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ASIEN/192: Interview mit China-Korrespondent Kai Strittmatter (amnesty journal)


amnesty journal 12/2006 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Selbstzensur kommt nicht in Frage"
Interview mit Kai Strittmatter

Das Interview führte Tatjana Schütz


Der Auslandskorrespondent Kai Strittmatter berichtete acht Jahre für die "Süddeutsche Zeitung" aus Peking. Er unterstützt die Einzelfallarbeit von amnesty international.


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Frage: Was für einen Eindruck haben Sie von der chinesischen Presselandschaft gewonnen?

Die Kommunistische Partei (KPCH) entzieht den Medien immer mehr die finanzielle Unterstützung. Deswegen können es sich die Zeitungen nicht mehr leisten, dröge und unverdaulich daherzukommen. Ein Kiosk in Peking sieht auf den ersten Blick aus wie in westlichen Ländern: farbenfroh und pluralistisch. Es sind viele ausländische Unternehmen und Verlage in das Mediengeschäft eingestiegen. Doch der Wandel ist trügerisch und oberflächlich, weil der Zensurapparat im Kern der Gleiche geblieben ist - und alle Zeitungen noch immer der direkten Kontrolle von Partei und Staat unterstehen.

Frage: Waren Sie als ausländischer Journalist Repressionen ausgesetzt?

China ist ein Paradies für Auslandskorrespondenten. Anders als in der ehemaligen Sowjetunion oder in der DDR haben sie in China große Bewegungsfreiheit, anders als in Teilen Südamerikas lebt man hier als Ausländer sehr sicher. Die Geschichten liegen geradezu auf der Straße. Außerdem sind Chinesen offen und lieben es zu erzählen. Ich fand es oft in China einfacher, Leute zu interviewen als in Deutschland. Auf der anderen Seite ist da der Apparat, der einen beobachtet und noch immer nach dem Prinzip der Willkür funktioniert. Wenn man in Ungnade fällt, gibt es zwei Sanktionsstufen: Unterwegs wird man manchmal festgesetzt und verhört. Im nächsten Schritt wird man in Peking ins Außenministerium zu einer "Kritiksitzung" zitiert. Anschließend droht der Rauswurf, was allerdings schon lange nicht mehr praktiziert wird. Mir ist das zwei Mal in acht Jahren passiert.

Frage: Konnten Sie über alles schreiben?

Ja. Selbstzensur kommt nicht in Frage, auch für die meisten meiner Kollegen nicht. Journalisten haben längst nicht den Einfluss, der ihnen nachgesagt wird. Das hat auch die chinesische Regierung gemerkt und lässt uns gewähren. Natürlich werden Telefone abgehört, Emails und Faxe abgefangen, Journalisten beschattet. Das dient oft weniger der Informationsbeschaffung als mehr der Einschüchterung. Ganz anders ist die Situation natürlich für chinesische Kollegen, aber auch für Informanten, die sich mit uns einlassen. Für die kann zu viel Mut gefährlich werden. In meinem letzten Jahr in China wurden auch zwei meiner besten Freunde von der Staatssicherheit aufgesucht und wegen ihres Kontaktes zu mir befragt.

Frage: Hat das Internet das Potenzial, die Zivilgesellschaft zu stärken?

Die Leute, die prophezeit haben, dass das Internet China die Freiheit bringen würde, sind bislang enttäuscht worden. In den letzten Jahren gab es Beispiele, die für das Potenzial elektronischer Medien sprechen. Die erste Demonstration von Falun-Gong-Anhängern im September 1999 ist so eins: Die Leute hatten sich über das Internet verabredet und tauchten ganz plötzlich aus dem Nichts auf. Es gibt Bemühungen, das Informationsmonopol der Partei zu durchbrechen - auch in China entwickelt sich eine Bloggerkultur. Aber immer wenn der Eindruck entsteht, etwas sei organisiert und entziehe sich der Kontrolle der Kommunistischen Partei, wird es sofort verfolgt und zerstört. Das gilt für das Internet wie für alle anderen Bereiche.

Frage: Wie passt das Konzept wirtschaftlicher Liberalisierung bei gleichzeitiger Überwachung der Medien zusammen?

