Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

GRUNDSÄTZLICHES/274: Texte zum Internationalen Frauentag 2009


Presseinformation - Februar 2009

Zum Internationalen Frauentag 2009:

- Abschied vom Gehorsam von Ali al-Nasani
- Vier Kurztexte über mutige Frauen weltweit
   1. Indonesien: Mit dem Koran für Frauenrechte
   2. Jordanien: Rastlose Reporterin
   3. Pakistan: Die Schuld, eine Frau zu sein
   4. Nigeria: Gegen alle Widerstände
- Interview - "Viele Männer halten es für selbstverständlich, das Leben ihrer Frauen zu kontrollieren"
   Ein Gespräch mit Carsten Jürgensen, Irak-Experte von Amnesty International in London
- Südafrika: Frauen im Teufelskreis von Gewalt und HIV
- Zum Internationalen Frauentag 2009:
   Die Wüste rockt


Abschied vom Gehorsam

Von Ali al-Nasani

Frauenbewegungen in islamischen Ländern engagieren sich für gleiche Rechte und gegen strukturelle Gewalt im privaten und öffentlichen Raum. Damit sind sie von den Zielen westlicher Frauenbewegungen gar nicht weit entfernt.


Als ich zum ersten Mal über die Befreiung der Frauen im Islam gesprochen habe, dauerte es nur wenige Wochen, bis ich die ersten Todesdrohungen erhielt.« Für Ayesha Imam, Gründerin der nigerianischen Organisation »BAOBAB für Frauenrechte«, war das politische Engagement immer auch mit persönlichem Risiko verbunden. »Unsere Vision ist es, Frauenrechte sowohl im zivilen als auch im religiösen Recht zu verteidigen.« Dieses Ziel ist nicht einfach zu erreichen im mit Abstand bevölkerungsreichsten Land Afrikas, dessen Nordhälfte muslimisch dominiert ist.

Dennoch gibt es hier eine Vielzahl sehr aktiver Frauenorganisationen. So versorgt beispielsweise die 1982 gegründete »Country Women Association« landesweit über 720 Kooperativen mit Mikrokrediten und technischer Hilfe, um Frauen in ländlichen Regionen ökonomisch zu unterstützen. Die ebenfalls 1982 gegründete Nichtregierungsorganisation »Help Women in Distress« setzt sich für arme und benachteiligte Frauen ein, betreibt Bildungs- und Gesundheitsprogramme, macht Lobbyarbeit und unterhält Frauenhäuser. Für Ayesha Imam ist Bildung der Schlüssel zur Verwirklichung von Frauenrechten: »Es ist deutlich, dass viele Frauen nur deswegen keinen Zugang zur Justiz haben, weil sie ihre Rechte nicht kennen.«

Ein Blick in den Nahen und Mittleren Osten macht die schwierige Lage der dortigen Frauen klar. »Seit 40 Jahren kämpfen wir für die Rechte der Frauen, doch nichts hat sich geändert«, erklärt Massouma Al-Mubarak, Professorin für politische Wissenschaft in Kuwait und aktive Menschenrechtlerin. Der »Arab Human Development Report 2005« sieht in der strukturellen Diskriminierung von Frauen eine wesentliche Ursache für die gesellschaftlichen und politischen Probleme der arabischen Länder.

Daher wird in dem Bericht gefordert, den sozialen Status von Frauen zu verbessern und Diskriminierung sowohl formal als auch in der Rechtspraxis abzubauen. In den Verfassungen arabischer Staaten gibt es zwar in der Regel ein Bekenntnis zu Demokratie, Gewaltenteilung, bürgerlichen und politischen Rechten oder Gleichheit vor dem Gesetz.

Doch trotz dieser Bekenntnisse zur Gleichberechtigung finden sich im Familien- und Erbrecht diskriminierende Vorschriften wieder, die Frauen in Fragen von Eheschließung und Scheidung oder bei der Erbfolge benachteiligen.

Bei ihrem Kampf um mehr Rechte verbitten sich die Aktivistinnen der Frauenorganisationen falsche Unterstützung aus westlichen Ländern. »Es ist nicht wichtig, was der Westen will«, sagt Massouma Al-Mubarak, »wichtig ist, dass die Menschen in der Region mehr Demokratie und Freiheiten haben wollen.« So richteten Frauenorganisationen aus 13 arabischen Ländern einen symbolischen »Ständigen Gerichtshof zur Abschaffung der Gewalt gegen Frauen« ein. Damit wollen sie Gewalt gegen Frauen öffentlich machen, Schutz und Unterstützung bieten und notwendige Gesetzesänderungen zum Schutz von Frauen erreichen.

Eine positive Ausnahme innerhalb der arabischen Welt stellt Marokko dar. Das Land unternahm einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen, als es 2004 ein neues Personenstandsgesetz verabschiedete. Damit gehören die marokkanischen Frauen zu den emanzipiertesten der arabischen Welt. Die Gehorsamspflicht der Frau gegenüber dem Mann wurde abgeschafft und die Verantwortung für Haushalt und Familie gleichberechtigt auf beide Elternteile übertragen. Das Heiratsalter wurde auf 18 Jahre festgesetzt, und Männer und Frauen haben gleichermaßen das Recht auf Scheidung. Interessanterweise wurden diese Änderungen mit dem Islam begründet, sodass selbst die islamischen Konservativen diesem Gesetz zustimmten. Es waren Organisationen wie das »Komitee der Berber-Frauen« oder die »Vereinigung Amal für Frauen und Entwicklung«, die durch ihre jahrelange Arbeit diese Gesetzesänderung möglich gemacht hatten.

