordnung vorgeworfen werden. Die Höchstdauer wurde regelmäßig und willkürlich ausgenutzt. Im August 2017 wurde die Höchstdauer der Untersuchungshaft von fünf Jahren auf sieben Jahre angehoben.

Die Zahl der Inhaftierten, die auf ihre Strafverfolgung oder ihr Gerichtsverfahren warteten, wuchs von knapp über 26.000 im Juli 2016 auf über 70.000 im März 2018. Amnesty International hat viele Fälle untersucht, in denen Menschen in Untersuchungshaft genommen wurden, obwohl es keine glaubhaften Beweise für ihre Beteiligung an Verbrechen gab.

Statistiken der türkischen Regierung zufolge, die im neuesten Bericht der Europäischen Union über die Türkei von April 2018 (in englischer Sprache) zu finden sind, wurden über 78.000 Menschen unter den Terrorismus-Gesetzen inhaftiert. Von ihnen waren im Januar 2018 noch über 24.000 in Untersuchungshaft. Es wurden tausende Strafverfolgungen durchgeführt, weil Menschen friedlich ihr Recht auf Meinungsfreiheit ausgeübt haben. Dazu wurden unter anderem Gesetze genutzt, die Verleumdung verbieten, und konstruierte Vorwürfe im Zusammenhang mit "Terrorismus" erhoben.

Folter und andere Misshandlungen

Nach Ausruf des Ausnahmezustands - besonders in den Wochen nach dem Putschversuch im Juli 2016 - häuften sich die Berichte über Menschen, die vor allem in Polizeigewahrsam Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt waren. Die türkischen Behörden haben solche Vorwürfe laufend bestritten, anstatt wirksame Untersuchungen durchzuführen oder Maßnahmen zu ergreifen, um diese Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden.

Versammlungsverbote

In einigen Provinzen haben Gouverneurinnen und Gouverneurne Befugnisse durch den Ausnahmezustand dazu genutzt, Versammlungen und Veranstaltungen zu verbieten. Im November 2017 sprach beispielsweise der Gouverneur der Provinz Ankara ein Verbot gegen alle LGBTI-Veranstaltungen aus. Die Sichtbarkeit der lebendigen LGBTI-Community in Ankara und deren Recht auf friedliche Versammlung wurden drastisch eingeschränkt. Eine Ausnahme bildete die Pride-Parade der Studierenden der Technischen Universität des Nahen Ostens im Mai dieses Jahres, die trotz des Verbots stattfand.

Massenentlassungen

Während des Ausnahmezustands wurden mehr als 130.000 Beschäftigte aus allen Bereichen des öffentlichen Dienstes entlassen, davon 129.400 mittels Listen, die per Dekret veröffentlicht wurden. Dadurch fand keine individuelle Begründung der Fälle statt und es gab keine effektiven Möglichkeiten, die Entlassungen anzufechten. Nur 3.799 der Entlassungen wurden durch spätere Dekrete wieder aufgehoben.

Im Januar 2017 wurde eine Berufungskommission speziell für den Ausnahmezustand eingerichtet. Dies geschah als Reaktion auf nationale und internationale Kritik wegen der fehlenden Möglichkeit, Rechtsmittel gegen Entlassungen anzustrengen oder Ansprüche auf Entschädigung geltend zu machen. Am 17. Juli 2017 begann die Kommission, Anträge entgegenzunehmen - bis 22. Juni 2018 gingen 108.905 ein. Darunter befinden sich auch Anträge von Medienhäusern und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die durch Anordnungen per Dekret geschlossen worden waren. Bis Juni 2018 hatte die Kommission über 19.500 Fälle entschieden: In nur 1.300 Fällen hatte sie dem Einspruch stattgegeben, was weniger als sieben Prozent der bis dahin getroffenen Entscheidungen entspricht.

Falls ein neues Gesetz, welches am 16. Juli 2018 im Parlament eingereicht wurde, in Kraft tritt, wären willkürlichen Entlassungen ab dem Zeitpunkt der Annahme für weitere drei Jahre möglich.

Scharfes Vorgehen gegen das Recht auf Versammlungsfreiheit

Auch gegen die Zivilgesellschaft wird hart durchgegriffen. Mehr als 1.500 Vereinigungen, Stiftungen, Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen wurden per Dekret geschlossen. Eine individuelle Begründung blieb aus, auch gab es keine Möglichkeit, effektiv gegen die Entscheidung vorzugehen. Berichten zufolge wurden nur elf Organisationen wieder eröffnet, nachdem die Berufungskommission für den Ausnahmezustand zu dem Schluss gekommen war, dass keine ausreichenden Beweise vorlagen, die sie mit verbotenen Gruppen in Verbindung brachten.

Neben der Verletzung der Rechte auf Versammlungsfreiheit und auf Arbeit sowie der Beschlagnahmung von Eigentum hatten diese willkürlichen Schließungen auch Auswirkungen auf diejenigen, die auf die Unterstützung durch die betroffenen Organisationen angewiesen sind. Eine der größten NGOs für Kinderrechte, Gündem Çocuk, welche im November 2016 per Dekret geschlossen wurde, arbeitete beispielsweise zu Themen wie sexuellem Missbrauch von Kindern oder Todesfällen von Kindern an Schulen. Die Van Women's Association, eine von elf Frauenrechtsorganisationen, die im November 2016 mittels Dekret geschlossen wurden, war eine führende zivilgesellschaftliche Organisation zur Unterstützung von Frauen in abgelegenen Gemeinden. Ihr Arbeitsschwerpunkt lag auf dem Themenbereich häusliche Gewalt und Missbrauch von Mädchen. In der betroffenen Region widmet sich momentan niemand mehr dieser wichtigen Aufgabe.

Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung

Seit 2016 ist die Türkei das Land mit den meisten inhaftierten Journalistinnen und Journalisten weltweit: Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten und andere Medienschaffende warten im Gefängnis auf den Ausgang ihrer Prozesse. Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen unter den Antiterrorgesetzen haben auch zu Verurteilungen geführt. So wurden 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zeitung Cumhuriyet im April 2018 zu Haftstrafen zwischen zwei und acht Jahren verurteilt. Im Juli 2018 wurden sechs der elf Angeklagten, die für die inzwischen eingestellte Zeitung Zaman tätig waren, schuldig gesprochen und wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" zu Haftstrafen zwischen achteinhalb und zehneinhalb Jahren verurteilt.

Die Gefahr strafrechtlicher Ermittlungen oder langer Untersuchungshaft hatte eine abschreckende Wirkung auf die Medien: Heute gibt es nur noch wenige kleine Medienunternehmen, die alternative und abweichende Meinungen vertreten.

Der Angriff auf die Pressefreiheit umfasste auch die Schließung von mehr als 170 Medienhäusern, darunter sowohl Presse- und Rundfunkanbieter als auch Verlage. Mehr als 2.500 Journalistinnen und Journalisten und andere Medienschaffende verloren aufgrund der Schließungen ihren Arbeitsplatz. Als der letzte unabhängige Medienkonzern an ein Konglomerat verkauft wurde, das für seine engen Geschäftsbeziehungen mit der Regierung bekannt ist, wurde die türkische Medienlandschaft noch einheitlicher als zuvor.

Internationale Kritik

Die Forderungen, unter dem Ausnahmezustand getroffene Maßnahmen oder den Ausnahmezustand selbst zu beenden, wurden immer lauter. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) richtet in seinem Bericht zu den menschenrechtlichen Auswirkungen des Ausnahmezustands unter anderem folgende Forderungen an die Türkei: alle Rechtsvorschriften zu überprüfen und diejenigen aufzuheben, die mit ihren internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen nicht vereinbar sind; das Verbot für entlassene Beamtinnen und Beamten aufzuheben, in den Öffentlichen Dienst zurückzukehren, und sicherzustellen, dass diese das Recht haben, ihre Fälle durch eine unabhängige Rechts- und Verwaltungsbehörde prüfen zu lassen und eine Entschädigung zu erhalten; alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um für unabhängige Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen ein Umfeld zu schaffen, in dem diese sicher und frei ihrer Tätigkeit nachgehen können sowie Medienschaffende, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Richterinnen und Richter und Akademikerinnen und Akademiker sofort freizulassen, die auf der Grundlage von Antiterrorgesetzen und Notstandsverordnungen inhaftiert wurden.

Die Europäische Kommission ruft die Behörden in ihrem aktuellen Türkei- Bericht dazu auf, den Ausnahmezustand aufzuheben sowie die Unabhängigkeit und Rechenschaftspflicht der Justiz zu gewährleisten. Dazu gehöre die Beschränkung der Befugnisse und des Einflusses der Exekutive innerhalb des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte (CJP) sowie die Etablierung weiterer Schutzmechanismen gegen die Einflussnahme des CJP bei Gerichtsverfahren.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates empfahl in einer Resolution vom April 2018, dass die Türkei den Ausnahmezustand nach Ablauf der aktuellen Laufzeit beendet, die Ausnahmeregelung bezüglich der Europäischen Menschenrechtskonvention zurückzieht und nachfolgend zur Implementierung von zukünftigen Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit im Land normale Verfahren anwendet - in Übereinstimmung mit den Standards des Europarats einschließlich derer der Konvention.

Zwei Jahre Ausnahmezustand in der Türkei in Zahlen

Mehr als 70.000 Menschen warten zurzeit im Gefängnis auf ihre Anklage oder ihr Gerichtsverfahren.

Mehr als 170 Medienhäuser wurden geschlossen.

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten sind momentan inhaftiert.

Mehr als 360 Akademikerinnen und Akademiker werden wegen eines Friedensappells strafrechtlich verfolgt.

Mehr als 1.500 Organisationen und Stiftungen wurden geschlossen.

Mehr als 130.000 Beschäftigte im Öffentlichen Dienst wurden fristlos entlassen.

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Quelle:
Mitteilung vom 19. Juli 2018
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/tuerkei-das-ende-des-ausnahmezustands-darf-keine-kosmetische-geste-sein
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2018

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