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REZENSION/659: W. Baer, K.-H. Dellwo (Hg.) - Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien (Geschichte) (SB)


Willi Baer und Karl-Heinz Dellwo (Hg.)


Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien

Die sechziger Jahre: Die Entstehung des neuen Antifaschismus.



Seit Beginn der sechziger Jahre kam es in Italien zu Ausbrüchen heftiger Klassenkämpfe, deren Radikalisierung nicht nur die herrschenden Kräfte in Staat und Gesellschaft überraschte, sondern auch das parteipolitische Establishment der Linken in Gestalt der Kommunisten (PCI) und Sozialisten (PSI) erschütterte. Diese Auseinandersetzungen stellten den Auftakt zu einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung und Politisierung nicht nur in Italien selbst, sondern in Westeuropa dar, welche die folgenden Jahre prägen sollte.

Die soziale Zusammensetzung der italienischen Arbeiterschaft hatte sich dramatisch verändert. Innerhalb weniger Jahre zogen eineinhalb Millionen subproletarische Jugendliche aus dem Süden in das norditalienische Industriedreieck Turin - Genua - Mailand, wo sie an den Fließbändern der Massenproduktion landeten. Sie wohnten zusammengepfercht und unter erbärmlichen Verhältnissen in den aus dem Boden gestampften Trabantenghettos, schlechter noch als in der Armut des landwirtschaftlich geprägten und rückständigen Südens, der sie durch ihre Wanderung nach Norden zu entfliehen gehofft hatten. Ihr Feind waren nicht die Deutschen und Faschisten des Zweiten Weltkriegs, von denen die Veteranen der Resistenza berichteten, sondern die Repräsentanten der herrschenden Verhältnisse, unter denen sie tagtäglich litten, und der aufgerüstete Polizeiapparat, der ihr Aufbegehren mit massiver Repression überzog.

Neuartige Abteilungsstreiks, die exemplarisch in einigen Mailänder Großbetrieben erprobt wurden, mündeten in einen Zyklus weitreichender Fabrikkämpfe, die bald durch politische Streiks überlagert wurden. Es kam zu heftigen Straßenkämpfen in mehreren Städten, die im Juli 1960 die von den Neofaschisten gedeckte Mitte-Rechts-Regierung Tambronis in die Knie zwangen. Zwei Jahre später folgte die Revolte in der Turiner Massenproduktion gegen den separaten Tarifabschluß einer FIAT-hörigen Gewerkschaft. Der Einsatz schwerbewaffneter paramilitärischer Polizeikräfte wurde von den Arbeiterinnen und Arbeitern unter großen Opfern aufgehalten und letztlich zurückgeschlagen.

In der Bewertung dieser Kämpfe setzte sich die Auffassung durch, daß sich ein neues Klassensubjekt herausgebildet habe, das von den Massenarbeiterinnen und -arbeitern der Fließbandproduktion dominiert wurde. Diese sahen sich von den Parolen und Kampfformen der traditionellen Arbeiterlinken nicht mehr repräsentiert und konfrontierten die nostalgisch gewordene Resistenza-Kultur mit der Resistenza rossa der aktuellen Konflikte. Gegen den autoritären Kurs der Regierung mobilisierten diese jungen Militanten massenhafte Präsenz auf der Straße, wo sie die Gegengewalt der direkten Aktion praktizierten.

Im Zuge dieser blutigen Auseinandersetzungen erteilten sie der von der kommunistischen Parteiführung immer offener vertretenen Strategie des "Historischen Kompromisses" eine eindeutige Absage. Die linken Traditionsparteien mißtrauten der Radikalität der jungen Arbeiterschaft und versuchten vergeblich, sie vermittelnd zum Einlenken zu bewegen und in kontrollierbare Bahnen zu manövrieren. Andererseits machten sich die Jugendverbände der Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschaften und selbst der katholischen Kirche zunehmend auf den Weg zu den proletarischen Altersgenossen in den Großfabriken und Ghettos.