Doch sollte der Blick auf den Nahen Osten nicht die Tatsache verschleiern, dass weltweit nur 18 Prozent der Muslime arabischer Herkunft sind. In den bevölkerungsreichen islamischen Ländern Südostasiens hat der Islam vielfach nicht die radikale Ausprägung, wie beispielsweise in den Golfstaaten.

Wer die Nachricht hört, dass sich in einer fairen und demokratischen Wahl die Vorsitzende der linksliberalen Partei mit deutlicher Mehrheit gegen ihre Rivalin von den Konservativen durchgesetzt hat, wird nicht unbedingt an ein islamisches Land denken. Die Vorstellung, dass Frauen in islamischen Ländern Politik gestalten und die Regierung bilden, erscheint vielen abwegig. Dennoch ist genau dieser Umstand im vergangenen Dezember in Bangladesch eingetreten: Bei den ersten freien Wahlen nach dem Ende der Militärregierung setzte sich Sheik Hasina von der Awami-League mit deutlicher Mehrheit gegen ihre Widersacherin Khaleda Zia von der konservativ-religiösen Allianz der Bangladesh Nationalist Party durch. Damit wird Bangladesch noch keineswegs zur islamischen Vorzeigedemokratie, in der die Rechte der Frauen respektiert werden. Dennoch ist das Wahlergebnis eine deutliche Absage an islamistische Kräfte und gleichzeitig ein Signal, dass sich auch in einem islamischen Land politische Macht und Frauenengagement nicht widersprechen müssen.

In Indonesien, dem bevölkerungsreichsten islamischen Land der Erde, breitete sich hingegen in den vergangenen Jahren ein fundamentalistisches Verständnis des Islam aus. Im Gleichklang von Religion, Tradition und Rechtsordnung ist derzeit eine Verschiebung hin zur Religion zu beobachten. Dagegen engagiert sich die Frauenorganisation »Rahima«, die sich als islamisch versteht und sich gerade deswegen für Demokratie und Gleichberechtigung der Frauen stark macht. Sie ist Teil eines Netzwerkes indonesischer NGOs. Bei Rahima arbeiten auch Männer mit, die sich ebenso gegen Ehen von Minderjährigen sowie für Bildung und Gleichberechtigung einsetzen. In Malaysia wiederum kämpft Irene Fernandez mit ihrer regierungsunabhängigen Organisation »Tenaganita« für die Rechte von Wanderarbeiterinnen.

Doch allein durch Gesetze wird eine soziale Realität nicht geändert. Eine Vielzahl islamischer Staaten hat internationale Verträge zum Schutz von Frauen unterschrieben, doch halten sie sich nicht daran oder verstoßen in ihrer nationalen Rechtsprechung sogar explizit dagegen. Amnesty International stellt fest, dass überall dort, wo Frauen strukturell unterdrückt und diskriminiert werden, der Staat die Schuld trägt. Denn ihm kommt die Aufgabe zu, auf legislativer, exekutiver und judikativer Ebene die Diskriminierung von Frauen zu beseitigen. Daher fordert Amnesty International die offizielle Verurteilung und das Verbot jeder Gewalt gegen Frauen. Die Bereitstellung angemessener Rechtsmittel sowie der Schutz vor Misshandlung sind ebenso staatliche Aufgaben wie der wirksame Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen.

Auch die Türkei kann auf eine lange Tradition der Frauenbewegungen zurückblicken. Frauen sind dort politisch aktiv und bilden NGOs, gründen Zeitungen, organisieren Kampagnen und kämpfen gegen Diskriminierung. Dabei kommt ihnen zugute, dass die türkische Verfassung ausdrücklich die Trennung von Religion und Staat einerseits sowie die Gleichheit der Geschlechter andererseits festschreibt.

Das heißt allerdings nicht, dass Frauen im Alltag gleiche Rechte eingeräumt werden. Die Frauen-NGOs arbeiten jedoch beständig daran, die Lücke zwischen den formalen Rechten und der gesellschaftlichen Realität zu schließen. So wurde auf Druck von Frauenorganisationen 2002 das Zivilrecht reformiert und Frauen gleichberechtigte Befugnisse bei Familienentscheidungen wie Wohnort oder Schulwahl der Kinder eingeräumt. Gleichzeitig wurden Kinder-Ehen verboten und das Heiratsalter heraufgesetzt. Drei Jahre später wurden im neuen Strafgesetzbuch häusliche Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. Sexuelle Gewalt wird nun härter als vorher bestraft. Ehrenmorde werden nicht mehr als strafmildernd behandelt, sondern gelten im Gegenteil als strafverschärfend. All diese Änderungen wären nicht ohne die vielen Frauen-NGOs, türkische wie kurdische, säkulare wie islamische, möglich gewesen.

Frauenbewegungen in islamischen Ländern engagieren sich für gleiche Rechte bei Eheschließung und Scheidung, für Zugang zu Bildung und Arbeit, gegen strukturelle und physische Gewalt im privaten und öffentlichen Raum. Damit sind sie von den Zielen der westlichen Frauenbewegungen nicht sehr weit entfernt.


Der Autor ist Referent für Lobbyarbeit und internationale Kommunikation der deutschen Sektion von Amnesty International.

Raute

Vier Kurztexte über mutige Frauen weltweit


1. Indonesien: Mit dem Koran für Frauenrechte

Das Land mit der weltweit größten muslimischen Bevölkerung war lange Zeit bekannt dafür, gegenüber anderen Religionen traditionell offen und tolerant zu sein. Doch besonders seit dem 11. September 2001 gewannen auch hier fundamentalistische Kräfte immer mehr Einfluss und setzten eine strengere Auslegung des Korans durch. Auf kommunaler Ebene gelten mittlerweile vielerorts Teile der Scharia. Die meisten dieser Regelungen zielen auf Frauen ab. Sie werden in einigen Regionen wegen angeblich zu freizügiger Kleidung von so genannten Sittenwächtern schikaniert.

