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GRUNDSÄTZLICHES/283: "Soziale Rechte sind essentiell" (ai journal)


amnesty journal 10/11/2009 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Soziale Rechte sind essentiell"

Gespräch zwischen Günter Nooke und Monika Lüke


Die Menschenrechte sind unteilbar. Doch ist es tatsächlich realistisch, allen Rechten die gleiche Priorität einzuräumen? Oder geht die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zu Lasten der klassischen Freiheitsrechte? Werden die wirtschaftlichen und sozialen Rechte sogar von autoritären Regimen instrumentalisiert, um sich zu legitimieren? Ein Gespräch zwischen Monika Lüke, Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, und Günter Nooke, Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung.


NOOKE: Ich will nicht die wirtschaftlichen und sozialen Rechte gegen klassische Freiheitsrechte ausspielen. Mein Problem ist, dass wir in der letzten Zeit eine zu starke Fixierung auf die so genannte dritte Generation von kollektiven Menschenrechten haben. Da geht es um Klimaschutz, um Entwicklungszusammenarbeit - diese Themen müssen nicht im UNO-Menschenrechtsrat diskutiert werden. Aber über politische Gefangene, Meinungs-, Presse-, Versammlungs- oder Glaubensfreiheit kann nur dort gesprochen werden.

LÜKE: Menschenrechte sind ja nicht nur Schutz vor staatlicher Willkür, sondern decken auch die essentiellen zum Überleben wichtigen menschenrechtlichen Grundbedürfnisse. Auch diese Menschenrechte müssen umgesetzt werden und können eingeklagt werden. Beispielsweise das Recht auf Wohnen.

NOOKE: Voll einverstanden. Problematisch ist, die Einklagbarkeit von sozialen Rechten ebenso eindeutig zu formulieren, wie wir das zum Beispiel bei den bürgerlichen oder politischen Rechten tun.

LÜKE: Für Amnesty sind die Menschenrechte unteilbar. Die bürgerlichen und politischen Menschenrechte, beispielsweise das Folterverbot und die Pressefreiheit, sind genauso wichtig wie das Recht, die Grundschule besuchen zu dürfen, und das Recht auf Wohnen.

NOOKE: Ganz klar, Menschenrechte sind unteilbar und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. In den Ostblockstaaten wurde früher ja immer gesagt, die Freiheitsrechte sind nicht so wichtig, wenn die Leute genug zu essen und Arbeit haben. Aber Unteilbarkeit bedeutet ja nicht automatisch, dass alle Menschenrechte deshalb gleich wichtig sind.

LÜKE: Das bestreite ich.

NOOKE: Wenn man die Perspektive der Betroffenen einnimmt, dann hat für mich das absolute Folterverbot oder das Sklavereiverbot eine andere Priorität als das Recht auf bezahlten Urlaub. Und beides steht in verschiedenen Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wir haben nur 24 Stunden am Tag Zeit. Und ich muss Prioritäten setzen in der Politik, also kümmere ich mich darum, was mir besonders wichtig erscheint.

LÜKE: Gerade das Beispiel Meinungsfreiheit zeigt, dass die sozialen und die klassischen Menschenrechte gleich wichtig und unteilbar sind. Meinungsfreiheit können Sie nur ausüben, wenn Sie die Chance auf Bildung haben. Der Pakt über wirtschaftliche und soziale Rechte beinhaltet auch das Recht auf faire Arbeitsbedingungen und die Freiheit, Gewerkschaften zu bilden. Die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit sind hingegen im Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthalten. Das zeigt klar, wie die unterschiedlichen Menschenrechte zusammengehören und dass die Qualifikation eines Menschenrechts als wirtschaftlich und sozial oder bürgerlich-politisch nicht stimmig ist.

