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REZENSION/649: Rudolf Spielmann - The Art of Sacrifice in Chess (SB)


Rudolf Spielmann


The Art of Sacrifice in Chess

Revised and Expanded by German Grandmaster Karsten Müller



Macht es heutzutage überhaupt Sinn, Klassiker der Schachtheorie neu aufzulegen und damit Gedanken vor Jahrzehnten, als die Schachstrategie noch in den Kinderschuhen steckte, erneut eine Plattform zu geben? Der moderne Zeitgeist ist es gewohnt, sich als Speerspitze einer evolutionären Schachentwicklung zu begreifen und verpackt von daher seinen Fundamentaleinwand in der nur dem Scheine nach selbstevidenten Frage: Haben die alten Werke nicht längst ihr Verfallsdatum überschritten und sind angesichts ihrer hoffnungslosen Überalterung bar jedes Lerneffekts und bestenfalls noch als museale Fragmente von Interesse?

Offenbar sieht das Russell Enterprises Inc. anders und hat nunmehr in englischer Sprache den Klassiker "Richtig Opfern" von Rudolf Spielmann im Rahmen seiner 21st Century Edition herausgegeben. Dabei ging es dem US-amerikanischen Verlag keineswegs nur um die Übersetzung des Originals. Die Neukonzeption folgte der Idee, die Analysen zu den 37 von Spielmann selbst ausgetragenen und kommentierten Partien auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen und durch einen Anhang neuer Kapitel zum Thema des Opferangriffs wie durch eine Reihe sachbezogener Partiebeispiele zu erweitern.

Es ist nie leicht, einem klassischen Werk einen neuen Anstrich zu geben. Rasch liefert man sich dem Vorwurf aus, durch Eklektizismus und unfertige Reflektion die Arbeit eines wegweisenden Denkers verpfuscht zu haben. Davon kann im vorliegenden Fall jedoch keine Rede sein. Der Hamburger Großmeister Karsten Müller hat bei der Überarbeitung dieses epochalen Meisterwerks viel Fingerspitzengefühl bewiesen und mit Umsicht und Respekt die Gedanken Spielmanns in Würdigung seiner Leistung für die Schachtheorie in eine zeitgemäße Form gebracht. Wo es nottat, fügte er in den Originaltext farblich abgehobene Korrekturen ein, so daß der Leser dem Faden von Spielmanns Intention, Voraussetzungen, Ziel und Durchführung des Opfers im Schachspiel in eine allgemein verständliche Sprache zu fassen, ohne nennenswerte Irritationen folgen kann.

Vom Standpunkt eines erweiterten Reprints ist der Leistung Müllers weder etwas hinzuzufügen noch Redundanz zu reklamieren. Vielmehr hat er auf seiner Rundreise durch die Typologie spezieller Opferarten und die Erklärung der konkreten Merkmale, wie und wann ein Angriff zu erfolgen hat, die Lücken im Originalwerk gestopft und dabei die Balance zwischen An- und Überforderung gehalten. In einem weiteren Schritt ist den einzelnen Musterbeispielen eine Fülle von Aufgaben angefügt, die es dem Leser erlauben, sein erworbenes Wissen sogleich in die Praxis umzusetzen. So gesehen eine gelungene Gesamtleistung.

Jedoch steht das moderne Verlagswesen in der Fachsparte Schach vor einem nicht unerheblichen Problem. Strenggenommen finden sich kaum namhafte Meister oder Theoretiker, die heutzutage noch avantgardistisch tätig sind und mit Ausnahme der entufernden Branche der Eröffnungsliteratur wirklich bahnbrechende Arbeiten abliefern, die ins Wesen des Schachspiels greifen, Konzeptionen in Frage stellen oder wenigstens den Versuch wagen, das Schach aus wissenschaftlicher Sicht und Evidenz in seine einzelnen Denkprozesse und strategischen Inhalte aufzufächern.

