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REZENSION/667: Reinhard Paulsen - Mein lieber Yanis ... Ein Essay über linke Strategie (SB)


Reinhard Paulsen


Mein lieber Yanis ...

Ein Essay über linke Strategie

und ein längerer Offener Brief an Yanis Varoufakis


LINKE STRATEGIE - gegenüber diesem in groß gedruckten, knallroten Versalien auf schwarzem Hintergrund optisch besonders hervorgehobenen Essaythema nimmt sich der eigentliche Buchtitel "Mein lieber Yanis..." eher bescheiden aus. Linke Strategie - mit diesen Worten weckt der Autor Reinhard Paulsen, Historiker mit jahrzehntelanger basisgewerkschaftlicher und beruflicher Erfahrung als Betriebsschlosser in einer Aluminiumhütte und später in der chemischen Industrie, recht hohe Erwartungen. Lassen sich in dem kleinen Bändchen neue Antworten oder zumindest noch unverbrauchte Hinweise finden für die brennend-aktuellen Strategiefragen einer Zeit, in der gerade Linke vor größeren Herausforderungen denn je zu stehen scheinen und dabei Gefahr laufen, sich durch eine aggressiv auftretende Rechte in die Reaktion bringen zu lassen?

Was aber hat das alles mit dem Wirtschaftswissenschaftler Yanis Varoufakis, früherer griechischer Finanzminister und Mitinitiator der "Bewegung Demokratie in Europa 2015", kurz DiEM25, zu tun, dem der Autor das Buch in Form eines langen, essayartigen Briefes gewidmet hat? Ist DiEM25, die im Februar 2016 auf einer Großveranstaltung mit Varoufakis in Berlin der Öffentlichkeit erstmals vorgestellte paneuropäische Demokratiebewegung, eine Antwort auf offene linke Strategiefragen oder, wie bereits geargwöhnt wurde, doch eher Teil des Problems?

Reinhard Paulsen war zunächst, wie er im Vorwort schrieb, von der neuen Bewegung so angetan, daß er sich ihrer Hamburger Ortsgruppe sofort anschloß. An Varoufakis, dessen Vorgaben Dreh- und Angelpunkt von DiEM25 seien, habe er sich mit dem Offenen Brief erst gewandt, nachdem er mit seinen Einwänden auf taube Ohren gestoßen sei. Zum Kern des Disputes gehört die Frage, wie DiEM25 zur Europäischen Union steht, die sie ihrem Manifest zufolge "demokratisieren" wolle. [1] Unter Linken, die in der EU ein imperialistisches Machtinstrument sehen, das mit einer radikalen Demokratisierung ebenso unvereinbar sei wie mit einer konsequenten Sozial- und Friedenspolitik, stößt sie damit auf Kritik, gilt ihnen doch der Kapitalismus, ob in Europa oder anderswo, als nicht reformierbar. Was aber sagt nun Varoufakis dazu?

Wollt ihr wissen, was mein Bestreben ist? Den europäischen Kapitalismus stabilisieren! Denn diese konstante Abwärtsspirale ist schrecklich für die Linke. Sie ist schrecklich, will man die Menschen wo auch immer, aufwecken. Sie ist ein vollkommenes Geschenk für die Ultranationalisten, die Eiferer, die Menschenverächter, die Rassisten. Lasst uns das tun, ihn stabilisieren. Und dann, dann können wir wieder mit dem Klassenkrieg anfangen, dem Klassenkonflikt, diesem links vs. rechts Ding.
(S. 48)

Dieser Argumentation hält der Autor, an Varoufakis gewandt, entgegen:

Du planst, das europäische System der kapitalistischen Bosse zu stabilisieren, ohne sie mit Klassenkampf in der Zeit zu belästigen, in der es das System zu reparieren gilt. Wenn sie dann wieder, dank deiner Beratung, aus dem Schneider sind, dann empfiehlst du, den Klassenkonflikt wiederzubeleben. Diesen Unsinn kannst du doch unmöglich im Sinn haben und dich gleichzeitig als Linker fühlen, oder?
(S. 49)

Wiewohl der Autor an Stellen wie diesen Formulierungen wählt, die DiEM25-Aktivisten als despektierlich gegenüber Varoufakis empfinden könnten, stellt er doch klar, daß er den populären Wirtschaftswissenschafler als Mitstreiter gewinnen möchte für einen politischen Kampf, so wie er ihn sich vorstellt:

Ich bitte dich Yanis, kehre jener Sorte von akademischen Karriereberatern des Kapitalismus den Rücken. Völker und Befreiungsbewegungen haben wirklich Bedarf an Persönlichkeiten mit beeindruckendem Auftreten. Sie brauchen Wirtschaftswissenschaftler, die aufbegehrenden Völkern die Achillesfersen des herrschenden Wirtschaftssystems erklären und ihnen Wege aufzeigen können, wie man es entschärfen und damit den Abgrund, dem wir uns nähern, entgehen kann. Die Welt benötigt Intellektuelle mit dem Herz am rechten Fleck und einer ehrlichen, schlichten Parteinahme für die hart arbeitenden einfachen Leute.
(S. 105)

