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REZENSION/634: Harald Lesch, Joseph M. Gaßner - Urknall, Weltall und das Leben (SB)


Harald Lesch, Joseph Gaßner


Urknall, Weltall und das Leben

Vom Nichts bis heute Morgen



A: "Es funktioniert. Ein ganzes Buch in Form eines Dialogs zwischen zwei Wissenschaftlern, die sich über Gott und die Welt unterhalten, kommt echt gut rüber."

B: "In dem Punkt gebe ich dir recht. Ich habe das Buch 'Urknall, Weltall und das Leben' durchaus mit Vergnügen gelesen und mußte an manchen Stellen schmunzeln, obwohl oder eben weil die beiden da ..."

A: "Ich kenne den Lesch ja schon seit langem vom Fernsehen und fand ihn immer sympathisch, wenn er zur Kreide gegriffen und den Zuschauern an einer Schultafel erklärt hat, warum der Raum krumm ist, es keine Ufos im Orbit gibt und die Erde als Teil des Sonnensystems in einem Seitenarm der Spiralgalaxis namens Milchstraße mit irrsinniger Geschwindigkeit durchs Weltall saust. Oder warum man bei einem Erstkontakt einem außerirdischen Antimaterie-Wesen auf keinen Fall die Hand geben sollte - oder habe ich das jetzt von woanders her?"

B: "Und warum mit 'dunkler Materie' nicht Mordors Schatten gemeint ist - nein, das war jetzt ein Scherz. Worauf ich aber hinauswollte ..."

A: "Findest du nicht, daß er und Gaßner ein gutes Gespann abgeben? 'Wissenschaft im Dialog' steht auf dem Bucheinband. Hätte auch 'Wissenschaftler im Dialog' lauten können. Die beiden spielen sich gegenseitig die Bälle zu, wobei sie jeweils die Steilvorlage des anderen ins Netz jagen. Und das auf Champions-League-Niveau. Es geht um die ganz großen Fragen. Nur mal eine kleine Auswahl an Kapitelüberschriften: 'Vom Nichts zur Quantenfluktuation', 'Leben und Sterben der Sterne', 'Wie konstant sind Naturkonstanten wirklich?', 'Die Entstehung des Lebens'. Oder hier meine beiden Lieblingsüberschriften: 'Die primordiale Nukleosynthese' und 'Strings, Quantenschleifen und Supersymmetrie'. Und was die Erklärungen angeht, hat mich dieser Absatz über 'Quantenfluktuationen' besonders beeindruckt:

Gaßner: Wir legen uns also wieder auf die Lauer und verfolgen abermals geduldig das Treiben der Quantenfluktuationen. Eine Ewigkeit vergeht, ohne dass der Begriff 'Zeit' eine Berechtigung hätte. Endlich ist es soweit: Der Tag ohne gestern beginnt! Ein Universum, bestehend aus Inflatonfeld und GUT-Kraft, entsteht. Nach 10-35 Sekunden beginnt ein Phasenübergang. Die zugehörige Symmetrie-Brechung bedingt eine zeitliche Verzögerung um ca. 10-32 Sekunden, in der sich das quantenmechanische Nichts - vergleichbar mit dem unterkühlten Wasser - in einem falschen Zustand befindet, dem sogenannten 'falschen Vakuum'. Solange der Phasenübergang nicht vollständig vollzogen ist, schwankt die Nullpunkt-Energie dieses falschen Vakuums um einen falschen höheren Wert.
Lesch: Und was das bedeutet, wissen wir ja bereits: Die antigravitative Expansion des quantenmechanischen Vakuums verstärkt sich immer weiter. Dieses exponentielle Wachstum bläht tatsächlich das Universum innerhalb der unvorstellbar kurzen Zeit von 10-32 Sekunden um den noch weniger vorstellbaren Faktor 1050 auf.

Was für ein Wahnsinn, wenn jemand über all solche Sachen Bescheid weiß!"

B: "Du scheinst ja richtig begeistert von dem Buch zu sein."

A: "Ja, das bin ich. Auch wenn ich nur die Hälfte verstanden habe - und das ist jetzt maßlos übertrieben -, aber man bekommt doch schon Ehrfurcht vor dem Weltall und dem, was der Mensch alles darüber weiß."

B: "Das dürfte wohl die Absicht gewesen sein."

A: "Wie meinst du das?"

B: "Wenn du mich am Anfang nicht unterbrochen hättest, hätte ich dir erklärt, was mir an dem Buch aufgefallen ist."

A: "Ich bin ganz Ohr."

B: "Es hat was von einem Katechismus. Nur daß hier nicht die Grundlagen einer Religion, sondern die des naturwissenschaftlichen Glaubens verbreitet werden."

A: "Kannst das näher erklären?"