Der wachsende konservative Einfluss bleibt aber nicht unwidersprochen. Moderate Muslime und Menschenrechtsgruppen formierten sich zu einer neuen Opposition, zu der auch die Frauenorganisation Rahima gehört. Die im Jahr 2000 gegründete NGO kämpft gegen patriarchale Strukturen, gegen Polygamie und Gewalt in der Ehe. Die Mitglieder der Initiative protestieren dabei nicht gegen den Islam als Religion, sondern kritisieren, dass Fundamentalisten den Koran falsch auslegen und instrumentalisieren. Sie bauten in den ländlichen Gebieten ein Netzwerk von Islamschulen auf, in denen sie Gleichberechtigung und demokratische Ideen lehren. Die frauendiskriminierenden Forderungen der Islamisten entkräftigt Rahima mit Suren aus dem Koran, die die Frauenrechte betonen. Unterstützung bekommt die Organisation auch aus dem akademischen Umfeld. Die Islamgelehrte Musdah Mulia der Syarif Hidayatullah Universität in Jakarta kritisiert z.B. das 2008 erlassene Anti-Pornografie-Gesetz, das auf der Scharia fußt. Es beruhe auf einem frauenfeindlichen Verständnis der religiösen Lehren, da es den weiblichen Körper als »böse« und die Frauen als »Rückgrat der Moral« Indonesiens ansehe.

Schon 2004 legte Mulia zusammen mit Kollegen eine eigene Auslegung des islamischen Rechts vor. Ein Jahr später verbot ihr das Religionsministerium, »ihre Gedanken zu verbreiten«. Die Dozentin setzt sich jedoch nicht nur für Frauenrechte ein, sondern auch für die Rechte von Homosexuellen oder Angehörigen religiöser Minderheiten. Für ihren Einsatz wurde sie im Dezember 2008 mit dem Yap Thiam Hien Award, dem Menschenrechtspreis der NGO Human Rights Study Center, geehrt.


*


2. Jordanien: Rastlose Reporterin

Eines der ersten Frauenhäuser der arabischen Welt gibt es seit 2007 in Jordanien. Im »Haus der Versöhnung« können Frauen und Mädchen, die vor sexueller Gewalt und Verfolgung durch Familienangehörige Schutz suchen, erst einmal aufatmen. Dass es eine solche Einrichtung gibt, dass Themen wie »Mord im Namen der Familienehre« und familiäre Gewalt in der jordanischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden, ist vor allem der Berichterstattung von Rana Husseini - Menschenrechtsverteidigerin, Feministin, Journalistin und Gerichtsreporterin der englischsprachigen »Jordan Times« - zu verdanken. Mit der konsequenten Veröffentlichung ihrer oft drastisch dargestellten Fallgeschichten gelang es der Preisträgerin des »Human Rights Watch Awards 2000« seit Ende der neunziger Jahre, Frauen- und Menschenrechtsorganisationen und sogar das Königshaus für diese bisher tabuisierten Themen zu interessieren und zu mobilisieren. Sie hat erreicht, dass inzwischen auch in den arabischsprachigen Medien über »Ehrenmorde« und Gewalt in der Familie berichtet wird und König Abdullah II. sich öffentlich hinter ihre Forderungen gestellt hat. Trotz aller Erfolge liegt noch ein weiter Weg vor Rana Husseini und ihren Mitstreiterinnen. Bis heute hat das jordanische Parlament alle Anträge auf Abschaffung oder zumindest auf Abschwächung der Paragrafen 340 und 98 abgeschmettert - die Paragrafen erlauben es, das Strafmaß bei »Ehrenmorden« auf ein Minimum zu reduzieren. Das im Januar 2008 vom Parlament verabschiedete Gesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie gewährt zwar den Opfern Entschädigung, versäumt es aber, die Tat als kriminelle Handlung zu definieren. Daher »müssen wir all jene Gesetze ändern, die Frauen diskriminieren, im Strafrecht, im Zivil- und im Arbeitsrecht«, meint Husseini. »Stereotype Darstellungen von Frauen in den Schulbüchern müssen verschwinden, und familiäre Gewalt an Frauen muss geächtet werden.« Und es sind nicht nur Gesetze, die Veränderungen schaffen: »Ein Gesetz ist nicht die Lösung. Wir brauchen mehr Aufklärung und mehr Berichterstattung. Ich ermutige alle, ihr Engagement für eine veränderte Wahrnehmung dieser Menschenrechtsverletzungen bis zum Erfolg fortzusetzen - eine Alternative dazu gibt es nicht.«


*


3. Pakistan: Die Schuld, eine Frau zu sein

Mukhtaran Mai war 30 Jahre alt, als sie im Juni 2002 in Pakistan vom Ältestenrat ihres Dorfes dazu verurteilt wurde, von vier Männern vergewaltigt zu werden. Sie wurde bestraft, weil ihr damals zwölfjähriger Bruder angeblich die Ehre einer einflussreichen und sozial höher stehenden Familie verletzt hatte. Derart angeordnete Gruppenvergewaltigungen sind in Pakistan kein Einzelfall. Meist werden sie jedoch stillschweigend hingenommen und gelangen nie an die Öffentlichkeit.

Mukhtaran Mai, die aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen stammt und weder lesen noch schreiben konnte, hat die ihr zugewiesene Opferrolle nicht angenommen. Anstatt sich umzubringen oder sich still in die soziale Ächtung zu fügen, wie es in solchen Fällen von den Frauen erwartet wird, wehrte sie sich - öffentlich und rechtlich. Sie brachte die Täter vor Gericht. Ihr Fall wurde national und international bekannt. Sie blieb trotz Drohungen in ihrem Dorf wohnen und von der Entschädigung, die sie vom Staat erhielt, baute sie zwei Schulen und gründete eine Frauenhilfsorganisation. Sie will etwas verändern: »Nur Bildung kann verhindern, dass so etwas passiert«, sagt sie und meint die tägliche Gewalt gegen Frauen und Kinder in Pakistan.