Ein kritische Intelligenzschicht, bestehend aus Studierenden, jungen Akademikern und Technikern, suchte die Begegnung mit den Massenarbeitern, woraus sich eine neue Gegenkultur der Jugendzentren, Musikklubs, Zeitschriften, Radios und Filmstudios herausbildete. Erklärtes Ziel dieses Klassenbündnisses war es, sich mit Kompetenz und Fachwissen auf die Seite der Ausgebeuteten zu schlagen. Darüber hinaus ging es nicht zuletzt darum, die eigenen Bedürfnisse und den Alltag an die Erfordernisse des revolutionären Aufbruchs anzugleichen. Auf diese Weise wurde der "Operaismus" geboren: Die militanten Arbeiterinnen und Arbeiter eignen sich die Kompetenzen der kritischen Wissensproduktion an, während die militanten Intellektuellen ihre Lebenssphäre in die proletarischen Milieus verlegen und dort aktiv werden.

Dieser Ansatz eines sich wechselseitig bedingenden Lernprozesses, in dem die Ausbeutungserfahrungen gemeinsam untersucht werden, befaßte sich mit Verfahren einer herrschaftsfreien Wissensproduktion, die weit über Italien hinaus Eingang in den Aufbruch der sechziger und siebziger Jahre fand. Der intellektuelle Akteur war gefordert, seine Arbeitsinstrumente in den emanzipatorischen Prozeß einzubringen. Im Operaismus nahm der Forschungsansatz Gestalt an, den proletarischen Alltag in Fabrik und Gemeinde zur gemeinsamen Lebenserfahrung und zum gemeinsamen Untersuchungsgegenstand zu machen.

Zugleich ging es dem Operaismus darum, die Konzepte der sozialistischen Theorie auf die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit zu beziehen und insbesondere die marxsche Kritik der politischen Ökonomie auf die Praxis anzuwenden. So waren es schließlich Operaisten der ersten Generation, die den gegen Ende der sechziger Jahre einsetzenden Übergang von Fordismus in die postfordistische Ära erkannten: Die Auflösung der großbetrieblichen Massenproduktion, die Dezentralisierung des Fabriksystems, die Prekarisierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und die technischen Innovationen im Transportsektor als Voraussetzung der Globalisierung der Wertschöpfungsketten.


Die neuen Klassenkämpfe in Italien

Mit dieser heute weithin vergessenen Epoche der italienischen Geschichte befaßt sich Band 31 der im Laika Verlag erscheinenden "Bibliothek des Widerstands". [1] Unter dem Titel "Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien. Die sechziger Jahre: Die Entstehung des neuen Antifaschismus" bietet die inhaltlich anspruchsvolle und attraktiv ausgestattete Abhandlung in den darin dargestellten Grundkonflikten gesellschaftlicher Auseinandersetzung ein historisch hochwertiges Werk. Es stellt zugleich Handhabe bereit, sich den durchweg drängenden Fragen einer Linken zwischen gescheiterter Revolution und systemintegrativem Reformismus zu stellen, die nichts von ihrer Brisanz und Aktualität verloren haben.

Auf eine Einführung von Karl Heinz Roth folgen drei Kapitel, deren erstes zum Thema "Der Antifaschismus im Juli 1960" von Cesare Bermani das umfangreichste und in seinem dokumentarischen Charakter zentrale Segment des Bandes ist. Der militante Historiker begann 1962 mit mündlichen Quellen zu arbeiten und entwickelte in der Folge eine ausgefeilte Methodik, der vorherrschenden Geschichtsschreibung einen aus dem kollektiven Gedächtnis geschöpften Widerpart mündlicher und schriftlicher Quellen entgegenzusetzen. Im zweiten Kapitel "Der Operaismus: Eine Innenansicht" legt Sergio Bologna die Auseinandersetzung mit der marxistischen Orthodoxie und dem traditionellen Selbstverständnis der sogenannten Intelligenz von ihren Anfängen bis zu ihrer Ausstrahlung in die folgenden Jahrzehnte dar. Dabei werden die weitreichenden Impulse dieser ersten Generation der Operaisten, unter denen vor allem Bermani und Bologna als Herausgeber der Zeitschrift Primo Maggio zu nennen sind, durchaus mit der oftmals selektiven Herangehensweise und den nicht immer soliden Resultaten kontrastiert - auch dies ein schätzenswerter Einblick in Kontroversen, die in der Folge mehrere Generationen der Linken in Atem halten sollten. Jacopo Chessa und Annemaria Licciardello befassen sich im dritten Kapitel "Ein Kino von allen und keinem" mit dem Entstehen des militanten italienischen Kinos der sechziger Jahre, seinen maßgeblichen Protagonisten und seinen Inhalten.

