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AKTION/1094: Urgent Action - Kasachstan - Anklage wegen Unterstützung streikender Arbeiter


ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-177/2012 AI-Index: EUR 57/003/2012 Datum: 21. Juni 2012 - ar

Kasachstan Anklage wegen Unterstützung streikender Arbeiter



BOLAT ATABAEV, Theaterregisseur

Der bekannte Theaterregisseur Bolat Atabaev hat sich öffentlich für streikende ArbeitnehmerInnen in der Erdölindustrie eingesetzt. Er wurde nun unter fingierten Anklagen vor Gericht gestellt. Amnesty International betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen, der nur deshalb in Haft ist, weil er von seinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hat.

Der Kulturschaffende Bolat Atabaev, in Kasachstan eine prominente Figur des öffentlichen Lebens, setzt sich seit Mitte 2011 für streikende ArbeiterInnen im Südwesten des Landes ein. So besuchte er streikende ArbeiterInnen der Ölindustrie in der Stadt Schangaösen und versuchte, den Forderungen der ArbeiterInnen bei den Behörden Gehör zu verschaffen. Sie forderten von Behörden und Arbeitgebern unter anderem die Anerkennung des Rechts auf unabhängige Gewerkschaften und eine Anpassung der Löhne und Arbeitsbedingungen an internationale Arbeitsnormen. Bolat Atabaev kritisierte öffentlich die tödliche Gewalt, mit der die Sicherheitskräfte im Dezember 2011 bei den gewaltsamen Zusammenstößen in Schangaösen gegen streikende ArbeiterInnen, Protestierende und unbewaffnete Bürger vorgingen. Am 6. Januar erhob der Ausschuss für Nationale Sicherheit (Komitet Nationalnoi Bezopasnosti - KNB) unter Berufung auf Artikel 164 des kasachischen Strafgesetzbuches ("Anzetteln von sozialem Unfrieden") Anklage gegen Bolat Atabaev. Er kam gegen Kaution frei und wurde angewiesen, seinen Wohnort, die Stadt Almaty im Süden des Landes, nicht zu verlassen. Am 14. Juni veranlasste das Bezirksgericht Almalinski in Almaty die Festnahme von Bolat Atabaev mit der Begründung, er habe gegen einige Kautionsauflagen verstoßen. Er hatte sich geweigert, zur Vernehmung vor dem KNB zu erscheinen und für seine Gerichtsverhandlung ins 3.000 Kilometer entfernte Aqtau zu reisen. Am 15. Juni nahmen KNB-BeamtInnen Bolat Atabaev fest, als er gerade das Haus verließ. Bolat Atabaev gab an, dass er mit seiner Weigerung, bei der Vernehmung zu erscheinen, gegen seine Anklage protestieren und die ungerechte Art deutlich machen wollte, mit der die Regierung die Protestierenden und streikenden ArbeiterInnen in Schangaösen behandelt hatte.

Am 16. oder 17. Juni brach eine Wagenkolonne mit Bolat Atabaev in Richtung Aqtau zu einer Untersuchungshaftanstalt auf. Diese Reise kann bis zu zehn Tage dauern. Bolat Atabaev hat Diabetes und muss deshalb regelmäßig Medikamente einnehmen. Es ist unklar, ob er seine Medikamente mitnehmen durfte bzw. ob er von den Sicherheitskräften in irgendeiner Form mit Medikamenten versorgt wird.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Auseinandersetzungen wegen Löhnen und Arbeitsbedingungen führten im Mai 2011 dazu, dass tausende ArbeitnehmerInnen der Ölindustrie im Gebiet Mangghystau im Südwesten Kasachstans einen verlängerten Streik und öffentliche Proteste begannen. Die Unternehmen gingen gerichtlich dagegen vor und erreichten, dass die Streiks rechtswidrig erklärt wurden. Hunderte ArbeiterInnen, die gestreikt hatten, wurden daraufhin entlassen.

Die Sicherheitskräfte lösten die Protestveranstaltungen mit unverhältnismäßiger Gewaltanwendung auf und nahmen zahlreiche streikende ArbeiterInnen sowie GewerkschafterInnen und Oppositionelle fest. Die meisten wurden zu kurzen Verwaltungshaftstrafen oder Geldbußen verurteilt. Die Sicherheitskräfte bedrohten, inhaftierten und schlugen außerdem Familienangehörige und UnterstützerInnen der Streikenden, und schikanierten MenschenrechtsbeobachterInnen. Im Oktober 2011 griffen Männer in Zivil unabhängige JournalistInnen an, die über die Streiks berichteten. Die Behörden leiteten keine Untersuchungen zu diesen Menschenrechtsverletzungen ein, was weiteren Unmut auf Seiten der ArbeiterInnen hervorrief und die Spannungen noch verschärfte.

Am 16. Dezember 2011 kam es in Schangaösen zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei. Dies geschah zum Zeitpunkt der Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Unabhängigkeit Kasachstans und wird als die schlimmste Konfrontation in der jüngeren Geschichte des Landes betrachtet. Mindestens 15 Personen wurden dabei getötet und es gab über 100 Schwerverletzte. AugenzeugInnen zufolge haben einige PolizistInnen zunächst Warnschüsse in die Luft abgegeben, wohingegen andere direkt in die Menge - und damit auch auf Kinder - gezielt haben sollen. Auf Amateurvideos war zu sehen, wie Sicherheitskräfte auf weglaufende Protestierende zielten und schossen und auf Personen einschlugen, die am Boden lagen. Daraufhin verhängte der kasachische Präsident einen 20-tägigen Ausnahmezustand über die Stadt, schickte das Militär nach Schangaösen und richtete einen Ausschuss zur Untersuchung der Gewalt ein. Alle Kommunikationskanäle in die Stadt wurden abgeschnitten. Der Präsident stattete Schangaösen am 22. Dezember einen Besuch ab und gab "jungen Rowdys" die Schuld an der Gewalt, welche die Unzufriedenheit und Wut der Streikenden dazu genutzt hätten, staatliches und privates Eigentum zu zerstören und zu plündern. Er gab an, die Sicherheitskräfte hätten sich absolut gesetzeskonform verhalten. Die Generalstaatsanwaltschaft leitete jedoch nach der Veröffentlichung des Videomaterials ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen die Sicherheitskräfte ein. Nach seinem Besuch am 22. Dezember entließ der Präsident sowohl hochrangige Führungskräfte nationaler und regionaler Öl- und Gaskonzerne als auch den regionalen Gouverneur mit der Begründung, sie seien den Forderungen der streikenden ArbeiterInnen nicht angemessen begegnet.


EMPFOHLENE AKTIONEN

SCHREIBEN SIE BITTE E-MAILS, FAXE ODER LUFTPOSTBRIEFE MIT DEN FOLGENDEN FORDERUNGEN

  • Lassen Sie Bolat Atabaev bitte unverzüglich und bedingungslos frei.
  • Stellen Sie bitte sicher, dass Bolat Atabaev jegliche nötige medizinische Versorgung erhält.
  • Ich bitte Sie eindringlich, das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß der internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen Kasachstans zu garantieren. Eine solche Verpflichtung ergibt sich z. B. aus Artikel 19 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte.