Pakistan gehört zu den Ländern mit der höchsten Analphabetenrate weltweit. Rund 30 Prozent der Männer und sogar 73 Prozent der Frauen können nicht lesen und schreiben. Bildung wird besonders bei den ländlichen Bevölkerungsgruppen als Luxus gesehen, denn die Kinder müssen schon früh zu Hause mitarbeiten. Viele Eltern können sich die Schulgebühren nicht leisten. Mit fatalen Folgen: Menschen mit nur geringer Schulbildung sind den pakistanischen Feudalstrukturen sowie Willkür und Gewalt häufig schutzlos ausgeliefert. Das offizielle Rechtssystem stellt für sie eine unüberwindbare Hürde dar. Sie verstehen weder das Gesetz, noch wissen sie, wie man Rechtsbeistand bekommen kann.

Umso beeindruckender sind der Mut und die Beharrlichkeit von Mukhtaran Mai. Ihr Engagement für Mädchen und Frauen vermittelt eine hoffnungsvolle Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben. Mehr als 250 Mädchen und 160 Jungen haben mittlerweile ihre Schulen besucht. Mukhtaran Mai selbst sitzt in der fünften Klasse.


*


4. Nigeria: Gegen alle Widerstände

Amina Lawals Todesurteil stand schon fest: Die damals 31-jährige Nigerianerin sollte 2002 bis unter die Brust eingegraben werden. Eine Menschenmenge hätte sie dann so lange mit Steinen beworfen, bis sie gestorben wäre. So schreibt es die Scharia vor, die im islamisch geprägten Norden Nigerias angewendet wird.

Amina Lawal hatte ein Kind zur Welt gebracht, zwei Jahre nach ihrer Scheidung. Ein islamisches Dorfgericht in der Provinz Katsina verurteilte sie daraufhin wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs zum Tode. Dass sie heute noch lebt, verdankt sie vor allem dem Einsatz von Hauwa Ibrahim. Die mutige und engagierte Rechtsanwältin erstritt vor einem religiösen Berufungsgericht einen Freispruch.

Seit 1999 verteidigte Ibrahim über 100 Mandanten, die nach der Scharia zu grausamen Strafen verurteilt worden waren, wie Auspeitschen, Steinigungen oder Amputationen. Die meisten ihrer Klienten sind Frauen und Jugendliche aus ärmlichen Verhältnissen. Die zweifache Mutter arbeitet daher oft ohne Bezahlung. Für ihren Einsatz zeichnete sie das Europaparlament 2005 mit dem »Sacharow-Preis für geistige Freiheit« aus. Ibrahims Einsatz ist nicht nur die Geschichte eines Kampfes gegen menschenverachtende Scharia-Urteile, sondern auch gegen die alltägliche Diskriminierung der Frauen. Bei ihrem ersten Gerichtsverfahren verboten ihr die Richter zu sprechen, da dies nur Männern erlaubt sei. Sie ließ sich daher von männlichen Kollegen vertreten, denen sie per Zettel Anweisungen gab.

Schon früh lernte die gläubige Muslimin, sich gegen Widerstände durchzusetzen. Geboren als Tochter eines Mullahs in einem kleinen armen Dorf, sollte sie im Alter von zwölf Jahren verheiratet werden. Doch sie weigerte sich. Dank der Unterstützung ihrer Mutter schloss sie die Schule ab und studierte.

Trotz mehrerer Morddrohungen setzt sie ihren Kampf fort, das Scharia-Recht mit den Menschenrechten in Einklang zu bringen. Im Amnesty Journal erklärte sie einmal: »Wir leben nicht mehr in einer Welt wie vor 2.000 Jahren. Wir als Frauen, als Rechtsanwältinnen und als Bürgerinnen, wollen innerhalb unserer Kultur eine bessere Welt schaffen. Und das erreicht man, indem man Menschenleben respektiert und wertschätzt. Und auch dadurch, dass wir das Recht respektieren.«

Raute

"Viele Männer halten es für selbstverständlich, das Leben ihrer Frauen zu kontrollieren"

Ein Gespräch mit Carsten Jürgensen, Irak-Experte von Amnesty International in London, über das Leben von Frauen und Frauenorganistionen im kurdischen Nordirak.


AMNESTY INTERNATIONAL: Im Vergleich zum Zentralirak gilt der kurdische Norden seit Langem als sicher. Trifft dies auch auf die Situation der kurdischen Frauen im Nordirak zu?

CARSTEN JÜRGENSEN: Die Situation in den drei kurdischen Provinzen ist grundlegend anders als im restlichen Land: Es gibt dort keine ausländischen Truppen, und die Sicherheitslage ist tatsächlich besser. Nach Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation zur Lage der irakischen Frauen aus dem Jahr 2007 schneidet der kurdische Norden besser ab als der Rest des Landes.

AMNESTY INTERNATIONAL: Ist die Lage kurdischer Frauen also durchweg positiv?

CARSTEN JÜRGENSEN: Nein, ganz und gar nicht. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen häufig die schlimmsten Fälle, wenn Frauen getötet werden - zumeist von männlichen Verwandten, weil sie angeblich die Ehre der Familie verletzt haben. Oder wenn sich Frauen mit schrecklichen Methoden das Leben nehmen. In den vergangenen Jahren hat es eine zunehmende Zahl von Verbrennungen gegeben, bei denen nicht immer feststellbar ist, ob es sich um einen Mord oder Selbstmord handelt. Nach offiziellen Angaben sterben jeden Monat durchschnittlich 30 Frauen einen gewaltsamen Tod.