Beides entspricht - bislang - den Machtinteressen der Kommunistischen Partei: Das Wirtschaftswachstum hält die Leute gewogen. Was in China entstanden ist, nennen Experten einen "Kaderkapitalismus": Der Zugang zu Macht und Ressourcen entscheidet über Auf- oder Abstieg eines Unternehmens. Die Partei hat so eine Gruppe von Neureichen herangezüchtet, die Hand in Hand mit den alten Kadern jetzt die neue Elite des Landes bilden und sich in ihrer privilegierten Stellung ganz gut eingerichtet haben.

Frage: Haben diese Leute überhaupt ein Interesse daran, sich gegen die Zensur aufzulehnen?

Die Superreichen haben sicher kein Interesse daran, irgendetwas zu tun, das diesem System schadet. Sie wollen Stabilität, die ihre Privilegien schützt. Auch die aufstrebende Mittelschicht hat sich für den Moment kaufen lassen: Das Wirtschaftswachstum bescherte ihr hohe Gehälter und relativen Wohlstand. Gleichzeitig ist aber das System instabiler als es scheint. Es gärt und brodelt unter der Oberfläche. Die Probe aufs Exempel wird die nächste Rezession bringen. Bisher gilt der Vertrag: Wir halten das Maul, solange die Regierung uns Wohlstand garantiert. Wenn sich das mal ändert, weiß keiner, was passiert.

Frage: Das kann lange dauern.

Sicher spricht der Boom auf den ersten Blick eine andere Sprache. Aber die Zahlen sind relativ. Das Land lag in Ruinen, als erste Wirtschaftsreformen auf den Weg gebracht wurden. Unter diesen Voraussetzungen hohe Wachstumsraten zu erzielen, war nicht besonders schwer. Doch auch heute, nach zwei Jahrzehnten zweistelligem Wachstum, steht China noch immer für bloße fünf Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Der Anteil des kleinen Deutschlands ist noch immer größer. Es gab in der Vergangenheit schon Situationen, in denen klar wurde, wie fragil die Lage ist. Als das tödliche SARS-Virus 2003 Peking heimsuchte, stand die Stadt für Wochen unter Schock. Die Leute fühlten sich von der Regierung betrogen. Mit einem Mal konnte man sich gut vorstellen, wie die Stimmung plötzlich kippen kann.

Frage: Aber an den Grundfesten des Systems wurde nicht gerüttelt.

Trotzdem wurde deutlich, woran diese Gesellschaft krankt: Die Menschen wissen um den Anachronismus der wirtschaftlichen Öffnung bei gleichzeitiger medialer Abschottung. Sie wissen, dass ihnen Propaganda vorgesetzt wird. Nach dem Ausbruch des SARS-Virus wurde den Menschen klar, dass die Gleichschaltung der Presse sogar zu einer Frage von Leben und Tod werden kann. Die Menschen haben angefangen, die Regierung, die sie ins offene Messer rennen ließ, in Frage zu stellen. Und sie haben sich in ihrer Panik in andere Informationswege geflüchtet, z.B. in SMS und E-Mail.

Frage: Wer könnte etwas gegen die Zensur unternehmen?

Jeder Mensch, der an der Zukunft und der Stabilität des Landes interessiert ist, müsste das Informations- und Machtmonopol der Regierung hinterfragen. Die Propaganda der KP, die mit Verfolgung und Unterdrückung "Stabilität" garantieren will, dient nur ihrer eigenen Machtsicherung, nicht dem Volk. Es gibt im Moment keine Möglichkeiten, die gravierenden Probleme des Landes öffentlich zu machen, zu debattieren und nach Lösungen zu suchen. Auch die Leute, die jetzt am Wirtschaftswachstum partizipieren, müssten letztlich ein Interesse daran haben, dass die Pressezensur fällt.

Frage: Wie könnte die Zukunft Chinas aussehen?

Ich würde mir wünschen, dass sich China in eine ähnliche Richtung wie Taiwan entwickelt. Dort hat sich die Diktatur nach und nach selbst abgeschafft. Natürlich gibt es viele Unterschiede zwischen den beiden Ländern. Besorgnis erregend an der Entwicklung in China ist auch dies: Im Zuge der Verflechtung von Kapital und Politik hat die Elite immer mehr auch ein finanzielles Interesse daran, dass alles so bleibt, wie es ist.


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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2006, S. 24+25
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick am 11. Januar 2007