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AKTION/861: Urgent Action - Brasilien - Indigenensprecher getötet


ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-339/2011, AI-Index: AMR 19/018/2011, Datum: 21. November 2011 - ns

Brasilien
Indigenensprecher getötet


RUND 100 ANGEHÖRIGE DER INDIGENEN GEMEINSCHAFT DER GUARANI-KAIOWÁ getötet:

Herr NÍSIO GOMES

Etwa 100 Angehörige der indigenen Gemeinschaft der Guarani-Kaiowá schlugen am 1. November ein Lager auf dem ihnen angestammten Land auf. Am 18. November griffen 40 bewaffnete Männer sie an, töteten dabei einen Gemeindesprecher und entführten drei Kinder. Die Indigenen haben angekündigt, dass sie auf dem Land, auf dem sie schon seit Generationen leben, bleiben werden.

Gegen etwa 6.30 Uhr am Morgen des 18. November drangen 40 bewaffnete Männer, von denen viele Kapuzen trugen, mit Lastwagen in das Lager der Guaiviry ein. Das Lager befindet sich auf dem Ackerland im Süden des Bundesstaats Mato Grosso do Sul. Die Männer griffen die Gemeinde an und verletzten dabei mehrere Personen. Sie ergriffen den Gemeindesprecher Nísio Gomes und schossen wiederholt auf ihn. Als sein Enkel versuchte einzugreifen, wurde er von den Männern geschlagen.

Augenzeugenberichten zufolge wurde die Leiche von Nísio Gomes bis zu einem der Lastwagen geschleift und hineingeworfen. Die Männer ergriffen außerdem drei Kinder, zerrten auch sie in den Lastwagen und fuhren mit ihnen davon. Es handelt sich hierbei um einen zwölfjährigen Jungen und zwei Mädchen im Alter von fünf und zwölf Jahren. Man hat die Kinder seitdem nicht mehr gesehen. Die Leiche von Nísio Gomes wurde bis jetzt nicht gefunden und man befürchtet, dass sie über die Grenze nach Paraguay gebracht wurde, was das Auffinden deutlich erschwert. Die Bundespolizei, die Bundesanwaltschaft und die "Fundação Nacional do ™ndio - FUNAI" (Nationale Behörde für Indigenenangelegenheiten) ermitteln nun.

Die indigene Gemeinschaft der Guaiviry, die entlang der Schnellstraße MS-386 unter sehr gefährlichen Bedingungen lebte, kehrte am 1. November auf ihr Land zurück. Die Angehörigen der Gemeinde haben ihr Lager auf dem Ackerland aufgeschlagen, das bereits seit November 2008 für den Demarkierungsprozess vorgemerkt ist. Anthropologische Studien wurden bereits durchgeführt. Allerdings kann das Land erst dann offiziell demarkiert werden, wenn die Studien veröffentlicht sind. Das Lager der Indigenen war vor dem Angriff am 18. November bereits mehrmals von bewaffneten Männern bedroht worden. Am 16. November hatten die Männer gedroht, Nísio Gomes zu töten.

Trotz der drohenden Gefahr, hat die indigene Gemeinde angekündigt, auf ihrem angestammten Land zu bleiben. "Wir werden in unserem Lager bleiben, wir werden alle genau hier sterben. Wir werden unser tekoha [angestammtes Land] nicht verlassen", teilte ein Angehöriger der Gemeinde am 18. November gegenüber einem Vertreter der Organisation Conselho Indigenista Missionário (CIMI) mit. Die indigene Gemeinde fordert die Behörden auf, die Bemühungen, Nísio Gomes' Leiche und die drei entführten Kinder zu finden, zu verstärken.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Der Bundesstaat Mato Grosso do Sul umfasst einige der kleinsten, ärmsten und am dichtest besiedelten indigenen Regionen Brasiliens: Ländliche und verarmte Regionen, umgeben von großen Soja- und Zuckerrohrplantagen sowie Viehfarmen, in denen das Leben von Krankheit und schlechten Lebensbedingungen gekennzeichnet ist. Rund 60.000 Guarani-Kaiowá leben in prekären Verhältnissen. Der Zusammenbruch des sozialen Systems hat Gewalt und hohe Selbstmordraten zur Folge gehabt und zu Unterernährung geführt. Die nur schleppend verlaufende Übergabe des Landes von den LandbesitzerInnen an die indigenen Gemeinschaften hat bei den Guarani -Kaiowá große Enttäuschung ausgelöst und sie dazu veranlasst, ihrerseits mit der Besetzung angestammter Ländereien zu beginnen. Daraufhin wurden sie eingeschüchtert und mit Gewalt von dem Land vertrieben, das sie besetzt hatten.

Viele Angehörige der Gemeinschaft waren aufgrund der Zwangsräumungen ihres Landes gezwungen, auf das Gebiet neben einer Schnellstraße umzusiedeln. Sie wurden Opfer von Drohungen durch örtliche Wachleute, die angestellt werden, um die Indigenen davon abzuhalten, ihr Land wiederzubesetzen. Da die Behelfsunterkünfte nicht ausreichend waren und es an medizinischer Versorgung mangelte, wurden viele der Indigenen krank. Hinzu kommt, dass zahlreiche Angehörige der Guarani-Kaiowá bei Verkehrsunfällen auf der Schnellstraße verletzt oder getötet wurden.