Der Band enthält eine Reihe von Originalfotos, die insbesondere die Kämpfe gegen die Staatsgewalt und den Vormarsch der Faschisten illustrieren. Beigefügt sind zwei DVDs mit zeitgenössischen Filmdokumenten, welche unter anderem die Ausführungen der ersten beiden Kapitel unterstreichen und ergänzen. So zeigen beispielsweise in DVD 1 "1960 I Ribelli" und in DVD 2 "La via sicura" auf höchst anschauliche Weise die Herausbildung der Protestbewegung und deren Kampfaktionen.


Die Schwäche der italienischen Traditionslinken

Ein kurzer Rückblick in die Vorgeschichte der damaligen Kämpfe mag dazu beitragen, sich ihre Ausgangssituation zu vergegenwärtigen. [2] Die italienische Resistenza hatte im Zweiten Weltkrieg Siege errungen und gesellschaftliche Veränderungen erstritten, wie man sie vordem für unmöglich gehalten hätte. Bevor sie zum Fanal für andere westliche Länder heranreifen konnten, wurden sie von einem reaktionären Konter der nationalen Bourgeoisie im Schulterschluß mit den Alliierten im Keim erstickt. Die Niederlage der Linken verdankte sich allerdings nicht allein einer Übermacht des Gegners, sondern auch einem Rückfall hinter zuvor eingenommene strategische wie ideologische Positionen, der fatale Weichenstellungen zur Folge hatte.

Ende April 1945 war der italienische Imperialismus geschlagen, sein ökonomisches und politisches Fundament grundlegend erschüttert. Kommunisten und Sozialisten konnten sich auf eine Massenbasis stützen. Über eine halbe Million Kämpferinnen und Kämpfer standen unter Waffen, das Ziel einer antifaschistischen, antiimperialistischen und revolutionär-demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft stand auf der Tagesordnung. In Norditalien waren zwei Partisanenrepubliken und in der Folge zeitweise 15 befreite Gebiete entstanden, in denen die Linken bereits die Umgestaltung in Angriff genommen und das Vertrauen der Bevölkerungsmehrheit gewonnen hatten. Im Süden besetzten Landarbeiter, Tagelöhner und Halbpächter das Land der Großgrundbesitzer.

Mit der Waffe in der Hand und der Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung im Rücken hatte sich die von Kommunisten und Sozialisten angeführte Resistenza bis an die Schwelle einer gesellschaftlichen Umwälzung vorangekämpft. Es fehlte jedoch ein klarer Entwurf für die Nachkriegszeit, was sich als verhängnisvoll erweisen sollte. Die PCI gab die Errungenschaften preis, indem sie auf den Parlamentarismus setzte und einer Regierungsbeteiligung den Zuschlag gab. Sie entwaffnete den Widerstand, verzichtete auf die Massenbewegung und ließ damit die Konterrevolution erstarken. Wenngleich es in der Nachkriegsordnung noch zu gewissen sozialen Errungenschaften kam, erwiesen sie sich doch in den Fesseln der wiedererstarkenden Herrschaftsverhältnisse als vorübergehende Konzessionen zur Einbindung der Linken in einen Reformismus, die ihr die Zähne zog.

PCI-Generalsekretär Palmiro setzte das Bündnis mit der Democrazia Cristiana (DC) fort, das ihn zu weitreichenden Zugeständnissen zwang. Im Zuge der sogenannten Amnestie der "nationalen Versöhnung" wurden gegen Kriegsverbrecher ergangene Urteile revidiert, was die bereits 1946 erfolgte Wiedergründung der Mussolini-Partei in Gestalt des Movimento Sociale Italiano (MSI) begünstigte, die umgehend zum Sammelbecken der alten Faschisten wurde. Die Wahl des MSI ins Parlament verschaffte dieser Partei eine demokratische Legitimität und machte sie für die DC zu einem unverzichtbaren Lieferanten benötigter Stimmen bei den Wahlen.