Emanuel Lasker, Siegbert Tarrasch, José Raúl Capablanca, Aaron Nimzowitsch, in Abstrichen auch Alexander Aljechin und andere russische Vordenker der Schachstrategie haben zu ihren Lebzeiten nichts geringeres als ein Lehrgebäude aufzurichten versucht. Stellenweise fühlten sie sich auch dazu berufen, über den Bogen philosophisch-psychologischer Betrachtungen den gesellschaftlichen Kontext des Schachspiels mitzudenken. Doch es gab auch Strömungen mit weiter gefaßten Zielen. So zeichnete sich die kurzlebige und in ihren Imperativen nie wirklich ausgereifte Hypermoderne Schachschule im wesentlichen dadurch aus, daß sie die klassische Zentrumslehre, das Kernstück aller modernen Schachstrategie, von Grund auf revolutionierte und dabei in Bezirke vorstieß, in die bis dahin niemals der Schatten eines Gedankens gefallen war.

Rudolf Spielmann, der nach eigenem Bekunden aus einem subjektiven Blickwinkel heraus "eine systematische Abhandlung über das Wesen des Opfers und seine verschiedenen Arten" verfassen wollte, dies jedoch ausdrücklich als einen ersten Versuch verstand, den Schachfreunden aller Leistungsstärken - Berufsschachspielern wie Amateuren - nützliche Anregungen zu geben, bietet eigentlich genug Stoff zum Tiefergraben der Frage nach der Bedeutung des Opferstils in der Schach- und Turniergeschichte. "Die Möglichkeit, gelegentlich Material in Kraft und Kraft in Material umzusetzen, bildet eine der wunderbarsten Eigenschaften, ja vielleicht das eigentliche Geheimnis des Schachspiels", so Spielmann in der Einleitung zum Kapitel über die wirklichen Opfer, ebenjene, "die sich durch das Wagnis auszeichnen, weil bei ihnen der greifbare Erfolg nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angenommen, aber nicht verlässlich berechet werden kann".

Einst von Savielly Tartakower als "letzter Ritter des Königsgambits" tituliert, war Spielmann der festen Überzeugung, daß die Schönheit des Schachs im Kombinationsspiel ihren immanenten Ausdruck findet. Doch über das Apostrophieren des Ästhetischen hinaus hat Spielmann mit der Gegenüberstellung von Schein- und wirklichen Opfern, also zwischen kalkulierbarem Risiko und ultimativer Offensive, im Grunde zu vermitteln versucht, daß das dynamische Element im Abtausch eigener gegen gegnerische Steine die Grundvoraussetzung dafür darstellt, Stellungsvorteile zu erlangen. Allein damit wäre nicht viel gesagt, wenn man an der nackten Oberfläche des Themas bliebe und den Weg in die Tiefe der damit verbundenen Implikationen miede. Ausgehend von Wilhelm Steinitz hatte sich in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts eine Schule des Positionsspiels herausgebildet, der Spielmann nach dem Strengmaß ihrer Apologeten nicht wirklich zugehörte. Nicht die Kunst der Verteidigung und des sukzessiven Anhäufens kleinster Vorteile interessierte ihn, als vielmehr das Moment des Angriffs in einer Partie, die sich asymmetrisch entwickelt und im stetigen Zustreben auf die direkte Konfrontation in einem Opferzug entlädt.