B: "Ja, auch in deinem Zitat von vorhin wurde das bereits recht anschaulich, aber ich möchte von Seite 42 zitieren. Wie du weißt, tauschen sich in dem Kapitel Lesch und Gaßner über die Theorie des Urknalls aus, die von ihnen allerdings weniger als wissenschaftliche Theorie, denn als Wahrheit präsentiert wird:

Gaßner: Lieber Harald, das ist jetzt ein sehr wichtiger Gedanke für das weitere Verständnis. Es muss eine Art Quelle für das Nichts geben, aus dem zwischen dem Etwas fortwährend frisches Nichts entspringt. Ähnlich wie ein frischer Hefeteig aufgeht, breitet sich der Raum zwischen den Galaxien aus. Die Galaxien sind dabei vergleichbar mit Rosinen, die im aufquellenden Teig mitschwimmen. Der Raum treibt sie unaufhörlich voneinander weg.
Lesch: Eine Quelle, aus der frisches Nichts entspringt. Hätten Sie vielleicht noch ein bißchen Nichts? Ich hätte es gerne in Scheiben. Unsere Vorstellungskraft wird dabei vor große Probleme gestellt."

A: "Zugegeben, das sind komplexe Zusammenhänge, aber ich verstehe nicht, was daran weltanschaulich oder gar eine Glaubensfrage sein soll."

B: "Weil hier Vermutungen als Wahrheiten gehandelt werden und die beiden Wissenschaftler als Vermittler der von ihnen bzw. ihresgleichen erfundenen 'komplexen Zusammenhänge', wie du es genannt hast, auftreten. Nichts anderes machen zum Beispiel Priester, wenn sie zunächst ein göttliches Prinzip postulieren und sich dann als vermittelnde Instanz ins Spiel bringen. Ich will damit nicht behaupten, daß Forschungsdisziplinen wie Astrophysik, Kosmologie und Kernphysik eine Religion sind, aber sie rufen sehr wohl die Glaubensbereitschaft auf, sie fordern sie geradezu ein.

Und wenn darüber hinaus, wie du sagtest, laut Gaßner 'eine Ewigkeit vergeht, ohne dass der Begriff 'Zeit' eine Berechtigung hätte', dann entspricht das vielleicht der in der Physik üblichen Verwendung von 'Ewigkeit' als etwas Zeitlosem, aber erstens war damit ursprünglich ein sehr langer Zeitraum gemeint und zweitens bedingen Zeit und Ewigkeit einander, das heißt, ohne die Vorstellung einer Zeit gäbe es auch nicht die Vorstellung von der Ewigkeit. Daß die beiden Begriffe im übrigen von gleicher Herkunft sind, läßt sich an lateinisch 'aevum' (Ewigkeit, Zeit) und griechisch 'aion' (Lebenszeit bzw. sehr lange Zeit, Ewigkeit) ablesen. Nebenbei gesagt: Beide sind Ausdruck des gleichen Vorgangs, nämlich des Teilens.

Nun zurück zu obigem Zitat. Ist das nicht offensichtlich? Im ersten Schritt werden ontologische Behauptungen in die Welt gesetzt wie 'das Nichts ist', 'Galaxien sind' oder 'Raum treibt', deren tiefere Bedeutung selbstverständlich nur derjenige angemessen auszuloten vermag, der die entsprechende Initiation hinter sich hat - zum Beispiel in Form eines abgeschlossenen Hochschulstudiums -, und im zweiten Schritt wird dem gemeinen Volk erklärt, wie die Welt beschaffen ist, damit es ehrfürchtig erstaunt oder gar Demut angesichts der 'unermeßlichen Schöpfung' empfindet, die es hinter Analogien wie 'aufgehender Hefeteig mit Rosinen' mutmaßen soll."

A: "Übertreibst du da nicht ein bißchen? Selbst wenn an dem, was du sagst, was dran wäre, kann man doch nicht ein Zitat nehmen und daran ein ganzes Buch bemessen."

B: "Du möchtest weitere Beispiele dafür, daß hier Glaubensinhalte verbreitet werden? Das Buch ist von vorne bis hinten ein einziger Glaubensinhalt. Einzelne Beispiele aufzuführen wäre so, also wollte man mit ein, zwei Versen die gesamte Bibel beschreiben. Aber bitte sehr, ich kann dir noch weitere prägnante Stellen nennen, die zum einen den Alleinvertretungsanspruch der Wissenschaft auf Wahrheit, zum anderen das Kokettieren mit dem Ehrfurchtgebietenden der Kosmologie zeigen. Nur daß du mir hinterher deswegen nicht wieder vorhältst, ich sei spitzfindig. Lesch, Seite 37:

Die Wissenschaft selbst wird ja immer umfangreicher. Praktisch an jedem Tag, an dem immer mehr Menschen Wissenschaft betreiben, kommen auch immer mehr Informationen zusammen.

Für deren Bewältigung ein Vermittler unverzichtbar ist ...

In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass es jede Menge - wie soll man sagen - engagierte 'Privatmenschen' gibt, die also nicht in Forschungsinstitutionen arbeiten. Die meinen, sie könnten mit einem ganz neuen Ansatz ganz andere Vorstellungen über das Universum entwickeln. Ich erlebe immer wieder, dass so ein 'epochaler Weltentwurf' an eine Universitätssternwarte geschickt wird, in 10-Punkt-Schrift ohne Absatz, Punkt und Komma.

Das klingt so wie: Es gibt nur eine Wahrheit und die habe ich gepachtet. Eine Seite weiter schildert Lesch den Film 'Verlockende Falle', in der die Hauptdarstellerin Catherine Zeta-Jones Tausende von Lichtschranken überwinden muß, und erklärt dazu:

Das gilt auch für die Astrophysik. Früher gab es praktisch nur eine Lichtschranke. Heute gibt es so viele Lichtschranken, dass man sich unglaublich verbiegen muss, um Theorien zu entwickeln, die alle möglichen Bedingungen gleichzeitig erfüllen. Ganz schwierig.

Ganz schwierig, aber selbstverständlich nicht unlösbar für die Experten in Weltanschauungsfragen. Aber weiter im Text, diesmal Gaßner und Lesch im Dialog auf Seite 40:

Gaßner: Das Universum expandiert. Ein scheinbar harmloser Satz! Der sagt sich so leichtfüßig dahin. Tatsächlich trägt er aber enormen Sprengstoff in sich, denn ein expandierendes Universum muss offensichtlich in der Vergangenheit kleiner und somit heißer gewesen sein. Konsequent zu Ende gedacht, beginnt die Geschichte des Kosmos dann wohl mit einer Singularität, einem Zustand unbeschreiblicher Dichte und Temperatur: dem Urknall!
Lesch: Lass unsere Leserinnen und Leser diesen Gedanken weiterdenken, Josef. Wir warten auf sie ...

Nach dem Motto, die Leser sind nun mal etwas langsamer als wir."

A: "Gut, ich sehe ein, daß der Duktus, in dem das Buch geschrieben ist, die Leserinnen und Leser in Staunen und Ehrfurcht versetzen soll. Aber wenn du behauptest, hier werde mit Wahrheiten gehandelt, so möchte ich an Seite 384 erinnern, auf der Chuang Tsu zitiert wird:

Niemand ist weiter von der Wahrheit entfernt als derjenige, der auf alle Fragen eine Antwort weiß."

B: "Das Postulat der Wahrheit als vertrauenswürdige Antwort präferiert jedoch gerade jene Scheinargumentationen mit ihren sämtlichen Lücken und Brüchen, zu denen bis heute noch jeder Wahrheitsstreit verkommen ist."

A: "Dir hat das Buch also nicht gefallen?"

B: "Wie ich eingangs schon sagte, die Dialogform funktioniert. In anderen Sachbüchern wird ebenfalls ein ständiger Dialog mit der Leserschaft geführt, nur daß dieser nicht rhetorisch in Gesprächsform gehalten ist, aber auch das funktioniert mitunter sehr gut. Die zahlreichen Fotos in 'Urknall, Weltall und das Leben', vor allem die durch diverse Filter gejagten, farblich aufgehübschten Aufnahmen von kosmischen Nebeln verleihen dem Buch eine bunte Note. Will sagen: Die Fotos kann man schon mit einiger Andacht betrachten.

Bei der Lektüre des Buchs wird deutlich, daß wir es hier mit einem Interpretationskonstrukt zu tun haben, von dem zwar behauptet wird, daß die Welt danach aufgebaut sei und von der die Ereignisse in uns und um uns herum bestimmt würden, aber genau das ist ja das Problem. In existentiell drängenden Fragen hat das naturwissenschaftliche Weltbild die Menschheit noch nicht sehr weit gebracht - wenn man davon absieht, daß man heute zwischen Hunderten Fernsehprogrammen wählen kann oder die Google-Suchmaschine 0,23 Sekunden braucht, um 'ungefähr 307.000 Ergebnisse' auszuwerfen, wenn man 'Harald Lesch' ins Suchfeld eingibt."

A: "Aber die beiden sagen doch nichts Unwahres und sprechen nur darüber, wie die Welt in Wirklichkeit beschaffen ist."

B: "Genau, und da 'Wahrheit' von seiner Wortbedeutung her auf 'für wahr halten', 'zu etwas geneigt sein' oder auch 'bevorzugt' zurückgeht, verweist das auf einen bestimmten Standpunkt und nicht, wie man irrtümlich meinen könnte, auf eine absolute Gültigkeit. Im Handel von Kosmologien sind die beiden Dialogpartner die Lückenfüller, die die Leitung des Flusses des Konventionalverkehrs dicht halten - sozusagen der Wissenschaftshanf."

A: "Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann würdest du dem Buch keine Empfehlung aussprechen?"

B: "Moment, das habe ich nicht gesagt. Ohne das Buch hätten wir doch diesen Dialog gar nicht geführt."

A: "Das ist wahr."

B: "Sage ich ja: ein Standpunkt."

23. Oktober 2014


Harald Lesch, Joseph Gaßner
Urknall, Weltall und das Leben
Vom Nichts bis heute Morgen
Verlag Komplett-Media
Zweite überarbeitete und erweiterte Auflage, München 2014
408 Seiten, 29,95 EUR
ISBN: 978-3-8312-0409-0


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