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GRUNDSÄTZLICHES/304: Hacken für den guten Zweck (ai journal)


amnesty journal 08/09/2012 - Das Magazin für die Menschenrechte

Hacken für den guten Zweck

von Ralf Rebmann



Vom handgeschriebenen Brief zur Smartphone-App: Amnesty International hat ein Pilotprojekt gestartet, um Aktivisten und Menschenrechtler mithilfe digitaler Technologien zu unterstützen. Die Ideen dafür liefern die Aktivisten selbst.


Die Festnahme kam unerwartet. Amjad Baiazy befand sich bereits am Flughafen von Damaskus, als er dort am 12. Mai 2011 von syrischen Sicherheitskräften aufgegriffen wurde. Eigentlich wollte der 29-Jährige nach London zurückfliegen, wo der gebürtige Syrer lebt und studiert. Stattdessen wurde er angeklagt, weil er sich für zivilgesellschaftliche Organisationen eingesetzt hatte. Nach einem zwei Monate dauernden Alptraum in syrischer Haft kam er schließlich frei und konnte im August 2011 ausreisen. Im Gedächtnis geblieben sind ihm Folter und Misshandlung, das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Er teilt dies mit Dissidenten und Oppositionellen weltweit, die willkürlich von Sicherheitskräften entführt wurden oder einfach "verschwanden".

Für Amnesty International war dieses Szenario der Ausgangspunkt eines Pilotprojekts, um erstmals digitale Technologien in den Fokus der Menschenrechtsarbeit zu rücken. Können Blogs, Google Maps und Smartphone-Apps Menschen wie Amjad Baiazy helfen und damit einen Beitrag zur Menschenrechtsarbeit von Amnesty International leisten?

Owen Pringle ist davon überzeugt. Er leitet die Abteilung Digitale Kommunikation bei Amnesty International und ist zusammen mit seiner Kollegin Tanya O'Carroll für das Projekt verantwortlich. "Der Autor William Gibson sagte einmal: 'Die Zukunft ist bereits da, sie ist nur noch nicht gleichmäßig verteilt.' Neue Technologien helfen uns, dieses Ungleichgewicht zu beheben, weil sie neue Möglichkeiten der Mobilisation schaffen", so Owen Pringle. "Mit dem Projekt wollen wir herausfinden, wie wir sie für unsere Arbeit nutzen können." Dazu wurden zwei inhaltliche Schwerpunkte gesetzt: einerseits die willkürliche Inhaftierung von Aktivisten, andererseits die Situation von Migranten in Mexiko sowie Flüchtlingen in Nordafrika, die den gefährlichen Weg über das Mittelmeer wagen.

Jeder soll sich an dem Projekt beteiligen können. "Anstatt selbst eine Lösung vorzuschlagen, wollen wir Personen mit einbeziehen, die von dem Problem betroffen sind, um zusammen mit ihnen ein Konzept zu entwickeln", so Owen Pringle.

Eine gute Gelegenheit dafür bieten sogenannte Hackathons. Diese Events, so schrieb jüngst das Technologie-Magazin "Wired", hätten sich als "neue Foren" der Vernetzung und des Wissensaustauschs herausgebildet. Die Idee: Die Teilnehmer eines Hackathons, Aktivisten, Software-Entwickler und Webdesigner kommen für mehrere Tage zusammen, um im Wettbewerb an der Lösung für ein bestimmtes Problem zu arbeiten.

Amnesty International nahm erstmals im Februar 2012 an einem Hackathon teil. Organisiert wurde er von der Design- und Innovationsfirma IDEO in London. Das Besondere daran: Zuvor war die Internetgemeinschaft aufgerufen worden, ihre Ideen für folgende Fragestellung einzureichen: "Wie kann Technologie Personen unterstützen, die in ihrem Einsatz für die Menschenrechte von willkürlicher Inhaftierung bedroht sind?" Über 320 Vorschläge kamen zusammen. Eine Jury wählte acht davon aus, die dann in London präsentiert wurden.

Auch Amjad Baiazy war gekommen. Sein Konzept einer interaktiven Website hatte die Jury überzeugt. "Nachdem ich in Damaskus festgenommen wurde, musste ich sofort an meine Freunde und meine Familie denken", so der Aktivist, "in einer solchen Situation kann man nichts für sich selbst tun. Deshalb sollte die Aufmerksamkeit zunächst bei den Freunden und Angehörigen liegen". Ihnen solle die Website Hilfestellung geben:

Welche Organisationen können kontaktiert werden? Ist es sinnvoll, den Fall über soziale Netzwerke zu kommunizieren? Welche Erfahrungen haben andere Aktivisten gemacht? "Die Seite kann auch als eine Art psychologische Stütze für Personen dienen, die befürchten müssen, irgendwann inhaftiert zu werden", so Amjad Baiazy.