NOOKE: Natürlich ist niemandem geholfen, wenn er auf dem Weg zur Wahlurne verhungert. Soziale Rechte sind essentiell und in gewissen Sinne auch Freiheitsrechte, weil sie die Inanspruchnahme von anderen Rechten ermöglichen. Ich habe nur gefragt, ob das Recht auf bezahlten Urlaub gleich gewichtig ist wie das absolute Folterverbot. Und wir müssen aufpassen, dass wir nicht einen Menschenrechtsdiskurs unter Experten führen. Unter dem Recht auf Arbeit verstehen die meisten Bürger die Einklagbarkeit des Arbeitsplatzes. Wenn man die sozialen Rechte wie Grundrechte einklagbar macht, wird es kompliziert. Der soziale Standard in Deutschland ist beim Recht auf Nahrung ein anderer als beispielsweise in Mali. Wie will man das vergleichen?

LÜKE: Das ist ein Missverständnis, denn die sozialen Rechte sind nicht unpräzise. Beispielsweise das Recht auf Wasser: Es verpflichtet die Staaten, sich zügig und effektiv dafür einzusetzen, dass alle Menschen ausreichenden Zugang haben zu Trinkwasser in adäquater Qualität. Das heißt nicht, dass beispielsweise Kenia dieses Recht sofort umsetzen muss, das wäre unrealistisch. Vielmehr muss Kenia nachweisen, dass die Regierung darauf hinarbeitet. Daraus resultieren zwei Verpflichtungen: Die Regierung muss zuerst die Menschen versorgen, die gar keinen Zugang haben. Und sie darf nicht diskriminieren, also bestimmte soziale, ethnische oder religiöse Gruppen bewusst vernachlässigen. Wenn die Regierung dazu nicht in der Lage ist, dann muss sie um Hilfe nachsuchen, zum Beispiel bei der UNO. Für das Recht auf Nahrung gilt das gleiche. Das hat sogar in Indien 2001 der Oberste Gerichtshof anerkannt. Damals gab es in ländlichen Gebieten eine Dürre und der Oberste Gerichtshof hatte die indische Regierung verpflichtet, die staatlichen Getreidespeicher zu öffnen.

NOOKE: Hier geht es aber nicht nur um das Verbot von Diskriminierung, sondern um einen Anspruch, den jede Bürgerin und jeder Bürger als Recht gegenüber dem Staat hat.

LÜKE: Die Menschen haben das Recht, dass der Staat politisch darauf hinarbeitet.

NOOKE: Damit interpretieren Sie die Verpflichtung, bestimmte Staatsziele zu verfolgen.

LÜKE: Nein. Genau das steht im Pakt über wirtschaftliche und soziale Menschenrechte. Die Menschen können demnach einklagen, dass der Staat eine Politik verfolgt, die darauf ausgerichtet ist, den Ärmsten - Stichwort Nichtdiskriminierung - einen Zugang zu Wasser zu verschaffen, oder einen Zugang zu Nahrung.

NOOKE: Deutschland setzt sich mit eigenen Resolutionen für das Recht auf Wasser, für das Recht auf Wohnen ein. Das Problem ist aber, dass im Grunde die klassischen Menschenrechte völlig untergehen. Bei den Debatten im UNO-Menschenrechtsrat oder in der Vollversammlung ging es in den vergangenen Jahren sehr oft um soziale und Kollektivrechte, aber nur sehr selten um klassische Menschenrechte. Diktaturen und autoritäre Regime nutzen die Debatten über solche Rechte, um von anderen Menschenrechtsthemen abzulenken. Ich erinnere gern an den Gründungsimpetus von Amnesty, sich für politische Häftlinge einzusetzen. Die westlichen Staaten haben keine Mehrheit in den Vereinten Nationen. Und die Mehrheit in der UNO will sich nicht mit Menschenrechtsthemen beschäftigen. Die Grundidee universal geltender Menschenrechte rutscht uns weg. Und da sind wir uns ja einig, dass wir das gemeinsam in der Zivilgesellschaft und in der Regierung verteidigen wollen.

LÜKE: Amnesty kümmert sich mit unvermindertem Engagement um Gefangene, das zeigt ja zum Beispiel die Situation im Iran. Wir haben Demos organisiert, wir haben uns in Gesprächen für politische Gefangene und für verhaftete Rechtsanwälte eingesetzt. Wir haben Einzelschicksale von Menschen, die in Gefängnissen gefoltert wurden, öffentlich gemacht. Die Tatsache, dass wir nun Armut und Menschenrechte diskutieren, hängt damit zusammen, dass tatsächlich arme Menschen besonders gefährdet sind, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden. Zwangsräumungen sind ein gutes Beispiel: Das Recht auf Wohnen ist geschützt, auch die Bundesregierung setzt sich dafür ein. In der Welt leben eine Milliarde Menschen in Slums, und davon sind fast 900 Millionen Menschen arm nach unserer Definition. Diese Räumungen finden typischerweise in Kambodscha, in Angola oder Nigeria statt. Allein in Kambodscha sind 150.000 Menschen akut davon bedroht. Deshalb beschäftigen wir uns mit dem Thema Armut und Menschenrechte, ohne uns auf die wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu fokussieren. Tatsache ist, dass wir uns weiterhin für Menschenrechtsverletzungen einsetzen, egal welches Recht sie betreffen, und versuchen, sie öffentlich zu machen und sie zu stoppen.

NOOKE: Natürlich wäre meine Arbeit ohne das Engagement von großen Menschenrechtsorganisationen nicht denkbar. Ich befürchte nur, dass es zu Missverständnissen kommt. Die Debatte um soziale Rechte könnte auch so verstanden werden: Jetzt beschäftigt sich auch Amnesty nur noch mit Armut, und um die politischen Gefangenen kümmert sich niemand mehr. Das möchte ich verhindern.

LÜKE: Und deswegen ist es für uns sehr wichtig, klarzustellen, dass die Unteilbarkeit der Menschenrechte heißt: Wir setzen uns für politische Gefangene im Iran ein, wir kümmern uns darum, dass in Ägypten nicht gefoltert wird, wir sind dafür, dass in den USA auch Terrorverdächtige ein Recht auf ein faires Verfahren erhalten. Aber wir sind auch gegen Zwangsräumungen in Kambodscha.


Moderation: Bernd Pickert

Günter Nooke
Der diplomierte Physiker gehörte Ende der achtziger Jahre zu den Mitbegründern des Demokratischen Aufbruchs in der ehemaligen DDR und trat später der CDU bei. Er war von 1998 bis 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags und wurde 2006 zum Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe ernannt.

Monika Lüke
Die promovierte Völkerrechtlerin ist seit Juli 2009 Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. Zuvor war sie für die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) tätig, für die sie in Asien Menschenrechtsprojekte betreute. Bevor sie 2005 zur GTZ wechselte, vertrat und koordinierte Lüke die Migrations- und Flüchtlingspolitik der Evangelischen Kirche.


Was sind wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte?

Allen Menschen stehen die grundlegenden Rechte zu, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 festgehalten sind. Im Pakt zu den bürgerlichen und politischen Rechten (Bürgerrechtspakt, Pakt I) und im Pakt zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten (Sozialpakt, Pakt II) werden diese Rechte konkretisiert. Die beiden Pakte traten 1976 in Kraft und sind für alle Staaten rechtsverbindlich. Die Teilung der Menschenrechte in zwei Pakte war Folge der ideologischen Konflikte während des Kalten Krieges. Erst bei der Wiener UNO-Menschenrechtskonferenz von 1993 wurde die Trennung überwunden und die Unteilbarkeit der Menschenrechte festgehalten: "Alle Menschenrechte sind allgemein gültig, unteilbar, bedingen einander und bilden einen Sinneszusammenhang." Kollektivrechte oder Rechte der so genannten dritten Generation, wie zum Beispiel das Recht auf eine intakte Umwelt, Entwicklung oder Frieden, sind umstritten und völkerrechtlich nicht verbindlich geregelt.


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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2009, S. 54-56
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2009