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ASIEN/212: Die Lage aserbaidschanischer Binnenflüchtlinge (ai journal)


amnesty journal 11/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Offenes Gefängnis
Aserbaidschanische Binnenflüchtlinge fristen oft jahrelang ein menschenunwürdiges Dasein in abgelegenen Heimen. Schuld ist eine Verteilungspolitik aus Sowjetzeiten.

Von Dorothee Haßkamp


Ganze 15 Jahre ist es her, dass Elvira mit ihren beiden Kindern vor dem armenisch-aserbaidschanischen Krieg um die Region Berg-Karabach fliehen musste. Nach Jahren in einer Notunterkunft in der Hauptstadt Baku wiesen die Behörden der Familie ein Zimmer in einer abgelegenen Neubausiedlung in der Region Goranboy zu. Dort sind Elviras Söhne erwachsen geworden, Aussicht auf Arbeit haben sie nicht. Die Lebensbedingungen sind schlecht: Das Zimmer hat keine Gasversorgung, Wasser holt Elvira vom Fluss. Obwohl die Unterkünfte erst wenige Jahre alt sind, bröckelt der Putz von den Wänden. Selbst in Gebieten, in denen es im Winter minus 30 Grad kalt wird, haben die Flüchtlingsheime keine Heizung. Wer krank wird, hat zwar Anspruch auf finanzielle Unterstützung für medizinische Versorgung, doch die Fahrt in die nächste Stadt, wo die Menschen das Geld beantragen müssen, würde den gesamten Zuschuss auffressen.

Viele Familien wollen wegziehen, aber ein restriktives Meldesystem aus Sowjetzeiten, das gegen internationale Menschenrechtsstandards verstößt, verhindert das. Aus der Verfassung ist das Meldesystem gestrichen, in der Praxis wenden die Behörden es aber noch immer an. Die meisten hoffen vergeblich, eine Genehmigung für den Umzug zu bekommen. Die Menschen zieht es in Gegenden, in denen die wirtschaftlichen Verhältnisse besser sind - vor allem, seit Aserbaidschan von neu entdeckten Erdölvorkommen profitiert. Elvira hat die Hoffnung verloren: "Was sollen wir tun? Wir haben keine Wahl. Wir müssen bleiben."

Während die Regierung 200.000 Flüchtlingen aus Armenien bei der Integration geholfen hat, scheut sie vergleichbare Maßnahmen für die Flüchtlinge aus dem eigenen Land. Sie vermeidet alles, was den politischen Anspruch auf die umstrittenen Gebiete schwächen könnte und hält daran fest, dass die Binnenflüchtlinge heimkehren werden. Obwohl die UNO klargestellt hat, dass Betroffene einer Umsiedlung in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden müssen, plante Aserbaidschan über die Köpfe der Betroffenen hinweg.

Von den schätzungsweise 600.000 Binnenflüchtlingen im Land leben Unzählige in Notunterkünften, Zelten und ausrangierten Eisenbahnwaggons. Die Regierung bemüht sich hier und da, die Lebensverhältnisse zu verbessern, trotzdem leiden die meisten unter massiven Einschränkungen. Ohne Mitsprache wurden sie in kargen Gegenden angesiedelt, wo sie weder eine Infrastruktur vorfanden noch eine wirtschaftliche Perspektive haben: Es fehlt an Schulen, Arbeitsplätzen, medizinischer Versorgung. "Offene Gefängnisse" nennt ein Menschenrechtsverteidiger die Situation.

ai appelliert an die Regierung, das menschenrechtswidrige Meldesystem in der Praxis abzuschaffen und die Betroffenen zu konsultieren, damit sie sich mit entsprechender Starthilfe und in Rechtssicherheit eine neue Existenz aufbauen können. "Wir sind bereit, mit den Armeniern in Frieden in Berg-Karabach zu leben", versichert ein Familienvater, der sich mit seiner Frau, zwei erwachsenen Söhnen und der Schwiegertochter 15 Quadratmeter teilt. "Aber bis wir Frieden bekommen, dauert es bestimmt noch zehn Jahre. Und wir wollen jetzt wie Menschen leben."


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Quelle:
amnesty journal, November 2007, S. 30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2007