Neben diesen extremen Fällen gibt es eine große Bandbreite familiärer Gewalt, wo Frauen nicht das Haus verlassen dürfen, wo Frauen gezwungen werden, einen Mann zu heiraten, den sie nicht heiraten wollen. In solchen Konstellationen kommt es häufig zu weiteren Formen der Gewalt gegen Frauen.

AMNESTY INTERNATIONAL: Woher kommt das hohe Ausmaß dieser Gewalt?

CARSTEN JÜRGENSEN: Die Diskriminierung von Frauen ist ein entscheidender Faktor. Wenn es akzeptiert wird, dass Frauen und Mädchen weniger Bildungs- und Berufschancen oder Rechtsansprüche haben als Männer, wird ein fatales Bild vermittelt. Zu viele Männer in der Region sehen es als selbstverständlich an, das Leben von Frauen zu kontrollieren. Einer Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation zufolge leiden 40 Prozent der verheirateten Frauen in der kurdischen Region unter dem Kontrollverhalten von Männern. Frauen müssen sich vor einem Arztbesuch die Zustimmung ihres Mannes holen. Oder sie werden von männlichen Verwandten attackiert, weil sie ein Handy benutzen.

AMNESTY INTERNATIONAL: Welche Maßnahmen haben die kurdischen Behörden ergriffen, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken?

CARSTEN JÜRGENSEN: Sie haben spezielle Komitees eingerichtet, die diese Fälle dokumentieren sollen. Darüber hinaus haben sie Sondereinheiten bei der Polizei geschaffen, an die sich betroffene Frauen wenden können. Allerdings gibt es diese Einheiten nur in den drei großen Städten. Es wurde zudem eine Handvoll Frauenhäuser gegründet, in denen Frauen Zuflucht finden können. Aber leider reichen diese Maßnahmen bei Weitem nicht aus. Die Schutzmaßnahmen für Frauen in Gefahr müssen ausgeweitet und verbessert werden. Der Polizeiapparat benötigt mehr Polizistinnen und Sensibilisierungsprogramme.

AMNESTY INTERNATIONAL: Im Nordirak gibt es viele Frauenrechtlerinnen und zivilgesellschaftliche Organisationen. Wie schätzen sie die aktuelle Lage ein?

CARSTEN JÜRGENSEN: Ihre Stimmung schwankt zwischen Zuversicht und Enttäuschung. Die meisten sind sich bewusst, dass sie vieles erreicht haben. Ihre Arbeit der vergangenen zwei Jahrzehnte ist nicht hoch genug zu bewerten. Sie haben maßgeblich zur Verbesserung der Lage kurdischer Frauen beigetragen. Enttäuschung, weil die Forderungen der Frauenrechtsaktivistinnen von der Regierung nur zum Teil oder unzureichend umgesetzt werden.

AMNESTY INTERNATIONAL: Was fordern sie?

CARSTEN JÜRGENSEN: Sie fordern ein Ende der Diskriminierung von Frauen sowohl in rechtlicher Hinsicht als auch hinsichtlich ihrer sozialen Stellung. Dazu gehört auch die Förderung von Frauen und Mädchen bei der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt. Zudem sollen Gewalttäter nach einem angemessen Strafmaß verurteilt und der Schutz für die Opfer verbessert werden.

AMNESTY INTERNATIONAL: Welche rechtlichen Bestimmungen diskriminieren Frauen?

CARSTEN JÜRGENSEN: Seit Langem haben sich die kurdischen Frauenrechtsaktivistinnen für eine Überarbeitung diskriminierender Bestimmungen des Personenstandsgesetzes eingesetzt. Ende Oktober 2008 stimmte das kurdische Parlament einigen Veränderungen zu: So wurden beispielsweise die Bedingungen für die Mehrehe wesentlich verschärft. Viele Aktivistinnen sind allerdings enttäuscht, da sie für eine vollständige Abschaffung der Mehrehe eintreten.

AMNESTY INTERNATIONAL: Können Frauenrechtsaktivistinnen ungehindert agieren?

CARSTEN JÜRGENSEN: Die konkreteste Bedrohung geht oft von Familienangehörigen der schutzsuchenden Frauen aus. Eine Sozialarbeiterin erzählte mir, dass sie seit Beginn ihrer Arbeit in einem Frauenhaus bedroht wird. Zu einem brutalen Übergriff kam es im Mai 2008: Ein Frauenhaus der Nichtregierungsorganisation ASUDA wurde angegriffen und eine Frau, die dort Zuflucht gesucht hat, wurde durch Schüsse schwer verletzt. Es gibt deutliche Hinweise auf die Täter, doch die Verdächtigen wurden mangels Beweisen wieder freigelassen. Frauenrechtsaktivistinnen betonen immer wieder, dass die kurdischen Behörden energischer gegen Drohungen vorgehen sollen.

AMNESTY INTERNATIONAL: Gibt es positive Entwicklungen?

CARSTEN JÜRGENSEN: Sehr wichtig ist sicherlich, dass Themen wie Gleichberechtigung und Gewalt gegen Frauen in der Öffentlichkeit mittlerweile einen breiten Raum einnehmen. Aber um grundlegende Veränderungen, insbesondere bei den Einstellungen der Menschen, die an einem traditionellem Rollenbild der Frau festhalten, zu erreichen, ist ein langer Atem notwendig. Wichtig ist, dass die kurdischen Behörden klare Position gegen Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen einnehmen. Fast noch wichtiger scheint mir, dass Mädchen und Frauen in den Bereichen Schule, Ausbildung und Beruf gezielt gefördert werden, damit sie eine unabhängige Lebensperspektive entwickeln können.


Carsten Jürgensen arbeitet seit 2004 als Irak-Researcher im Internationalen Sekretariat von Amnesty International in London. Dort ist er unter anderem zuständig für das Thema Gewalt gegen Frauen. Im Mai und Juni 2008 nahm er an einer Ermittlungsmission von Amnesty in den kurdischen Nordirak teil.

Raute

Südafrika: Frauen im Teufelskreis von Gewalt und HIV

55% der HIV-Infizierten in Südafrika sind Frauen. Und sie kämpfen nicht nur gegen ihre Krankheit: Gewalttätige Ehemänner, gleichgültige Behörden und Armut hindern sie daran, ihr Recht auf Gesundheit wahrzunehmen.

Jamala (alle Namen geändert) ist 23 Jahre alt. In ihrem Leben wurde sie bereits mehrfach sexuell missbraucht. Mit 15 wurde sie in ihrem Dorf von acht Jugendlichen vergewaltigt. Sie ging weder zur Polizei noch zu einer Klinik. Nicht einmal ihre Großmutter, bei der sie damals aufwuchs, erfuhr etwas von ihrer Vergewaltigung. Später sah sie die Jungen regelmäßig wieder. "Sie lachten über mich. Die Jungen, die mich vergewaltigt haben, besuchten eine höhere Schule und ich nur die Volksschule. Jeder wusste es, und sie lachten darüber." Die Geschichte von Jamala ist nicht ungewöhnlich. Südafrika hat eine der höchsten Vergewaltigungsraten der Welt. Von April 2006 bis September 2007 wurden 75.000 Vergewaltigungsfälle von der Polizei dokumentiert. Lokale Organisationen glauben, dass die tatsächlichen Zahlen wesentlich höher sind, denn die meisten Frauen schämen sich, über sexuelle Misshandlungen zu sprechen.

Und AIDS macht Vergewaltigung zur tödlichen Bedrohung. Jamala ist HIV-positiv. Ein Schicksal, das sie mit fünfeinhalb Millionen Menschen in Südafrika teilt. Schätzungen zufolge sind rund 10 Prozent der Bevölkerung infiziert. Junge Frauen sind heute deutlich stärker gefährdet als Männer, mit dem HI-Virus angesteckt zu werden. So liegt nach UNO-Angaben das Ansteckungsrisiko für junge Frauen bis zu viermal höher als bei Männern. Selbst wenn südafrikanische Frauen - speziell die Bewohnerinnen ländlicher Gebiete - die Prinzipien des Safer Sex kennen: Praktisch haben sie keine Chance, sie gegenüber der Männerwelt durchzusetzen.


Gewalt und Angst vor der Polizei

Doch die Frauen fürchten sich nicht nur vor Vergewaltigungen. Mandisa ist 32 Jahre alt. Sie wurde sieben Jahre lang von ihrem Ehemann misshandelt. Einmal hat er sie mit einer zerbrochenen Flasche geschlagen. Sie ist mehrere Male zur Polizeistation gegangen. Schließlich hat sie ihn angezeigt. Wegen Körperverletzung musste er sechs Monate ins Gefängnis. Als er entlassen wurde und sie im Haus ihrer Eltern fand, schlug er Fenster und Türen ein. "Er drohte mich zu töten und das Haus niederzubrennen, wenn ich nicht zu ihm zurückkehren würde. So ging ich zurück, um bei ihm zu bleiben."

Jede vierte Frau lebt in einer gewalttätigen Beziehung. Unterdrückung, Schläge, Vergewaltigung - die Geschichten ähneln sich. Finanzielle Abhängigkeit, die Angst, von Familie und Gesellschaft verstoßen zu werden oder die Kinder zu verlieren, hindern viele daran, den Missbrauch anzuzeigen. In Südafrika bieten Verfassung und Gesetzgebung eigentlich gute Voraussetzungen, ist doch die Gleichstellung der Geschlechter in der Verfassung verankert. Spezifische Gesetze wie zum Beispiel das über häusliche Gewalt aus dem Jahr 1999 (Domestic Violence Act), sollten den Frauen Schutz vor Gewalt bieten. Es hapert jedoch an der Umsetzung.

Frauen, die Opfer von Gewalt werden, wissen häufig nicht, an wen sie sich wenden sollen. Selbst wenn der Leidensdruck groß wird, wagen sich viele Frauen nicht zur Polizei. Sie befürchten, dass die Beamten ihnen nicht glauben, sondern ihnen vorwerfen, sie hätten den Mann dazu ermuntert. Viele Vergewaltigungs- und Missbrauchsfälle werden gar nicht erst gemeldet. Wenn Frauen den Mut finden, ihren Partner bei der Polizei anzuzeigen, werden sie häufig mit dem Argument zurückgewiesen, es handle sich um ein "familiäres Problem". Eine klare Reaktion der Polizei wäre aber entscheidend. Unter dem Domestic Violence Act müsste jeder Polizeibeamte die Opfer häuslicher Gewalt über ihr Recht, Strafanzeige zu erstatten, aufklären oder ihnen helfen, eine Schutzeinrichtung oder medizinische Versorgung zu finden. Aber die Polizei ist allzu oft gleichgültig und vernachlässigt ihre Pflicht, Frauen zu schützen.