EMPFOHLENE AKTIONEN

SCHREIBEN SIE BITTE FAXE UND LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

- Ich bitte Sie, den Tod des indigenen Gemeindesprechers Nísio Gomes sowie die Entführung der drei Kinder umgehend unabhängig und sorgfältig zu untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen.

- Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass es bereits seit langer Zeit keinen angemessenen Schutz für die Gemeinde der Guarani-Kaiowá gibt und fordere Sie daher auf, in Absprache mit ihnen geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen.

- Ich fordere Sie außerdem auf, ihrer Verpflichtung gemäß der Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, der UN-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker und der brasilianischen Verfassung aus dem Jahr 1988 nachzukommen, indem Sie alle ausstehenden Landrechtsfragen abschließen.


APPELLE AN

JUSTIZMINISTER
Exmo. Sr. José Eduardo Martins Cardozo
Esplanada dos Ministérios, Bloco "T"
70.712-902 - Brasília/DF
BRASILIEN
(korrekte Anrede: Exmo. Senhor Ministro / Dear Minister / Sehr geehrter Herr Minister)
Fax: (00 55) 61 2025 7803

MINISTERIN FÜR MENSCHENRECHTE
Exma Sra. Ministra Maria do Rosário
Setor Comercial Sul-B, Quadra 9, Lote C
Edifício Parque Cidade Corporate, Torre "A", 10º andar,
Brasília, DF CEP: 70308-200
BRASILIEN
(korrekte Anrede: Exmo. Senhora. Ministra / Dear Secretary / Sehr geehrter Frau Ministerin)
Fax: (00 55) 61 2025 9414


KOPIEN AN

ÖRTLICHE NICHTREGIERUNGSORGANISATION
Conselho Indigenista Missionário
(CIMI)
Cimi Regional Mato Grosso do Sul
Av. Afonso Pena, 1557 Sala 208 Bl.B, 79002-070 Campo Grande/MS
BRASILIEN

BOTSCHAFT DER FÖDERATIVEN REPUBLIK BRASILIEN
S.E. Herrn Everton Vieira Vargas
Wallstraße 57
10179 Berlin
Fax: 030-7262 83-20
oder 030-7262 83-21
E-Mail: brasil@brasemberlim.de


Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Portugiesisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 2. Januar 2011 keine Appelle mehr zu verschicken.


PLEASE WRITE IMMEDIATELY

- Calling on the authorities to investigate independently and thoroughly the killing of Nísio Gomes and abduction of three children thoroughly, and bring those responsible to justice.

- Pointing out that the authorities have failed for a long time to ensure the protection of the Guarani-Kaiowá, and urging them to offer full protection according to the community's wishes.

- Urging the authorities to fulfil their obligations under the International Labour Organisation's Convention 169, the UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples and the 1988 Brazilian constitution by completing all outstanding land demarcations.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN - FORTSETZUNG

Der Kampf der Guarani-Kaiowá um ihr rechtmäßiges Land führte in den vergangenen zehn Jahren zu zahlreichen Angriffen und Tötungen. Privates Sicherheitspersonal, das von den LandbesitzerInnen angestellt wird, spricht immer wieder Drohungen aus und wendet Gewalt gegen die Indigenen an, ohne Strafverfolgung fürchten zu müssen. Im November 2007 unterzeichneten der Justizminister, die brasilianische Generalstaatsanwaltschaft, FUNAI-VertreterInnen und 23 SprecherInnen indigener Gemeinschaften ein Abkommen (Termo de Adjustamento de Conduta - TAC). In dem Abkommen verpflichtet sich FUNAI, bis April 2010 insgesamt 36 Grundstücke der Guarani-Kaiowá, einschließlich des Gebiets der Guaiviry, zu demarkieren und an die Gemeinschaft zurückzugeben. Mangelnde Ressourcen und anhängige Gerichtsverfahren haben dazu geführt, dass der Demarkierungsprozess nach wie vor nicht stattgefunden hat. FUNAI hat jüngst angekündigt, im März 2012 einige anthropologische Studien veröffentlichen zu wollen. Die Studien, die das Land der Guaiviry betreffen, sollten gerade abgeschlossen werden, als der Übergriff auf die Gemeinde stattfand.

Sowohl die UN-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker, die Brasilien im Jahr 2007 unterzeichnet hat, als auch das von der brasilianischen Regierung ratifizierte Übereinkommen Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation gewährleisten indigenen Völkern das Recht auf Land, das traditionell ihnen gehört. Außerdem werden die Staaten darin aufgefordert, Mechanismen zu entwickeln, mit deren Hilfe diese Rechte zugesprochen und anerkannt werden können. Nicht zuletzt bekräftigt die brasilianische Verfassung von 1988 die Rechte der indigenen Völker Brasiliens auf ihr Land. Die Verfassung verpflichtet den Staat, das Land der indigenen Bevölkerung zu demarkieren.

Aufgrund der aktuellen Entwicklungen müssen nun alle künftigen Demarkierungen zunächst vom Präsidialamt genehmigt werden, bevor ihnen zugestimmt werden kann. Viele örtliche Organisationen sehen die Grundrechte der indigenen Völker durch diesen Schritt gefährdet.


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Quelle:
ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-339/2011, AI-Index: AMR 19/018/2011, Datum: 21. November 2011 - ns
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2011