Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH


REZENSION/699: Joe Boyd - White bicycles - Musik in den 60er Jahren (SB)


Joe Boyd


White bicycles

Musik in den 60er Jahren



Die Kabouter machten sich schon vor einem halben Jahrhundert Gedanken darüber, wie sich Städte menschenfreundlicher und weniger auf den Automobilismus ausgerichtet gestalten ließen. Die Kabouter, zu deutsch Kobold oder Gnom, hatten ihren Namen von einem Biobauern, der keine lärmenden Maschinen auf dem Acker haben wollte, weil diese die Wesen vertreiben, die für die Gesundheit der Pflanzen Sorge tragen. Eine Aktion dieser aus den niederländischen Provos hervorgegangenen anarchistischen Gruppe bestand darin, 1970 in Amsterdam weiße Fahrräder zur kostenfreien Benutzung für alle auf die Straße zu stellen. Die Stadtverwaltung hatte wenig Verständnis dafür und ließ diejenigen Fahrräder, die nicht sowieso gestohlen und umgespritzt wurden, beschlagnahmen, aber ein Anfang war gemacht. Während die Kabouter sich ihrer hauptsächlichen politischen Arbeit, dem Besetzen leerstehenden Wohnraumes und seiner Überführung in die allgemeine Nutzung, widmeten, wurde in Amsterdam vier Jahre später mit dem Projekt Witkar das erste Car Sharing-Modell der Geschichte des Automobilismus verwirklicht.

Der Musikproduzent Joe Boyd wählte die damals vielbeachtete Geschichte um die weißen Fahrräder von Amsterdam als Symbol für den Ausverkauf, der auf den Aufbruch zu besseren Zeiten fast zwingend erfolgte. Seine ebenfalls in die Jahre gekommenen Erinnerungen an die Epoche - 2006 auf englisch erstveröffentlicht - lesen sich jedoch heute so wenig angegraut wie vor zwölf Jahren. Der US-amerikanische Musikproduzent ist ein Zeitzeuge ersten Ranges, und das auch, weil er als Vertreter der Musikindustrie Einblicke in die Entwicklung der Popmusik präsentieren kann, die anderen Akteuren nicht zugänglich waren. So kritisiert er das Geschäft mit den Träumen von einem Leben, dem die Warenförmigkeit der Kunst ein Greuel ist, zumindest dann, wenn die Kommerzialisierung des Musikbetriebes zu Lasten künstlerischer und ästhetischer Entwicklungen ging.

Vor allem jedoch berichtet der zwischen den USA und Großbritannien hin und her pendelnde Boyd aus erster Hand über einige heute als legendär geltende Begebenheiten. So organisierte er 1964 eine Europatournee US-amerikanischer Blues- und GospelmusikerInnen wie Muddy Waters, Sister Rosetta Tharpe, Reverend Gary Davies, Sonny Terry & Brownie McGhee und Otis Spann. In den USA waren sie aufgrund der auch in den Künsten strikt durchgesetzten Rassentrennung nur einem schwarzen Publikum bekannt. Um so begeisterter verliefen ihre Auftritte in London, Paris und anderen europäischen Städten. Die von ihnen für den britischen Bluesrock ausgehende Inspiration führte schließlich zum Reimport des Blues in die Vereinigten Staaten, wo das weiße Publikum erstaunt entdeckte, daß die Stars jenseits des Atlantiks aus einer Musikform schöpften, deren Entstehung von der Versklavung aus Afrika nach Nordamerika verschleppter Menschen nicht zu trennen war.

Wiewohl die Bedeutung des Blues für die moderne Popmusik vom Rock bis zum HipHop kaum hoch genug zu schätzen ist, neigte sie sich damals schon ihrem Ende zu. Fast alle großen schwarzen MusikerInnen, die die weiße Rockmusik maßgeblich beeinflußten, waren schon vor der Jahrtausendwende verstorben, und Joe Boyd schätzte sich glücklich, noch die letzten Ausläufer einer Ära amerikanischer Kultur miterlebt zu haben, die schon endete, als er sie gerade entdeckte.