Repression trifft auf unerwarteten Widerstand

Das war die Ausgangssituation im Sommer 1960, als es zu den von Cesare Bermani dargestellten Protesten gegen Ministerpräsident Fernando Tambroni (DC) kam. Dieser hatte selbst eine faschistische Vergangenheit und war mit den Stimmen des MSI gewählt worden. Tambroni genehmigte die Durchführung eines für den 2. Juli in Genua anberaumten Parteitages der Faschisten, was eine unerhörte Provokation darstellte. Die Stadt galt als Hochburg der Resistenza und Linken, und so gingen am Vorabend des Kongresses mehr als hunderttausend Menschen auf die Straße, um gegen den längst wiedererstarkten Faschismus wie auch die Regierung Flagge zu zeigen. Gestützt auf Zeitzeugen schildert Bermani die Auseinandersetzungen, bei denen auf Anweisung Tambronis die Polizei mit Schlagstöcken, Tränengas, Wasserwerfern und Fahrzeugen bis hin zu Panzern paramilitärischer Einheiten gegen die Demonstrierenden vorgeht. In mehreren Städten Norditaliens wurde der Generalstreik ausgerufen, in Reggio Emilia schoß die Polizei in die Menge und tötete fünf Menschen, auch in weiteren Städten waren Opfer zu beklagen, von zahlreichen Verletzten, Verhafteten und Gefolterten ganz zu schweigen.

Die seit geraumer Zeit auf ein Szenario der Niederschlagung von Unruhen in der Bevölkerung vorbereiteten Polizeikräfte stießen bei ihrem repressiven Vorgehen auf unerwarteten Widerstand:

Die Wasserwerfer fuhren hervor, und im nächsten Moment flogen aus allen Mündungen und in alle Richtungen die Tränengasbomben. Das Heer der Schlagstöcke begann niederzuprasseln. Wer fliehen konnte, floh. [...] Dann geschah etwas, was niemand vorhersehen konnte. Die Menge kehrte um. Angesichts dieser Reaktion der alten Antifaschisten schlossen sich aus allen Richtungen die jungen Leute an. Viele von ihnen waren nicht einmal 20 Jahre alt. [...] Es waren Arbeiter und Studenten, aber vorwiegend Arbeiter oder Söhne von Arbeitern. [...]

(S. 55)

Insgesamt kommen 7.000 Polizisten und Carabinieri nach Genua, "mit dem Befehl, auf die Demomstranten zu schießen". [...] In einer vorrevolutionären Atmosphäre wirft sich aber ganz Genua in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli noch einmal in den Straßenkampf. [...] In den Hafenvierteln hatte man in der Nacht zuvor Hunderte von Molotow-Cocktails angefertigt. Im Industriegebiet vor der Stadt hatten sich die alten Partisanenformationen bewaffnet und waren bereit, ins Zentrum zu gehen. In den Hafenvierteln [...] wurden zwei Meter hohe Barrikaden aus Steinen und Holz gebaut. Man schätzt, dass 500.000 Arbeiter mobilisiert wurden, die bereit standen, um am zweiten Juli ins Stadtzentrum zu gehen.

(S. 61)

Angesichts dieses Widerstands und der landesweit ausgedehnten Streiks mußte der Polizeipräsident von Genua die Genehmigung für den Parteitag des MSI zurückziehen, Tambroni am 19. Juli zurücktreten. Erkämpft hatte dies eine sich neu formierende Bewegung aus desillusionierten Mitgliedern von Jugendverbänden der linken Parteien und zahlreichen parteilosen jungen Arbeitern, die das gemäßigte Vorgehen des PCI und PSI ablehnten, für das revolutionäre Erbe der Resistenza eintraten und den rechtsgerichteten Kräften einen neuen Antifaschismus entgegensetzten.