Spielmann zufolge markiert das Opfer eine besondere Form des Abtausches, wird darin doch der Tauschwert von Material gegen Material auf der Basis vergleichender Kalkulationen durch das Inspirierende des Abenteuers aufgehoben. Den Wiener Meister hat es nicht sonderlich bekümmert, gelegentlich auch Niederlagen einzustecken, wenn ein Opfer sich in letzter Konsequenz als verfehlt erwies, weil er den Wert der Erfahrung an den Grenzen des eigenen Denkens höher eingeschätzt hat als den Tabellenstand in einem Turnier. Ungeachtet dessen, daß Spielmann in jüngeren Jahren wiederholt und nachhaltig Gambiteröffnungen aus der romantischen Schachära angewendet hat, spielte er doch nie ein blindwütiges Angriffsschach, vom ersten Zug aufs Matt gehend, sondern verschränkte seine Leidenschaft fürs Kombinieren mit der Reife und dem Entwicklungsstand des Positionsspiels jener Zeitepoche, in der er wirkte. Dennoch hat er sich nie die Spielauffassung zu eigen gemacht, daß die Ausschaltung von Risiken die beste Garantie für den Erfolg darstelle. Daß Spielmann im Materialopfer ein wichtiges Kampfmittel sah, hatte einen schlichten Grund. Wer opfert, bringt sich in Schwierigkeiten, nicht nur, weil er - die drohende Niederlage vor Augen - alle Brücken der Remishoffnung hinter sich abschlagen muß, sondern zutiefest davon überzeugt ist, daß erst der Streit der Kräfte auf dem Brett zwischen spieltaktischer Herausforderung und kreativer Findigkeit Meisterschaft formt. Den Fehdehandschuh nicht zu ergreifen, kam für ihn nicht in Frage. Von Spielmann stammt der Satz: "Der gute Schachspieler muss gut rechnen können, aber er sollte damit keinen Unfug treiben."

Doch wer war dieser frühe Repräsentant des modernen dynamischen Spiels, der seine Gegner mit mutigen, intuitiven Opfern, auch wenn sie im Lichte einer nachträglichen Analyse nicht immer korrekt waren, vor praktische Probleme stellte? Sein Weg auf Erden war zumal im letzten Lebensabschnitt von Tragik gekennzeichnet. Als Sohn jüdischer Eltern wurde er 1883 in Wien geboren. Nach dem Schulabschluß entschied er sich anstelle eines Mathematikstudiums für eine Karriere als Berufsschachspieler, weil er sich darin, wie er meinte, besser verwirklichen konnte. Internationales Aufsehen erregte er erstmals 1909 in St. Petersburg als Dritter hinter Emanuel Lasker und Akiba Rubinstein, aber sein Stern erstrahlte vollends in der zweiten Hälfte der 20er Jahre, wo er unter die zehn besten Schachspieler der Welt gerechnet wurde.

Vom Wesen her war Spielmann ganz im Widerstreit zu seinen kampfbetonten Partien eher gutmütig, bescheiden und von depressiver Grundstimmung, einer, der gerne im Wiener Dialekt raunzte, gutes Bier um nichts in der Welt verachtete und Frauen gegenüber so verlegen war, daß er niemals heiratete. Als der Schatten der nationalsozialistischen Vernichtungsideologie 1938 über Österreich fiel, lebte er bereits seit einigen Jahren in Holland. Zurückkehren in sein Heimatland konnte er nicht mehr. Trotz seines inzwischen ungültig gewordenen Reisepasses gelang ihm die Flucht in die Tschechoslowakei, von wo aus er dank der Unterstützung des Präsidenten des Schwedischen Schachverbandes Ludvig Collijn Anfang 1939 und knapp vor dem Einmarsch der Nazis nach Stockholm ausreisen konnte. Einige seiner Geschwister fielen allerdings der NS-Mordmaschinerie zum Opfer. Bald nach seiner Ankunft in Schweden verstarb sein Freund und Mäzen Collijn. Damit begann das letzte und düsterste Kapitel in Spielmanns Leben.

In bitterer Armut lebend und angesichts der Befürchtung, daß die Wehrmacht auch Schweden okkupieren würde, benötigte Spielmann dringend Geld für eine Weiterreise nach England. Bis heute sind die nachfolgenden Ereignisse nicht restlos aufgeklärt. Doch allem Anschein nach soll Spielmann ein Auftragswerk für die Veröffentlichung seiner Biographie angenommen haben. Unermüdlich schrieb er an den "Memoiren eines Schachmeisters". Nach der Aushändigung des Manuskripts an die bis dato unbekannten Auftraggeber wurde er immer wieder mit Vertröstungen abgespeist, bis er schließlich nichts mehr von ihnen hörte. Als seine letzte Hoffnung auf Rettung versiegte, zog sich Spielmann, an Herz und Seele gebrochen, in sein Zimmer zurück und verhungerte buchstäblich. Seine letzte Ruhestatt fand er 1942 auf dem Friedhof der Mosaischen Gemeinde in Stockholm. Seine schwedischen Gastgeber widmeten ihm die Grabinschrift: "Als ruheloser Flüchtling, vom Schicksal schwer geschlagen, fand er ein Zuhause bei seinen schwedischen Freunden".