Keine Schutzeinrichtungen, keine gesundheitliche Versorgung

Landesweit ist die Zahl der Schutzeinrichtungen für Frauen in den letzten Jahren auf fast 100 gestiegen. Doch in den ländlichen Regionen existieren weder Frauenhäuser noch sonst eine Struktur für die Opfer von häuslicher Gewalt. Mandisa geht es nicht besonders gut. Sie hat sich im Krankenhaus auf HIV testen lassen. Aber jetzt fehlt ihr das Geld, um wieder in die Klinik zu fahren und sich über ihr Testergebnis zu informieren. Medizinische Behandlung und Aids-Prophylaxe sind in Südafrika grundsätzlich kostenlos. Die Regierung hat den freien Zugang zur antiretroviralen Therapie und zu anderen wichtigen Behandlungen für HIV-Infizierte ausgeweitet. Nur gibt es diese Dienstleistungen hauptsächlich in Krankenhäusern. Trotz der Bemühungen, die umfassende Behandlung von HIV/Aids zu dezentralisieren, sind die meisten Frauen aus ländlichen Gebieten damit praktisch von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen.

Nach UNO-Angaben flossen 2006/2007 Investitionen in Höhe von 927 Millionen US-Dollar ins Nationale HIV/Aidsprogramm. Über gemeinsame Präventionskampagnen verstärkten die Behörden die Zusammenarbeit mit nicht-staatlichen Organisationen, förderten den Zugang zu freiwilliger Beratung und HIV-Tests, verbesserten die Prävention von Mutter zu Kind Übertragungen und dehnten die Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten aus. Im Jahr 2006 haben mehr als 300.000 an Aids erkrankten Personen mit einer antiretroviralen Behandlung begonnen. Wie die Realität zeigt, reichen diese Maßnahmen aber bei weitem nicht aus, um die Entwicklung zu stoppen. Die südafrikanische Regierung hat das internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau unterzeichnet und sich damit verpflichtet, allen Formen von Gewalt gegen Frauen vorzubeugen und den Opfer durch eine effektive Strafjustiz und soziale Unterstützungssysteme zu helfen. Um die Ausbreitung von HIV/Aids zu stoppen, müssen Armut und Ungleichheit der Geschlechter überwunden werden.


Forderungen von Amnesty International

Amnesty fordert die südafrikanischen Behörden auf,

Gesundheitsdienstleistungen für Frauen auf dem Land verfügbar und zugänglich zu machen.
eine Erstberatung von gewaltbetroffenen Frauen zu gewährleisten, Polizisten und Polizistinnen für den Umgang mit Gewaltopfern zu schulen.
sicherzustellen, dass insbesondere HIV-infizierte, aber auch andere gewaltbetroffene Frauen, die Hilfszentren erreichen können, wo sie die richtigen Medikamente und Behandlungen bekommen können.
sicherzustellen, dass Frauen auf dem Land in Frauenhäusern Schutz finden können.

Raute

Zum Internationalen Frauentag 2009:

Die Wüste rockt

In Saudi-Arabien leben Frauen unter diskriminierenden Gesetzen: eine neue Generation lässt sich längst nicht mehr alles gefallen und kämpft für kleine Freiheiten.

Lamia, Dina und Dareen sind »The Accolade«, eine äußerst erfolgreiche Frauenband. Ihre erste Single »Pinocchio« erzählt freimütig von einer gescheiterten Beziehung und ist bereits ein Hit - sie kann allerdings nur im Internet heruntergeladen werden. Wenn »The Accolade« rockt, dann höchstens vor ein paar handverlesenen Gästen und an streng geheim gehaltenen Orten. Es gibt keine Fotos der Künstlerinnen, und ständig müssen sie auf der Hut sein vor der berüchtigten »Religionspolizei«, weil sie angeblich gegen die strengen islamischen Gesetze ihres Heimatlandes verstoßen.

Lamia und ihre Freundinnen leben im ultrakonservativen Königreich Saudi-Arabien, wo Frauen niemals volljährig werden. Sie brauchen ihr ganzes Leben lang einen männlichen Vormund, der für sie alle Entscheidungen trifft, dürfen nicht Auto fahren oder allein verreisen und sind immer noch Bürgerinnen zweiter Klasse. Sie leben in einem Land, in dem sich Frauen in der Öffentlichkeit in die Abaya, ein schwarzes, alles verhüllendes Gewand, kleiden und ihr Gesicht hinter mehreren Lagen Stoff verstecken müssen. Wenn sie es wagen, sich künstlerisch auszudrücken und gesellschaftliche Anerkennung zu suchen, werden ihnen besonders viele Steine in den Weg gelegt.

Ähnlich wie »The Accolade« können Saudi-Arabiens bildende Künstlerinnen ihre Werke bisher nur im Schutze ausländischer Botschaften zeigen, dort, wo die Religionspolizei keinen Zutritt hat. Manal al-Harbi, die sich 2001 als einzige weibliche Studentin für ein Masterstudium in Bildhauerei an einer Kunsthochschule eingeschrieben hatte, musste mit vielen Vorurteilen und Hindernissen kämpfen. Ihre Kollegin, die Malerin Eman Jibreen, konzentriert sich in ihren Werken auf die Zerrissenheit der saudischen Frauen, auf den Widerspruch zwischen dem öffentlichen Anspruch und ihrem eigenen Selbstverständnis.

Obwohl Saudi-Arabien am 7. September 2000 die UNO-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau - wenn auch mit schwerwiegenden Vorbehalten - unterzeichnet hat, sind die saudischen Frauen weiterhin diskriminierenden Gesetzen unterworfen, die ihre Menschenrechte empfindlich einengen. Die strenge Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit verwehrt der weiblichen Hälfte der Gesellschaft den Zugang zu vielen Berufen, da Männer und Frauen nicht gemeinsam in einem Raum arbeiten dürfen. Obwohl die Zahl der erfolgreichen Universitätsabsolventinnen ständig steigt, stoßen diese gut ausgebildeten Akademikerinnen schnell an rechtliche Grenzen.