Nachdem der repressive Kurs der DC an den landesweit ausbrechenden Unruhen und Streiks gescheitert war, setzte sich in der Partei der Reformer Aldo Moro durch. Er bildete im Dezember 1963 eine Mitte-Links-Regierung mit den Sozialisten, die dafür wesentliche Positionen preisgaben. Der PSI ließ seine Forderung nach einem gesellschaftlichen Eigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln fallen, kündigte die Aktionseinheit mit den Kommunisten auf und billigte offiziell die Mitgliedschaft in der NATO. Repräsentanten des linken Flügels verließen daraufhin den PSI und gründeten im Januar 1964 die Italienische Sozialistische Partei der Proletarischen Einheit (PSIUP). Damit zerbrach die Einheit der linken Parteien, was man in einem negativen Sinn als einer bedeutendsten Leistungen des von reaktionären Kreisen abgelehnten Aldo Moro bezeichnen kann. Während die bürgerlichen Parteien durchaus in der Lage waren, zur Sicherung der gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Repression und Reform zu navigieren und zu taktieren, war für die Linke jede befristete Regierungsbeteiligung letzten Endes ein Sargnagel.

Bermani greift in seinem Beitrag über das gesamte Jahrzehnt bis hin zu den Ende 1967 einsetzenden Studentenprotesten und den nach dem Bombenanschlag des 12. Dezember 1969 in Mailand einsetzenden "bleiernen Jahren" aus. Um die radikale und oftmals außerparlamentarische Linke bis hin zum bewaffneten Kampf entscheidend zu schwächen, sie von der traditionellen Arbeiterbewegung abzuspalten und diese insgesamt zu lähmen, wurden im Zuge einer Spannungsstrategie innovative Methoden der Subversion, Attentate und Umsturzpläne zur Anwendung gebracht. Auf den faschistischen Anschlag von Mailand, bei dem 16 Menschen getötet und über 80 verletzt wurden, folgte binnen drei Tagen die Festnahme von mehr als 300 Personen aus den Kreisen der Anarchisten und der außerparlamentarischen Linken. CIA, die NATO-Geheimtruppe Gladio, römische Geheimdienste und Faschisten schufen ein Klima der Unsicherheit, Einschüchterung und Bezichtigung der Linken. Wie erfolgreich diese Strategie war, zeigte sich nicht zuletzt an der Reaktion der PCI-Führung, die sich vom radikalen Flügel der Partei abgrenzte wie auch auf Distanz zu den anarchistischen und autonomen Gruppen ging. Im November 1969 wurde die unter dem Namen Manifèsto entstandene innerparteiliche Opposition ausgeschlossen, wodurch die Partei etwa 10.000 Mitglieder verlor.


Pfadfinder durch den Wildwuchs des Operaismus

Um eine Innenansicht des italienischen Operaismus zu leisten, hätte man kaum einen kompetenteren Pfadfinder durch den zwangsläufigen Wildwuchs dieser lebendigen Bewegung finden können als Sergio Bologna. Er war nicht nur einer der führenden Intellektuellen des Operaismus, der sich in zahlreichen Zeitschriften wie "Quaderni Rossi", "Classe Operaia", "Lotta Continua" oder "Manifèsto" wie auch maßgeblichen Organisationen wie Potere Operaio um seine Ausgestaltung und Weiterentwicklung bemühte. Vielmehr blieb er auch dieser Bewegung lebenslang verbunden, ohne seine zugewandte und zugleich kritische Auseinandersetzung mit ihr preiszugeben.

Das ist um so bemerkenswerter, als der Operaismus im Spannungsfeld zwischen praxisbezogener Aneignung marxistischer Theorie und deren reformistischer Entsorgung aus ekletizistischen Anfängen in zahlreichen Strömungen teils zusammenwuchs, teils immer weiter auseinanderdriftete. In Abgrenzung von der traditionellen parteipolitischen Linken entstanden und vom Interesse getragen, sich auf innovative Weise den aktuellen Herausforderungen zu stellen, widmete sich diese aus zahlreichen kleineren Zusammenhängen bestehende Bewegung insbesondere der Untersuchung der Arbeitswelt in den Fabriken wie auch der urbanen Lebensverhältnisse. Ihr großes Verdienst besteht in der tiefgreifenden Erforschung der damaligen Arbeitsbedingungen und deren Veränderungen samt einer Theoriebildung, die sich mit dem System der Produktionsverhältnisse und der sich wandelnden Klassenzusammensetzung befaßte.