Ganz im Stil des Autors, der Varoufakis mit "lieber Yanis" direkt anspricht, könnte an ihn zurückgefragt werden: "Lieber Reinhard! Wieso verlangst du nur nach einer Parteinahme für die 'hart arbeitenden einfachen Leute'?" Paulsen schreibt in seinem Essay, daß schon in der Bronzezeit vor 50.000 Jahren eine herrschende Oberschicht die Masse der Produzenten der Unterschicht ausgebeutet hätte, während die arbeitenden Menschen gut ohne sie ausgekommen wären. Die Herrschenden hätten von Anfang an verhindert, daß diesen dies bewußt werde, doch mutige Männer wie der Apostel Paulus hätten das Tabu durchbrochen - der habe die frühchristlichen Gemeinden gelehrt: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. (S. 89) "Willst du wirklich", so könnte der Autor abermals gefragt werden, "einem Menschen, der - aus welchen Gründen auch immer - nicht arbeitet, das Brot verweigern, die Lebensberechtigung absprechen und auf diese Weise als Linker einem auf einem solchen Arbeitsdiktat basierenden Gesellschaftsentwurf das Wort reden?"

Die von Paulsen an Varoufakis gerichteten Kritikpunkte sind deshalb nicht weniger plausibel. Der Autor bemängelt, daß dieser "die internationalen Zusammenhänge der europäischen Staatenwelt" ausspare und zur Stabilisierung des europäischen Kapitalismus darauf bestehe, daß "Europa als Ganzes abgeschottet werden müsse". (S. 51) Dieser Argumentation hält er entgegen, daß es in dem "längst wütenden" Ökonomischen Weltkrieg keine europäische Insel der Stabilität geben könne. Ein weiterer Vorwurf lautet, daß es sich bei DiEM25 um eine Neuauflage des aus Studentenbewegungszeiten sattsam bekannten Konzepts eines Langen Marsches durch die Institutionen handeln würde, wofür Paulsen als Beleg anführt, Varoufakis habe gepostet, die progressiven Internationalisten müßten sich die Übernahme von Downing Street No. 10 vornehmen. (S. 63) DiEM25 müsse, so der Autor, realistischerweise in eine Bewegung zur Rettung des europäischen Kapitalismus umbenannt werden. (S. 70)

Paulsen unterscheidet zwischen Unternehmen der Realwirtschaft, von denen er sagt, daß sie einen wirklichen und dauerhaften Wert darstellten (S. 92), und einem Finanzkapitalismus im Sinne eines Börsengeschehens, das ununterbrochen fiktives Kapital und Scheinwelten erzeuge, die einem übernatürlichen Nichts entstiegen seien und in der Finsternis der Verdammnis wieder verschwänden. (S. 91) Wie er diese Unterscheidung zwischen Real- und Finanzwirtschaft glaubt durchhalten zu können, bleibt unklar; seine Kapitalismuskritik beschränkt sich insofern auf die Kritik des Finanzkapitalismus, dessen Beseitigung er folgerichtig zum strategischen Hauptziel erklärt.

Eine Strategie auf realistischer Grundlage sei vonnöten, so Paulsen (S. 70), der Gordische Knoten des Kapitalismus müsse durchschlagen werden. (S. 74) Seine eigene Vision jedoch, wie er es nennt, eine Art globaler Notfallplan, um die Welt vor dem Untergang zu bewahren, scheint kaum geeignet zu sein, die hochgestreckten Erwartungen zu erfüllen. Darin spricht der Autor "der plutokratischen, oligarchischen und pseudodemokratischen Schicht das Recht ab, sich auf ein Rechtssystem zu berufen, das eine destruktive, parasitäre Finanzwelt legalisiert, in der erarbeiteter Mehrwert der schaffenden Bevölkerung veruntreut wird", auch spreche er ihr das Recht ab, an den Schalthebeln der Macht zu sitzen, sich menschliche Arbeitskraft zu kaufen und die Natur zu ruinieren. (S. 77/78) Kaum vorstellbar, daß nicht auch Varoufakis und die übrigen DiEM25-Aktivisten dieser Vision zustimmen würden!

Auf einer Veranstaltung in Hamburg im vergangenen November hatte Varoufakis erklärt [2], daß DiEM25 keine explizit linke Initiative sei, sondern ein temporäres Bündnis von Linken mit Liberalen, progressiven Konservativen, Grünen und anderen zu dem Zweck, den Vormarsch der Rechten zu stoppen und Europa zunächst einmal zu stabilisieren; schließlich dürfe der Fehler der frühen 1930er Jahre, als Kommunisten und Sozialdemokraten sich gegen den drohenden Faschismus nicht zusammenschlossen, nicht wiederholt werden. Der Kampf sei nicht gegen, sondern in und um die EU zu führen, um in ihren Institutionen auf eine Neukalibrierung hinzuwirken, so Varoufakis.