Ein Promotionsstudium im Ausland, das für ihre Brüder kein Problem darstellt, ist für sie nur in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds möglich, das Einverständnis ihres Vormundes vorausgesetzt. Nur wenige Frauen schaffen es, ihren Weg zu gehen, wie zum Beispiel die erste, in Jordanien ausgebildete Verkehrspilotin des Königreichs, Hanadi Zakaria Al-Hindi. Aber auch für sie gilt: Immer, wenn sie ein Flugzeug ins Ausland steuert, braucht sie die Unterschrift ihres Ehemannes. Für Al-Hindi ist das nur eine Formsache, weil ihr Mann sie unterstützt und stolz auf sie ist. Nicht jede Frau hat jedoch einen Vormund, der ihre Wünsche so vorbildlich respektiert.

Die Konsequenzen können hart sein. Frauen dürfen nicht allein entscheiden, was sie studieren möchten, wo sie leben wollen, wen sie heiraten oder ob sie sich scheiden lassen. Während ein Mann eine rechtskräftige Scheidung mit einem dreimaligen »Ich verstoße dich« erreichen kann, ist es für Frauen ungleich schwerer, ein Ende ihrer Ehe zu erwirken. Das Wort einer Frau zählt vor Gericht nur halb so viel wie die Aussage eines Mannes, Frauen erben nur die Hälfte verglichen mit den Anteilen ihrer männlichen Verwandten. Frauen, die vergewaltigt worden sind und den Mut haben, die Tat anzuzeigen, werden nicht selten vom Opfer zur Täterin abgestempelt und riskieren sogar harte Strafen.

So wurde im vergangenen Jahr eine junge Frau, die von sieben Männern vergewaltigt worden war, zu sechs Monaten Haft und 600 Peitschenhieben verurteilt, weil sie zur Tatzeit mit einem männlichen Bekannten unterwegs war, der nicht zur näheren Familie gehörte. Nur durch beispiellosen internationalen Protest wurde das »Mädchen von Qatif« schließlich von König Abdullah persönlich begnadigt.

Eine tiefgreifende Neuordnung des Gerichtssystems mit gleichen Rechten für die Frauen ist dringend notwendig und überfällig. Im Jahr 2005 kündigte die saudi-arabische Regierung Reformen zugunsten der Gleichberechtigung der Frauen im Königreich an, von denen bisher jedoch nur wenige umgesetzt worden sind. Im Juni 2006 wurden immerhin sechs Frauen in den Konsultativrat (majlis al-shura) berufen und sind dort nun für Frauenfragen zuständig. Frauen sind auch zu den Konferenzen des »Nationalen Dialogs« zugelassen, in dessen Rahmen wichtige nationale Themen wie z.B. Bildung diskutiert werden.

Die Vorstandswahlen für die Industrie- und Handelskammer in Jeddah im Jahr 2005 endeten mit einer Riesenüberraschung: Zwei Frauen, Lama al-Suleiman und Nashwa Taher, wurden in das Gremium gewählt, und zwar überwiegend von Männern; denn nur 100 der insgesamt 3.880 Wähler waren Frauen. »Wir sollten den Frauen eine Chance geben, weil sie so wenig Einfluss in unserer Gesellschaft haben«, bemerkte einer der männlichen Wähler.

»Die jetzt heranwachsende Generation der jungen Menschen in Saudi-Arabien ist anders«, sagt Dina von »The Accolade«. »Alles verändert sich. Vielleicht wird es in zehn Jahren ganz normal sein, dass eine Mädchen-Band öffentlich auftritt.«

Vor allem die Möglichkeiten der neuen Technologien werden das Leben der jungen Menschen auch in Zukunft ganz erheblich beeinflussen. Auch den konservativsten Ländern wie Saudi-Arabien wird es auf Dauer nicht gelingen, sich den modernen Informations- und Kommunikationstechniken, den TV-Satellitenprogrammen und dem Internet mit seiner Fülle von Informationen, Netzwerken und Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu treten, zu verschließen.

Die heutige junge Generation wächst mit diesen Technologien auf, vernetzt sich, tritt miteinander in Dialog und will an den Errungenschaften einer globalisierten Welt nicht nur virtuell teilhaben. Diese Entwicklung wird womöglich gerade für die Frauen im Königreich Saudi-Arabien auf ihrem Weg in eine Zukunft mit mehr Freiheiten und Rechten große Bedeutung haben.

Die drei jungen Musikerinnen von »The Accolade« oder die Vorstandsfrauen der Industrie- und Handelskammer in Jeddah sind Vorbilder für die heutige junge Generation von Frauen. Sie machen Mut zu der Prognose, dass sich die Lage der Frauen verbessern wird, vielleicht nicht morgen, aber vielleicht übermorgen. Die Frauen von Saudi-Arabien sind auf einem guten Weg und bestimmen selbst das Tempo. Denn wie sagt die Malerin Eman Jibreen: »Wir sehen vielleicht für euch alle gleich aus. Mit unseren Schleiern ähneln wir formlosen schwarzen Klecksen. Aber das Tuch bedeckt nur unsere Häupter, vielleicht unsere Gesichter - aber niemals unseren Verstand.«


*


AMNESTY INTERNATIONAL ist eine von Regierungen, politischen Parteien, Ideologien, Wirtschaftsinteressen und Religionen unabhängige Menschenrechtsorganisation. Amnesty kämpft seit 1961 mit Aktionen, Appellbriefen und Dokumentationen für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt. Die Organisation hat weltweit 2,2 Millionen Unterstützer. 1977 erhielt Amnesty den Friedensnobelpreis.


*


Quelle:
ai-Presseinformation - Februar 2009
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Postfach 58 01 61, 10411 Berlin
Telefon: 030/42 02 48-306 oder 030/42 02 48-314
Fax: 030/42 02 48 - 330
E-Mail: presse@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2009