Führende Protagonisten wie Sergio Bologna, Raniero Panzieri, Mario Tronti, Antonio Negri, Enzo Grillo oder Gaspare De Caro waren prägend für diverse Strömungen der gesamten westeuropäischen Linken. Untersuchungen wie jene zum Fabriksystem, Krisenstaat, multinationalen Arbeiter, Postfordismus und Finanzkapital, zur tertiären Gesellschaft und zum prekären Jugendlichen bis hin zum neuen Selbständigen in Gestalt des Freelancers begründeten und beeinflußten die Diskussionsprozesse der neuen emanzipatorischen Bestrebungen und Bewegungen wie auch den wissenschaftlichen Diskurs.


Das militante italienische Kino

"Das militante Kino ist eines der noch nicht geschriebenen Kapitel der Geschichte des italienischen Kinos." (S. 220) Im Schatten des weithin bekannten politischen Kinos und seiner namhaften Protagonisten entstand ersteres im Schoß der Studentenbewegung seit Ende der sechziger Jahre in engem Kontakt zur außerparlamentarischen Opposition. Es war keine Künstlerbewegung, sondern Ausdruck der außergewöhnlichen politischen Situation seiner Zeit. Während sein Mangel an experimentiellen Formen als seine wohl größte Schwäche zu nennen ist, stand dem als Hauptziel gegenüber, Zugänglichkeit für ein Publikum aus Arbeiterschaft und Militanten zu erwirken. Es ging um Gegeninformation, wofür dokumentarisches Material eingesetzt wurde, jedoch die Bildsprache zumeist hinter den Kommentar zurücktrat. Zugleich war die Herstellung dieser Filme ein Gegenentwurf zur vorherrschenden Filmproduktion: Die Kollektive des militanten Kinos stellten einen der wichtigsten Ansätze dar, ein Kino ohne Autoren zu schaffen, dessen Stoßrichtung nicht Ästhetik oder Unterhaltung, sondern Aufklärung und Agitation ist.


Aus welcher Geschichte lernen?

Angesichts einer Okkupation von Geschichte, die den Sozialismus für gescheitert erklärt, ihn aber weiterhin verteufelt, als fürchte sie nichts mehr als seine Wiederkehr, tut Aufklärung im Sinne einer Bibliothek des Widerstands not. Wo Deutungsmacht in einem Maße das Feld beherrscht, daß man von Denkkontrolle sprechen könnte, wird die ausgeblendete, verdrängte und geleugnete Historie fast schon ein Lebenselixier widerständigen Geistes. Allerdings lehrt gerade die in diesem Band dargestellte Epoche der Kämpfe in Italien, daß die in jener Zeit vehement erhobene Forderung, man müsse über Marx hinausgehen, in höchst unterschiedliche Richtungen führen kann. Man denke nur an die in der Abhandlung über den Operaismus leider allenfalls gestreifte Sympathie von Teilen der Autonomia um Toni Negri für Foucault und die neuen französischen Philosophen wie insbesondere Gilles Deleuze, deren poststrukturalistische Ansätze weithin als eine Weiterentwicklung des Marxismus mißdeutet wurden, obgleich es sich wie im Falle Deleuzes oftmals um bekennende Antikommunisten handelte. Doch das wäre nur eine von zahlreichen Fragen, zu deren Weiterentwicklung dieser Band reichhalten Stoff bereitstellt. Das letzte Wort, so scheint es, auf welche Weise man aus der Geschichte lernen kann, ist noch nicht gesprochen.


Fußnoten:

[1] Siehe dazu auch die Rezension von Dr. phil. Gerhard Feldbauer im Schattenblick:
REZENSION/629: W. Baer, K.-H. Dellwo (Hg.) - Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien (Geschichte) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar629.html

[2] Siehe dazu:
Gerhard Feldbauer: Die Resistenza. Italien im Zweiten Weltkrieg, PapyRossa Verlag, Köln 2014, ISBN 978-3-89438-559-0

17. August 2016


Willi Baer und Karl-Heinz Dellwo (Hg.):
Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien.
Die sechziger Jahre: Die Entstehung des neuen Antifaschismus.
Bibliothek des Widerstands. Bd. 31
Laika Verlag, Hamburg 2014
in Kooperation mit junge Welt
224 Seiten
Euro 29,90
ISBN 978-3-944233-17-8


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