Selbstverständlich sind solche Argumente nicht neu, sie sind in linken respektive gewerkschaftlichen Kreisen bereits häufig auf Kritik gestoßen, und so stellt auch Paulsen in seinem Offenen Brief die Frage, ob es für eine "heutige, linke, basisdemokratische Bewegung nicht erbärmlich" sei, "sich strategisch vorzunehmen, die EU schützend zu umzäunen und den europäischen Kapitalismus zu reparieren und vor sich selbst zu retten?" (S. 95)

Auch mit den zeitlich gestaffelten Zielvorgaben von DiEM25 hat sich der Autor kritisch auseinandergesetzt. Laut Manifest gilt die volle Transparenz bei der Entscheidungsfindung der EU-Institutionen als sofortiges Ziel (das war im Frühjahr 2016). Innerhalb von 12 Monaten (also bis Frühjahr 2017) wollte DiEM25 die aktuelle Wirtschaftskrise mit den bestehenden Institutionen und im Rahmen der bestehenden EU-Verträge angehen in den fünf Krisenbereichen Staatschulden, Banken, Investitionsschwäche, Migration und wachsende Armut. Nach zwei Jahren (also bis Frühjahr 2018) will man eine Verfassungsgebende Versammlung erreicht haben und dann, bis 2025, auch die Umsetzung ihrer Beschlüsse. [1] Dem hält Paulsen entgegen:

Mal im Ernst, Yanis, was sind denn die großen Fragen unserer Zeit? Transparenz durch veröffentlichte Sitzungsprotokolle in Brüssel und Organisierung von EIB/EIF-Investitionen in Südeuropa oder den Finanzkapitalismus daran hindern, die Welt in den Abgrund zu stürzen? Europa vor der Welt zu schützen und den europäischen Kapitalismus zu reparieren, oder auf globaler Ebene die überflüssigen und zurückgehaltenen Milliarden des Finanzkapitals für die Lösung der dringendsten Weltprobleme zu verwenden? Wofür lohnt es sich zu kämpfen? Ich kann nur alle DIEMer und das ganze linke Lager bitten, sich diese Fragen ernsthaft zu beantworten. Ja, ich habe auch Angst vor dem, was der Welt bevorsteht und ich wünsche uns allen die Zivilcourage, die wir benötigen, um gegen die momentane Tide standzuhalten.
(S. 104)

Möglicherweise liegen der Autor und der von ihm gleichermaßen kritisierte wie umworbene Varoufakis in ihren Auffassungen und strategischen Überlegungen gar nicht so weit auseinander, wie es vielleicht den Anschein hat. Ungeachtet der angedeuteten Widersprüche und Fragwürdigkeiten ist der kleine Band "Mein lieber Yanis ..." nicht zuletzt deshalb zu empfehlen, weil sich der Autor mit seiner Kritik und den eigenen strategischen Vorstellungen seinerseits (an)greifbar macht. Gegen seine an die gesamte Linke gerichteten Bitte, sich ernsthaft der Frage zu widmen, wofür es sich zu kämpfen lohne, wird wohl kaum jemand einen Einwand erheben wollen. Es sei lebenswichtig, so sein Fazit, an allen sozialen, politischen und ökonomischen Kämpfen aktiv teilzunehmen und die Aktivisten für den Widerstand zu gewinnen, wobei es unsere spezielle Aufgabe sei, den Ereignissen eine realistische Perspektive mitzugeben. (S. 104)

Doch wer sind "wir"? Und stellen nicht die letztgenannten Begriffe - Ereignisse, realistisch, Perspektive - einen Rückgriff auf vermeintliche Unabänderlichkeiten eines weltweit operierenden, Kapitalismus genannten Systems dar, dessen nicht zu Ende gebrachte Kritik der Autor Varoufakis und anderen zum Vorwurf macht? Oder will er vielleicht nur die Frage stellen, worin sich DiEM25 beispielsweise von den Gewerkschaften so wesentlich unterscheiden zu können glaubt und ob diese nicht doch die bessere Alternative seien? Es könnte u.a. leicht der Eindruck entstehen, als würde hier der Versuch unternommen, die Prominenz Varoufakis' als Gleitmittel zum Zweck des eigenen Veröffentlichungserfolges in Stellung zu bringen.


Fußnoten:

[1] http://diem25.org/manifesto-lange-Version/

[2] Siehe auch den Veranstaltungsbericht im Schattenblick unter www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/252: Aufbruch demokratisch - kleinster Nenner ... (SB)

15. März 2017


Reinhard Paulsen
Mein lieber Yanis ...
Ein Essay über linke Strategie
Und ein längerer Offener Brief an Yanis Varoufakis
Verlag tredition GmbH, Hamburg - 2016
110 Seiten
ISBN Paperback 978-3-7345-8321-6, e-Book 978-3-7345-8323-0


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