Wie so vieles andere in den Kriegswirren jener Tage bleibt auch das Manuskript bis heute verschollen. Tragischer noch, daß die nahen und fernen Umstände seines Todes wie auch die Gründe, warum man ihn in der dunkelsten Stunde seiner Not sich selbst überließ, in ein kompromittierendes Schweigen gehüllt sind. Angesichts millionenfacher Einzelschicksale scheint es geringfügig zu sein, ein Augenblick ist's, das Leben für immer zu verlieren, und doch hat jeder Tod seine eigene Vorgeschichte. Dies Zeugnis unentdeckt zu lassen, gleicht einem Verrat am Andenken dieses Meisters.

Spielmanns Beitrag zur Schachtheorie hält sich alles in allem in knappen Grenzen. Als Berufsschachspieler zog es ihn von einem Wettkampf zum anderen. 120 Turniere, 50 Zweikämpfe und mehr als 1800 Partien weist seine Statistik auf, wobei die Begegnungen in den Simultanveranstaltungen, die er primär in Österreich, Deutschland, Holland und Schweden gab, als auch die freien Partien quer durch Europa nicht in den Corpus seiner Hinterlassenschaft miteingeflossen sind. Viel Zeit, seine schachliterarische Ader auszuformen, hatte er daher nicht. Dennoch verdient sein Bemühen, der sich im Zuge modernistischer Spielauffassungen mehr und mehr verflüchtigenden Opferkunst eine Denkschrift gewidmet und die Anhänger des Kombinationsspiels um sich versammelt zu haben, höchste Anerkennung. Die Zeit der Ritter ist ebenso vorbei wie jene goldene Ära des Königsgambits. Die Uhr wird sich nicht zurückdrehen lassen, aber darum geht es auch gar nicht. Spielmanns Versuch einer Systematisierung des Opferspiels hat über die bloße Nomenklatur hinaus dafür gesorgt, daß die dem Flug der Geschichte mühsam abgetrotzten Errungenschaften aus der Blütezeit des Gambitspiels nicht in Vergessenheit gerieten und so ein Erbe und eine Erinnerung hinterließen, auf die spätere Meisterspieler wie Michail Tal und Alexei Shirov auf ihrem Kometenflug zurückgreifen konnten.

So bleibt als wunder Punkt an dieser ansonsten von keinem Tadel angelasteten Neuauflage das Versäumnis, Spielmanns Grundgedanken nicht aufgegriffen und in Relevanz bzw. Kontrast zur schachtheoretischen Moderne gestellt zu haben. Insbesondere der Grenzfall der ultimativen Offensive, des Spiels fernab der Logik buchhalterischer Bilanzen, mit der Spielmann die Materie in Kraft und Bewegung setzte und so der dynamischen Entwicklung den Vorzug einräumte vor den harmonistischen Konzepten seiner Zeit, verdiente eine Neubewertung. Unzweifelhaft hätte es dem Verlag gut zu Gesicht gestanden, anstatt marktorientiert zu operieren, das Buch zum Anlaß und Katalysator für eine innerschachliche Kontroverse zu nehmen und damit jenen Funken zur forschenden Unruhe zu erwecken, von dem Spielmann wie kaum ein anderer getrieben war.

2. November 2015


Rudolf Spielmann
The Art of Sacrifice in Chess
Revised and Expanded by German Grandmaster Karsten Müller
Russell Enterprises Inc., Milford 2015
272 Seiten, 24,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-936490-78-3


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