Sein Konzept wurde auch ausgewählt, weil es ohne größere Schwierigkeiten zu realisieren ist. "Bei einigen Vorschlägen ging es darum, eine Art Sender zu bauen, den die Personen mit sich tragen und im Notfall auslösen", so Owen Pringle. "Eine brillante Idee, die aber aus finanzieller Sicht nicht umzusetzen ist." Ein Hauptziel des Projektes sei es, die "Dokumentation und Verbreitung von Information" zu ermöglichen und somit die Menschenrechtsbewegung als Ganzes zu stärken.

Auch anderswo gibt es Versuche, digitale Hilfsmittel für einen guten Zweck einzusetzen: Die Organisation Witness hat sich auf Videos spezialisiert, um Menschenrechtsverletzungen publik zu machen. Derzeit arbeitet die Organisation an der Smartphone-App "Obscura Cam", die sogar die visuelle Anonymisierung von Gesichtern im Video ermöglichen soll. Bei der Frage, wie Berichte von Augenzeugen im Internet übersichtlich dargestellt werden können, hat die kenianische Organisation Ushahidi, auf deutsch "Zeuge", Pionierarbeit geleistet. Eine gleichnamige Online-Plattform wurde 2008 gegründet, nachdem es bei den Wahlen in Kenia zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen war. Personen konnten ihre Augenzeugenberichte via SMS oder Internetverbindung in Echtzeit auf einer Google Map platzieren. Das Konzept wurde inzwischen von zahlreichen anderen Initiativen adaptiert und eingesetzt: In Burundi, Mexiko und Kirgisistan wurde damit über Wahlfälschung berichtet, in Bangladesch dokumentiert "Bijoya" Übergriffe auf Frauen, in Nigeria werden mit dem "Nigeria Security Tracker" Straftaten öffentlich gemacht. Die US-Sektion von Amnesty International verfolgt mit "Eyes on Syria" ein ähnliches Projekt und der "LRA Crisis Tracker" dokumentiert bereits seit 2009 Übergriffe und Gewalttaten der kongolesischen Lord's Resistance Army.

So zahlreich die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung sind, so zahlreich sind auch deren Risiken. "Das Wichtigste ist die Sicherheit", sagt Sherif Elsayed-Ali, Leiter der Abteilung Flüchtlinge und Migranten bei Amnesty International. "Gefährdete Personen dürfen durch die Nutzung digitaler Technologien nicht in noch größere Gefahr gebracht werden, weil sie dadurch identifiziert oder gefunden werden könnten." Für Amnesty stehe deshalb die Datensicherheit und Anonymität von Aktivisten und Menschenrechtlern an oberster Stelle. Dies war auch die Herausforderung bei einem weiteren Hackathon, der im Juni 2012 in Berlin, San Francisco und anderen Städten stattfand und von der Initiative Random Hacks of Kindness (RHoK) organisiert wurde. Die Teilnehmer waren kreativ. In Berlin konzipierten sie "Amnesty SOS": Eine auf Ushahidi basierte Plattform soll Bootsflüchtlingen im Mittelmeer die Möglichkeit geben, Notrufe über SMS-Nachrichten abzusetzen. In San Francisco wurde das Konzept eines Online-Netzwerks entwickelt, das es Migranten ermöglichen soll, an verschiedenen Stationen der Reise Angehörigen und Freunden eine Überlebensnachricht zu schicken. Die weitere Entwicklung und Arbeit an den Konzepten wird zeigen, ob sie am Ende tatsächlich umgesetzt werden können. Noch in diesem Jahr möchte Amnesty International die ersten Prototypen unter realen Bedingungen testen.

Amjad Baiazys Konzept steht kurz vor der Fertigstellung. Es trägt inzwischen den Namen "Protect Yourself" (Schütze Dich) und hat eine weitere Funktion erhalten: Informationen, die in Form von Checklisten den gefährdeten Personen oder den Angehörigen zur Verfügung stehen, können nun auch auf Mobiltelefonen angezeigt und einfach weiterverbreitet werden. Damit ermöglicht "Protect Yourself" nicht nur, dass jeder von den Erfahrungen anderer Aktivisten profitieren kann. Es sorgt auch dafür, dass Menschen wie Amjad Baiazy nicht umsonst in Haft gelitten haben.



Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals in Berlin.

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Quelle:
amnesty journal, August/September 2012, S. 56-57
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2012