Der Bluesboom der Sechziger markierte das natürliche Ende der Musikform. Die Briten lehrten die Amerikaner, ihre eigene Musik zu lieben, und der plötzliche Enthusiasmus der Studenten war für das schwarze Publikum Grund genug, um weiterzuziehen. Die schwarze Bourgeoisie schämte sich schon für den Blues, und Soul und Motown gaben ihm den Rest. Ende der Sechziger traten Blueskünstler - wenn überhaupt - ausschließlich vor weißem Publikum auf.
(S. 59)

Seine erste Begegnung mit Bob Dylan hatte Joe Boyd 1964 auf einer Party in der US-amerikanischen Universitätsstadt Cambridge. Als Dylan in einem Zimmer vor wenigen Leuten einige seiner Lieder zur Gitarre vortrug, habe ihn das zu Tränen gerührt. Als sich ihre Wege das nächste Mal beim Newport Folk Festival 1965 kreuzten, war Boyd maßgeblich an der Organisation des Auftrittes beteiligt, der als die zum Skandal erhobene Elektrifizierung des American Folk in die Geschichtsbücher einging. Der Schilderung dieses legendären Ereignisses ist ein eigenes Kapitel des Buches gewidmet, in dem auch mit einigen Legenden um den von traditionellen Folkies bekämpften Einfluß Dylans auf dieses unter studentischen Jugendlichen der Zeit höchst beliebten Genres aufgeräumt wird.

Im London der 1960er Jahre machte Joe Boyd vor allem als Gründer und Manager des Musikclubs UFO Furore. Dort starteten Pink Floyd, deren erste Single "Arnold Layne" er produzierte, ihren Aufstieg zu einem Starruhm, dessen anarchische Anfänge der kulturindustriellen Verarbeitung ihrer Musik kaum fremder sein könnten. Auch Soft Machine machten im UFO erste Gehversuche, bevor sie zu einer der interessantesten britischen Avantgardebands zwischen Rock und Jazz wurden. Das UFO war 1966 Treffpunkt der Londoner Hippieszene und wurde mit seinen Lightshows, der psychedelischen Musik und den Acid-Trips dem Reisen in den inneren Weltraum suggerierenden Namen allemal gerecht. Auch die Geschichte dieses Klubs nimmt viel Raum in dem Buch ein, war sie doch für weitere popmusikalische Entwicklungen in der britischen Metropole in mancherlei Hinsicht stilbildend.

Stets den Wurzeln der Popmusik auf passionierte Weise verbunden, hat Joe Boyd auch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des britischen Folk zu einem popmusikalischen Genre, das Fans in aller Welt hat, gespielt. Ein Großteil des Buches handelt vom Aufstieg heute legendärer wie fast vergessener Bands des Genres. So eroberte die von ihm gemanagte und produzierte Incredible String Band damals die Charts mit einer versponnenen Musik, die heute bestenfalls in einem Subgenre wie psychedelischem Hippie Folk reüssieren könnte. Die weltbekannten Songschreiber Caetano Veloso und Silvio Rodriguez, der die schottische Gruppe das erste Mal hörte, als er mit einer Schußverletzung in einem kubanischen Feldlazarett in Angola lag und daraufhin beschloß, Musiker zu werden, bezeichnen ISB als wesentlichen Einfluß. Die Rolling Stones versuchten, sie Joe Boyd für ihr eigenes Label abspenstig zu machen, und Paul McCartney erklärte eines ihrer Alben zur besten LP des Jahres 1968.

Viel Raum nimmt auch die Schilderung der Entwicklung von Fairport Convention wie der Stationen, die die zahlreichen MusikerInnen absolvierten, die in dieser zur Institution gewordenen Folkband spielten, ein. Er erweist der früh verstorbenen Sandy Denny Reverenz und erinnert damit an eine Sängerin, die bis heute eine ergebene Schar von Fans hat. Die tragische Geschichte des Ausnahmekünstlers Nick Drake scheint Joe Boyd besonders berührt zu haben, hatte er doch intensiven Kontakt zu diesem englischen Folkmusiker, der 1974 mit 26 Jahren mutmaßlich den Freitod wählte. Zu Lebzeiten trotz dreier hervorragend produzierter Alben weitgehend erfolglos geblieben, wird Nick Drake heute etwa von der Gruppe R.E.M als maßgeblicher Einfluß genannt und genießt unter den FreundInnen des englischen Folks dieser Epoche einen geradezu mythischen Ruf.

Von spezifischem Interesse nicht nur für das Publikum, sondern auch die PraktikerInnen der Popmusik sind die Einblicke, die Joe Boyd in die Arbeit im Studio gewährt. Er widmet seinem Verständnis von authentischem Sound, von einer Aufnahmetechnik, die das Ergebnis nicht über Gebühr ihren einschränkenden Bedingungen unterwirft, ein eigenes Kapitel. Heute bestehe ein ganz anderes Verhältnis zum akustischen Raum, in dem die Musik aufgenommen wird, stellt der erfahrene Produzent und Arrangeur fest, werden die meisten Instrumente doch direkt ins Mischpult eingespeist und auf einer Festplatte gespeichert, ohne in der Luft widerzuhallen.