APPELLE AN

STAATSPRÄSIDENT
Nursultan Nazarbaev
Presidential Administration
Levoberezhe Street, Astana 01000, KASACHSTAN
(korrekte Anrede: Dear President Nazarbaev / Sehr geehrter Herr Präsident)
Fax: (00 7) 7172 72 05 16
E-Mail: midrk@mfa.kz (Betreff: FAO President Nazarbaev)

GENERALSTAATSANWALT
Daulbaev Ashat
House of Ministries Entrance No. 2
8 Orinbor St., Astana 010000 , KASACHSTAN
(korrekte Anrede: Dear Prosecutor General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt)
Fax: (00 7) 7172 50 25 34
E-Mail: Gp-rk@prokuror.kz


KOPIEN AN

LEITER DES AUSSCHUSSES FÜR NATIONALE SICHERHEIT KNB
Nurtai Abikaev
8/1 (levii bereg) Turkestan St
Astana 010000
KASACHSTAN
Fax: (00 7) 7172 24 50 46
E-Mail: press@knb.kz

BOTSCHAFT DER REPUBLIK KASACHSTAN
S.E. Herrn Nurlan Onzhanov
Nordendstraße 14/17
13156 Berlin
Fax: 030-4700 7-125
E-Mail: info@botschaft-kaz.de oder berlin@mfa.kz


Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Kasachisch, Russisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 2. August 2012 keine Appelle mehr zu verschicken.


PLEASE WRITE IMMEDIATELY
  • Calling on the authorities to release Bolat Atabaev immediately and unconditionally.
  • Urge them to ensure that Bolat Atabaev receives any medical attention he may require.
  • Urge them to guarantee the right to freedom of expression in line with their international human rights obligations, including Article 19 of the International Covenant of Civil and Political Rights.

HINTERGRUNDINFORMATIONEN - FORTSETZUNG

Die Generalstaatsanwaltschaft gab bekannt, dass 16 Personen festgenommen und beschuldigt worden waren, die gewaltsamen Ausschreitungen organisiert zu haben, während mehr als 130 Menschen wegen Teilnahme an gewaltsamen Massenkrawallen festgenommen wurden. In den Tagen danach berichteten Personen, die inhaftiert und wieder freigelassen worden waren, sowie Verwandte von Inhaftierten, dass im Gewahrsam der Polizei Dutzende Gefangene, darunter auch junge Frauen, zusammen ohne Kontakt zur Außenwelt in völlig überfüllten Zellen festgehalten worden seien. Ihren Angaben zufolge mussten Inhaftierte sich ausziehen und wurden dann geschlagen, getreten und mit kaltem Wasser übergossen. JournalistInnen gaben an, aus den Vernehmungsräumen der Polizeistationen Schreie gehört zu haben. Unabhängigen BeobachterInnen wurde der Zugang nicht gestattet, sie konnten die Angaben daher nicht ohne Weiteres verifizieren. Mindestens ein Mann soll infolge von Folter in Polizeigewahrsam gestorben sein.

Das zentrale Gerichtsverfahren, in dem sich 37 Personen wegen Organisieren oder Teilnahme an den gewaltsamen Ausschreitungen verantworten mussten, begann Ende März. Die meisten Angeklagten nahmen vor Gericht ihre Geständnisse zurück und gaben an, diese seien erzwungen gewesen. Einige gaben sehr genaue Beschreibungen der Folter und Misshandlung, der sie in Haft ausgesetzt waren, ab, und einige Angeklagte konnten Polizei- und Sicherheitskräfte identifizieren, die ihren Ausagen zufolge dafür verantwortlich waren. Die Polizei- und Sicherheitskräfte, denen die Angeklagten und deren Rechtsbeistände das Eröffnen des Feuers auf Demonstrierende und die Misshandlung von Inhaftierten vorwarfen, erschienen als Opfer oder ZeugInnen vor Gerichte. Manche sagten anonym aus. Sie plädierten alle auf Notwehr. Auf die Frage, wer die Anordnung zum Schießen erteilt hätte, antworteten manche von ihnen, eine solche Anordnung habe es nicht gegeben, aber ebensowenig seien sie angewiesen worden, nicht das Feuer zu eröffnen. Auf Anordnung des vorsitzenden Richters überprüfte die Generalstaatsanwaltschaft die Foltervorwürfe, wies die Beschwerden jedoch letztendlich zurück. Von den Angeklagten wurden sieben zu Haftstrafen von bis zu sieben Jahren verurteilt.

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2012