Die ideale Akustik heute ist eine tote: Digitaler Hall kann angeblich jede Atmosphäre vom Madison Square Garden bis zum eigenen Badezimmer synthetisch simulieren. Auf der Suche nach dem perfekten Stück wird jede Komponente separat hinzugefügt, so dass Fehler leicht zu korrigieren sind. Die starren Rhythmen werden von einer Maschine erzeugt. In den Sechzigern haben Musiker noch einen Großteil jedes Stückes aufgenommen, indem sie zusammen zur gleichen Zeit im gleichen Raum gespielt und damit zumindest etwas vom Kitzel des Live-Auftritts bewahrt haben. Normalerweise wurden nur Gesang und Soli später hinzugefügt. Die Musiker der Rhythmusgruppe atmeten zusammen mit den anderen Musikern, forcierten oder verschleppten den Beat, wenn die Stimmung es erforderte. Die Akustik in den verschiedenen Studios unterschied sich erheblich, ebenso die Arbeitsweisen der Tontechniker und Produzenten. Theoretisch eröffnen Computer Musikern und Produzenten eine endlose Palette an Klangmöglichkeiten. Andererseits sind sich moderne Digitalaufnahmen in ihrer Einförmigkeit weit ähnlicher, als ältere Analogstücke es waren.
(S. 250)

Die Ära der psychedelischen Musik zu Beginn der zweiten Hälfte der 1960er Jahre währte nur kurz. Joe Boyds Resumee über diese Zeit, die offenkundig die am intensivsten erlebte Phase seines eigenen Werdegangs war, fällt bei aller naheliegenden Nostalgie realistisch aus. Der Autor verklärt die Epoche, deren Strahlkraft auch 50 Jahre später kaum nachgelassen hat, während sie zugleich den Nimbus einer Unwiederbringlichkeit vertaner Chancen und verwehter Möglichkeiten annimmt, nicht ohne Grund. Sie war aus der Sicht auf Erfolg, Funktion und Effizienz getrimmter Marktsubjekte tatsächlich außergewöhnlich, bot sie doch Freiräume nicht nur imaginärer Art. Doch selbst die bloße Vorstellungskraft erblühte damals auf eine Weise, für die es heute offenbar keinen Platz mehr gibt, weil alle Bewegungs- und Handlungsräume von der Ratio des Überlebens um jeden Preis besetzt zu sein scheinen.

Boyd ist sicherlich kein hippiesker Schwärmer oder utopischer Fantast, sondern ein nüchtern kalkulierender Geschäftsmensch. Gerade deshalb ist White Bicycles im Bemühen, den in ferner Vergangenheit liegenden Entwicklungen auf angemessene Weise gerecht zu werden, ein wertvoller Beitrag zur Geschichte einer Kunstform, die in einem zeitgeschichtlichen Fenster sozialen Aufbegehrens eine Blüte vielfältiger künstlerischer Schaffenskraft erlebte, bevor sie zu einer Kulturindustrie von globaler Reichweite und vermarktungsgerechter Uniformität entuferte.

In der besten Zeit des Jahrzehnts waren wir auf eine Weise optimistisch, die man heute, da wir die Zerstörung unserer Welt miterleben, unmöglich nachempfinden kann. Bei mir regten sich erste Zweifel, als mir in London der Gegensatz zwischen dem Frühjahr und dem Herbst '67 bewusst wurde. Die Gewalt von Altamont zerstörte den Optimismus von vielen, Charles Manson und die Verwahrlosung von Haight-Ashbury verschärfte die Desillusionierung, und bei mir waren die letzten Reste Hoffnung dahin, als Michael Herr in seinem Buch An die Hölle verraten - Dispatches aufdeckte, dass amerikanische Kampfpiloten zum Spass vietnamesische Bauern niedermähten, während auf ihren Cockpitkopfhörern Dylan und Hendrix liefen. Gegen Ende meiner Zeit bei Warner Brothers stand ich auf einem Hügel im Laurel Canyon und sah im Süden den Rauch am Horizont, als eine Spezialeinheit der Polizei von Los Angeles ein Versteck der Symbionese Liberation Army ausbrannte. Um diese Zeit wurden die Ideale der Sechziger fast nur noch verzerrt wahrgenommen, wie in den Spiegeln einer Geisterbahn. Wenn sich heute die Musik verändert, dann sind die Mauern der Stadt mit Plakaten der Schallplattenmultis bedeckt, die für Künstler trommeln, deren Subversion reine Oberfläche ist.
(S. 329)

29. August 2018


Joe Boyd
White bicycles
Musik in den 60er Jahren
Antje Kunstmann Verlag, München 2007
352 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-88897-491-5


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang